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AFRIKA/1855: Nigeria - Bomben auf Boko-Haram-Gemeinschaft (SB)


"Nigerianische Taliban" greifen zu den Waffen

Schwere Gefechte im Norden Nigerias


In Nordnigeria werden seit Sonntag blutige Kämpfe zwischen Regierungssoldaten und Anhängern der muslimischen Glaubensgemeinschaft Boko Haram ausgefochten. Mehr als 300 Menschen verloren ihr Leben. Die tatsächliche Zahl der Toten dürfte jedoch wesentlich höher ausfallen, da die Angaben auf Abschätzungen beruhen und die Regierung Gebäude bombardiert hat, unter deren Trümmern noch weitere Leichen liegen könnten. Eine Moschee wurde mit Bulldozern eingeebnet. Vor dem Hauptquartier der Boko Haram (was "gegen westliche Erziehung" meint) in Maidiguru im Bundesstaat Bauchi stapeln sich die Leichen, meldeten die Medien.

Zur Beantwortung der Frage, wie es zu dem Gewaltausbruch kam, muß größer ausgeholt werden als es in manchen deutschen Medien wie beispielsweise Spiegel online [1] getan wird. Dort heißt es einerseits unter Berufung auf "Reporter", daß die Boko Haram Polizeistationen angegriffen hätten, weil sie im Norden des Landes einen "Gottesstaat" errichten wollten, andererseits wird die Behauptung des nigerianischen Präsidenten Präsident Umaru Yar'Adua wiedergegeben, wonach die Sicherheitskräfte angegriffen und die Lage unter Kontrolle gebracht hätten.

Ein Ausgangspunkt der jüngsten Phase der seit Jahren immer wieder ausbrechenden gewaltsamen Konflikte in Nordnigeria bildete sicherlich eine Demonstration der Glaubensgemeinschaft im Juni und die gewaltsame Auflösung der Veranstaltung durch Sicherheitskräfte. Rund 20 Demonstranten mußten mit Schußverletzungen im Krankenhaus behandelt werden, berichtete das "Hamburger Abendblatt" unter Berufung auf Dr. Peter Körner vom Institut für Afrika-Studien in Hamburg. [2] Später wurden mehrere Anführer der Boko Haram verhaftet. Am 26. Juli griffen Mitglieder der angeblich 1000 bewaffnete Kämpfer zählenden Organisation Polizeistationen an, und die Regierung ließ die Lage weiter eskalieren, indem sie das Hauptquartier der Glaubensgemeinschaft und andere vermeintliche Stütz- bzw. Rückzugspunkte bombardierte. Zwischen 4.000 und 10.000 Einwohner befinden sich auf der Flucht. Mohammed Yusuf, Anführer der Boko Haram, und eine Reihe weiterer Kämpfer sind flüchtig. Angeblich hat die Polizei 180 von den Boko Haram entführte Frauen und Kinder "befreit", [3] unklar bleibt allerdings, ob es sich tatsächlich um eine Befreiung gehandelt hat oder ob die offiziellen Stellen durch diese Sprachwahl versuchen, die Glaubensgemeinschaft zu dämonisieren.

Die Unruhen brachen Anfang dieser Woche neben Bauchi in drei (Yobe, Kano und Borno) von zwölf nördlichen Bundesstaaten auf, in denen das islamische Recht der Scharia angewendet wird. Allerdings wird die konkrete Rechtsprechung von den Boko Haram als zu weich angesehen, die Gruppierung strebt eine strengere Auslegung der Scharia an und möchte Medienberichten zufolge erreichen, daß sie in allen 36 Bundesstaaten Nigerias gültig wird. Jeweils etwa 40 Prozent der 150 Mio. Einwohner sind muslimischen oder christlichen Glaubens. Die Boko Haram stehen anscheinend ideologisch den Taliban in Afghanistan nahe, unterhalten aber keine Verbindungen dorthin.

Der Generalsekretär des nigerianischen Muslim-Dachverbandes Jama'atul Nasril Islam kritisierte das harte Vorgehen der Regierung [2], bezeichnete es als eine "Peinlichkeit für die Muslime" und kündigte die Einberufung einer Dringlichkeitssitzung der muslimischen Würdenträger Nigerias an.

Auch wenn es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen im südnigerianischen Nigerdelta, dem Hauptfördergebiet des Erdöls, und den aktuellen Kämpfen im Norden des Landes gibt, weisen die Konflikte einige Parallelen auf. Beide Regionen werden von der Zentralregierung in Abuja vernachlässigt, sie zählen zu den ärmsten des Landes. In beiden Regionen fordern die Aufständischen eine deutliche Reduzierung des westlichen Einflusses. Im Nigerdelta kämpft die Organisation MEND (Movement for the Emancipation of the Niger-Delta - Bewegung zur Befreiung des Nigerdeltas) für den Abzug der ausländischen Ölkonzerne und eine erheblich größere Beteiligung der örtlichen Bevölkerung an den Einnahmen aus dem Erdölexport; in Nordnigeria lehnt die Boko Haram das westliche Schulsystem und seine Lehrninhalte ab. Aus diesen Gründen muß betont werden, daß die Auseinandersetzungen ursächlich weniger aufgrund religiöser, sondern sozialer Unterschiede ausgelöst wurden. Präsident Yar'Adua wie auch viele seiner Kabinettsmitglieder sind muslimischen Glaubens. In Nordnigeria kämpfen also Muslime gegen Muslime.

Die Mitglieder der Boko Haram unterscheiden sich prinzipiell nicht von anderen Nigerianern, doch tragen viele Bärte und kurze Hosen. [4] Da die nigerianischen Sicherheitskräfte unterschiedslos auf Männer mit Bärten zu schießen scheinen und diese bei den laufenden Razzien einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, mißhandelt oder umgebracht zu werden, haben die Bartträger allgemein angefangen, sich zu rasieren.

Die Frage, ob man die Glaubenspraktiken der Boko Haram und die Anwendung der Scharia für akzeptabel erachtet oder nicht, sollte der Frage nachgeordnet werden, auf welcher Basis einer religiösen Gruppierung die Ausübung ihrer Glaubenspraxis verweigert wird. Wenn die Boko Haram vor die Alternative gestellt werden, ihren Glauben aufzugeben oder zu kämpfen, sollte es jedenfalls nicht verwundern, wenn sie sich für ersteres entscheiden. Im Armutsland Nigeria, das zugleich eines der wirtschaftlich stärksten Länder unter den Subsaharastaaten ist, gibt es zahlreiche Gründe, sich nicht dem von der Regierung vorgesehenen Schicksal zu fügen. Die Boko Haram vertreten sicherlich einen Standpunkt, der aus westeuropäisch geprägter Sicht unattraktiv und abzulehnen ist. Aber der Standpunkt existiert nun mal. Es hat den Anschein, als wolle die Regierung die religiöse Gemeinschaft vernichten.


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Anmerkungen:

[1] "ARMEEOFFENSIVE. Hunderte Opfer bei Kämpfen mit Islamisten in Nigeria", Spiegel Online, 30. Juli 2009
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,639154,00.html

[2] "Unruhen. Islamisten in Nigeria kämpfen gegen die Zentralregierung", Hamburger Abendblatt, 30. Juli 2009
http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1116816/Islamisten-in-Nigeria-kaempfen-gegen-die-Zentralregierung.html

[3] "Nigeria: Another 43 Islamic Fanatics Killed in Yobe", Vanguard (Lagos), 30. Juli 2009
http://allafrica.com/stories/200907300006.html

[4] "Nigeria: More Soldiers Killed in Battle With Fanatics", This Day (Lagos), 30. Juli 2009
http://allafrica.com/stories/200907300001.html

30. Juli 2009