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AFRIKA/1910: NORM - Strahlenpartikel aus Nigerias Erdölförderung (SB)


Radioaktivität - die weithin vernachlässigte Umweltkontaminationen bei der Förderung von Erdöl und Erdgas


Mittlerweile ist es weithin bekannt, daß das Abfackeln von Gas bei der Erdölförderung im Nigerdelta mit einer umfangreichen Umweltverschmutzung einhergeht. Auch die vielen stillgelegten Ölfördereinrichtungen, die Bohranlagen, Pumpwerke und Pipelines, stellen eine potentielle Umweltgefahr dar, da sie in der feuchten Luft rasch durchrosten und so Erdölreste ins Grund- und Oberflächenwasser gelangen. Darüber hinaus kommt es in dem Gewirr von Pipelines, die das Land oberirdisch durchschneiden, zu Leckagen, so daß sich das Öl in die Umwelt ergießt. Diese Effekte zusammengenommen tragen zu einer nachweisbar höheren Krankheitsrate unter den Einwohnern des Nigerdeltas bei.

Unbekannt und faktisch unerforscht sind die gesundheitlichen Schäden der Bevölkerung aufgrund der radioaktiven Belastung durch die Öl- und Gasförderung. Radioaktive Elemente wie Radium 226 and Polonium 210, beides Zerfallsprodukte von Uran 238, werden bei der Förderung aus dem Gesteinsmaterial im Untergrund ausgewaschen und an die Oberfläche gebracht. Insbesondere aus älteren Quellen, in denen das Erdöl mit Hilfe zunehmender Mengen an Wasser heraufgepumpt wird, gelangen verhältnismäßig große Mengen an Radionukleotiden an die Oberfläche und fällen dort aus, sobald das Wasser abkühlt.

Am Dienstag machte der Radiosender NDRinfo auf die radioaktive Belastung durch die Erdöl- und Erdgasförderung in Deutschland aufmerksam. [1] Der Effekt, daß sich Radiopartikel in den Abwässern, Erdölschlämmen und Rohrleitungen der Bohrgeräte sammeln, ist schon länger bekannt, doch wurde dies von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Das lag nicht zuletzt an den, nach Lesart der Wirtschaft und Aufsichtsbehörden, relativ geringen Belastungswerten. Autor Jürgen Döschner machte jedoch darauf aufmerksam, daß die spezifische Aktivität der Abfälle und Abwässer aus der Öl- und Gasindustrie um das mehrere Hundertfache über dem natürlichen Wert liegen kann. In der weiteren Verarbeitungskette der nicht als radioaktiv gekennzeichneten Abfallstoffe, aus denen das Umweltgift Quecksilber herausgezogen wird, kann es dann zu einer 200fachen Strahlenbelastung kommen.

In Deutschland werden nur rund drei Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr gefördert, in Nigeria hingegen wird in einem einzigen Monat mehr gefördert. Und das ist noch die Menge vom Juli 2009, da als Folge der Unruhen im Ölfördergebiet der Output um ein Drittel bis auf 1,75 Million Barrel täglich reduziert wurde. [2] Gegenwärtig fahren die Ölgesellschaften ihre Produktion wieder hoch, nachdem ein Großteil der Milizen das Amnestieangebot von Nigerias Präsident Umaru Yar'Adua angenommen hat.

1956 hat das Unternehmen Shell erstmals Erdöl in Nigeria entdeckt und schon bald mit der Förderung begonnen. Seitdem nahm der Reichtum des Landes, genauer gesagt, einer kleinen Oberschicht Nigerias zu. Wohingegen die Einwohner des Nigerdeltas, das sich mehr und mehr zu einer Erdölkloake entwickelte, verarmt blieben. Jedes kleine Entgegenkommen seitens der Bundesregierung in Abuja mußte von ihnen erkämpft werden, wobei die mehrere tausend spezifische Erdölverseuchungen - allein im Ogoniland 350 Flächen [3] - sowie die gesundheitsgefährliche Umweltbelastung durch keine Geldsumme kompensiert werden können. Atemwegs- und Hauterkrankungen sowie Krebs treten unter den Bewohnern des Nigerdeltas gehäuft auf.

Welche der Krankheitsfälle gehen auf die radioaktive Belastung zurück? Diese Frage vermag niemand zu beantworten. Wenn es in einem Industriestaat wie Deutschland, das relativ hohe Umweltstandards hat, schon eklatantes Unwissen hinsichtlich der Strahlungsintensität der sogenannten NORM-Abfälle (NORM = Naturally occurring radioactive material; natürlich auftretendes radioaktives Material), geschweige denn ihrer biologischen Wirkung herrscht, um wieviel weniger ist von Nigeria zu erwarten, daß es über entsprechende Daten zur Strahlenbelastung verfügt. Nicht, daß das Thema in dem westafrikanischen Staat ganz und gar links liegen gelassen würde. Verschiedentlich wurden Meßreihen durchgeführt, aber nur sporadisch; an einer gründlichen, systematischen Erfassung der Belastung mangelt es dort genauso wie hierzulande.

Nigerias Nukleare Aufsichtsbehörde NNRA (Nigerian Nuclear Regulatory Authority) berichtete vor einigen Jahren über eine Untersuchung der NORM-Belastung. Die Ergebnisse wurden von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien aus Anlaß der Konferenz NORM IV in Polen veröffentlicht. [4] Die nigerianischen Forscher berichteten über Radioaktivitätsmessungen an zehn Offshore-Ölplattformen und zwei Terminals an Land sowie an Ölschlämmen und alten Pipelines und Rohrleitungen. Dabei wurden an den Fördereinrichtungen zwischen 0,1 und 15 Microsievert pro Stunde und in den Schlämmen eine spezifische Aktivität von bis zu 200 Becquerel pro Gramm registriert. Diese Niveaus scheinen niedrig zu sein, schrieb der Autor, aber er mahnte, daß für die Industrie ein Routine-Überwachungsprogramm ausgearbeitet werden müsse, denn das gebe es bis heute nicht.

Demgegenüber macht der kanadische Ölindustrieverband CAPP (Canadian Association of Petroleum Producers) darauf aufmerksam, daß Material, das mit mehr als 70 Becquerel pro Gramm belastet ist, der TDG-Bestimmung (Transportation of Dangerous Goods - Gefahrgütertransport) unterworfen ist. Und NORM mit einer spezifischen Aktivität über 0,3 Becquerel/Gramm sollte als gefährlicher radioaktiver Abfall eingestuft werden. In den Fällen sollte ein Fachmann eine genauere Risikoevaluation vornehmen. [5]

Die effektive Jahresdosis für Arbeiter auf den Öleinrichtungen sei unbedeutend und liege in den meisten Fällen unter drei Microsievert pro Jahr, schrieb NNRA. Verglichen mit künstlichen radioaktiven Quellen seien die in NORM nachgewiesenen Aktivitäten nicht groß, nicht einmal durch die Anreicherung in der Öl- und Gasförderung sowie -verarbeitung, aber eine "potentielle Gefahr" läge in der "riesigen Menge", die erzeugt werde. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangten nigerianische Physiker im Jahre 2008 nach NORM-Messungen von Bodenproben von der Warri Refining and Petrochemical Company sowie aus den umgebenden Gemeinden des nigerianischen Bundesstaats Warri. [6] Dabei stellten die Forscher im Vergleich zu früheren Untersuchungen fest, daß sich die gemessene Strahlendosis kaum geändert hat und daß von keiner nennenswerten Gesundheitsgefahr ausgegangen werden kann.

Zu berücksichtigen ist allerdings, daß sich das radioaktive Material im Laufe der Zeit ansammelt - Radium hat eine Halbwertszeit von 1600 Jahren und zerfällt zum radioaktiven Gas Radon, das Lungenkrebs auslösen kann - und daß die Belastung starken Schwankungen unterworfen ist. Die Konzentration ist von vielen Faktoren abhängig. Zunächst von der inhomogenen natürlichen Verteilung der Radionukleotide im Gestein, dann von der Fördermenge und dem Förderzeitraum. Schließlich auch von der Fließgeschwindigkeit in den Rohrsystemen, der Oberflächenbeschaffenheit der Materialien, den eingebauten Filtern, etc. Bei der offenen Lagerung von Ölschlämmen in Gruben spielt auch die Verdunstungsrate eine Rolle, bei Einleitungen in Gewässer die Verdünnung.

Wie stark die radioaktive Belastung der Arbeiter der Erdölindustrie wie auch der den Abfallstoffen ausgesetzten Einwohner des Nigerdeltas als Folge der Öl- und Gasförderung ist, weiß niemand. Da die Grenzwerte der Strahlenbelastung im Laufe der Jahrzehnte immer mehr abgesenkt wurden und in der Fachwelt nach wie vor eine Debatte über die Frage ausgetragen wird, ob es überhaupt einen unteren Grenzwert gibt oder ob nicht jede Strahlenbelastung als gefährlich eingestuft werden sollte, wäre es sicherlich vernünftig davon auszugehen, daß jede radioaktive Kontamination potentiell gefährlich ist.

Das Argument, daß es sich bei NORM um eine natürliche Radioaktivität handelt - was bedeuten soll, daß sie harmlos ist -, kann aus zwei Gründen nicht greifen. Erstens wurden die Strahlenpartikel keineswegs natürlich an die Erdoberfläche gespült, sie sind somit künstlichen Ursprungs. Zweitens ist eine natürliche Strahlenbelastung nicht per se ungefährlich. Es gibt Regionen, in denen Radon dem Boden entweicht und in die Kellerräume der Häuser eindringt. Das ist ein natürlicher Vorgang - aber sicher kein harmloser. Ebenso wenig sollte unberücksichtigt bleiben, daß sich die vermeintlich ungefährlichen NORM-Schadstoffe im Organismus, beispielsweise in den Knochen, ansammeln und dort lange Zeit verbleiben können. Schon ein einziges inkorporiertes NORM-Partikel, das im Alpha-Bereich zerfällt, kann Krebs auslösen.

Für einen Statistiker mag die Gefahr radioaktiver Schäden durch die Öl- und Gasförderung zu vernaschlässigen sein - eine aus der Statistik herausgefallene krebserkrankte Person hingegen und deren Angehörige dürften darüber anderer Meinung sein.


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Anmerkungen:

[1] "Verschwiegen, vertuscht und verheimlicht - Radioaktive Abfälle aus der Öl- und Gasindustrie", Jürgen Döschner, NDR Info, Das Forum, 12. Januar 2010

[2] "Erdöl: Ghana boomt, Nigeria tritt an Ort", André Frick, Equity Research, 7. Dezember 2009
http://emagazine.credit- suisse.com/app/article/index.cfm?fuseaction=OpenArticle&aoid=273462&lang=DE

[3] Siehe: AFRIKA/1897: Nigeria - Rund 350 ölverseuchte Flächen im Ogoniland (SB)

[4] "Naturally Occuring Radioaktive Material (NORM) Assessment of Oil and Gas Production Installations in Nigeria", S.B. Elegba, I.I. Funtua
in:
"Naturally occurring radioactive materials (NORM IV) - Proceedings of an international conference held in Szczyrk, Poland, 17-21 May 2004", IAEA-TECDOC-1472, Oktober 2005
ISBN 92-0-110305-0, ISSN 1011-4289

[5] "CAPP Guide - Naturally Occurring Radioactive Material (NORM)", Juni 2006
http://www.normcan.com/downloads/NORM_fact_sheet_2000_v2.0.pdf

[6] "Soil radionuclide concentrations and radiological assessment in and around a refining and petrochemical company in Warri, Niger Delta, Nigeria", N. N. Jibiri et al, 20. August 2008, J. Radiol. Prot. 28 361-368
doi: 10.1088/0952-4746/28/3/006

13. Januar 2010