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AFRIKA/2072: In Kenias Städten wächst Armut und Hunger (SB)


Beispiel Kenia

Nahrungsmangel wird verwaltet, nicht behoben



In dem Begriff "Landflucht" werden treffend die Verarmung der Landbevölkerung und der Versuch, dieser Not zu entkommen, auf einen Nenner gebracht. Bislang herrschte die Einschätzung vor, daß die ländliche Bevölkerung stärker von Armut und Hunger betroffen ist als die städtische. Es dominiert tatsächlich der Trend, daß Menschen in die Städte ziehen, weil sie sich dort bessere Überlebenschancen erhoffen oder gar einen Verdienst, mit dem sie ihre Familien auf dem Land unterstützen können.

Von dieser Vorstellung muß man sich wohl verabschieden, denn in den Slums, die in den Metropolen entstanden sind und immer mehr Menschen beherbergen, herrscht ebenfalls Armut und Hunger vor. Das war schon immer so, doch inzwischen scheint sich dort die Nahrungsversorgung weiter zu verschlechtern. So berichtete am Montag IRIN, das Integrierte Regionale Informationsnetzwerk der Vereinten Nationen, daß zwar in weiten Teilen der ländlichen Regionen von Kenias Norden Ernährungsunsicherheit herrsche, aber daß das rasche Wachstum der städtischen Bevölkerung das Problem des Nahrungsmangels weiter verstärke [1].

Mehr als ein Viertel der Kinder, die in Städten leben, sei in seiner Entwicklung zurückgeblieben, was eine typische Folge von Unterernährung sei, wurde kürzlich in einer gemeinsamen Untersuchung der kenianischen Regierung mit dem Hunger-Frühwarnsystem FEWSNET (Famine Early Warning Systems Network), dem Welternährungsprogramm WFP (World Food Programme) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO (Food and Agriculture Organization) festgestellt. Dreizehn Prozent der Haushalte in dichtbesiedelten urbanen Gebieten besäßen einen nicht hinnehmbaren niedrigen Stand der Ernährung.

Kenia folgt hier dem globalen Trend. Nach der Preisexplosion für Nahrungsmittel in den Jahren 2007 und 2008 wurden weltweit rund 100 Millionen Menschen zusätzlich dem Hunger ausgesetzt. Sie, die oftmals die Hälfte ihres Einkommens oder noch mehr für Nahrung ausgeben, konnten sich die hohen Preise für Essen nicht mehr leisten und mußten entweder an manchen Tagen darauf verzichten oder zumindest die Zahl der täglichen Mahlzeiten von drei auf eine verringern. Unruhen brachen in mehreren Dutzend Ländern aus, auch in Afrika. Es war aber nicht die bereits verarmte, hungernde Landbevölkerung, die sich erhob, sondern die - noch - einigermaßen gut ernährten Städter, die den Mangel zu spüren bekamen und sich gegen ihre Regierungen erhoben. Die hungernde Landbevölkerung dagegen ist entweder bereits zu geschwächt, um zu demonstrieren, oder aber zu wenig organisiert, da sie gewöhnlich über größere Gebiete verteilt lebt.

Doch letztlich weiß niemand, in wie vielen Dörfern Afrikas sich Menschen gegen die Beamten oder Sicherheitskräfte der Regierung erheben. Von den meisten Vorfällen dieser Art wird man hierzulande nichts erfahren. Erst wenn in einer Stadt eine größere Menschenmasse zusammenströmt, demonstriert und die Staatsgewalt womöglich mit Wasserwerfern, Tränengas oder scharfer Munition antwortet, wächst die Wahrscheinlichkeit, daß internationale Medien über das Ereignis berichten.

Die Untersuchung zum Nahrungsmangel der Stadtbevölkerung Kenias stellt offenbar eine Antwort der Regierung auf das Unruhepotential dar. Denn daß bei den Hungeraufständen und Protesten Regierungen zum Wanken oder sogar zum Sturz gebracht wurden, hatte bei den etablierten Kräften eine gewisse Unruhe ausgelöst. Zumindest anfangs. Unter dem Eindruck der Hungerunruhen warnte die Weltbank vor zukünftigen, destabilisierenden Entwicklungen, räumte scheinbar lernwillig ein, den ländlichen Raum vernachlässigt zu haben, und gab an, den Fehler nun korrigieren zu wollen. Die Weltbank ist wiederum Teil eines globalen Institutionengeflechts, das mittels laufender Beobachtungen und statistischer Erhebungen versucht, das ordnungsgefährdende Potential hungernde Menschen, die aufbegehren, abzuschätzen, um darauf wiederum sich anbahnende Konflikte durch Gegenmaßnahmen in seichtere Gewässer zu lenken.

Heute leben rund 35 Prozent der Kenianer in Städten, 70 Prozent von ihnen in Slums. Die kenianische Stadtbevölkerung nimmt jährlich um vier Prozent zu. Der Kibera-Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi hat schätzungsweise 1,5 Millionen Bewohner und gilt damit als der größte ganz Afrikas. Nach Angaben der Weltbank wird im Jahr 2020 die Hälfte der armen Bevölkerung Kenias in Städten leben.

Besonders armutsgefährdet sind laut IRIN die von Frauen geleiteten Haushalte, Kinder und Witwen. Diese Gruppen seien besonders betroffen, weil sie über wenig oder gar kein Einkommen verfügten, berichtete der kenianische Landwirtschaftsminister Wilson Songa. Im Mai dieses Jahres habe das Ministerium für Sonderprogramme in acht Bezirken Nairobis, in denen 65 Prozent der Einwohner vom Hunger bedroht sind, 4800 Säcke Reis und Soja sowie 400 Kanister Speiseöl verteilt. Laut der Untersuchung der kenianischen Regierung wurden damit zwölf Prozent der bedürftigen Haushalte erreicht.

Also fast jeder zehnte Hungernde - das dürfte noch eine extrem beschönigende Rechnung sein! Denn wenn allein im Kibera-Slum 1,5 Millionen Menschen leben, kann man davon ausgehen, daß sie alle mehr oder weniger bedürftig sind. Auch mit der zehnfachen Menge an Reis, Soja und Speiseöl, wie sie im Mai verteilt wurden, wäre der Mangel nicht annähernd behoben worden. Indem aber die Regierung die Zahl der Bezirke, die Nahrungsmittelhilfe erhalten, auf wenige beschränkt und sagt, daß dort die bedürftigsten Menschen leben, verschleiert sie die eklatante Not in vielen anderen Bezirken. Darüber hinaus muß man sich fragen, wie lange eine Familie von einem Sack Reis und einem Kanister Speiseöl leben kann. Vielleicht einen Monat. Wovon haben die Empfänger der Nahrungsmittelhilfe in den Monaten Juni und Juli gelebt; was erhalten sie im August, September, Oktober?

Abgesehen von dem unbezweifelbaren Nutzen der Nahrungsverteilung für die Empfänger handelt es sich bei dieser staatlich organisierten Hilfe im wesentlichen um eine Befriedungsmaßnahme. Die Regierung kann behaupten, daß sie den Hunger der Menschen nicht ignoriert und auf ihr - wenngleich völlig unzureichendes - Hilfsprogramm verweisen.

Nach Angaben des kenianischen Landwirtschaftsministeriums bauen 29 Prozent der Stadtbewohner zumindest etwas Nahrung selber an. Auffälligerweise scheinen Regierung, Hilfsorganisationen und Weltbank über genaue Zahlen zur Armut, zum Hunger und zu der Möglichkeit zur Selbstversorgung der Menschen zu verfügen. Das bedeutet, daß die Probleme der verarmten, hungernden Bevölkerung sehr genau bekannt sind. Und es bedeutet weiterhin, daß Armut und Hunger erfaßt und verwaltet, aber nicht beseitigt werden.

Die von Angestellten gepflegten Rasenflächen und Gärten der Wohlhabenden, die unglaubliche Weitläufigkeit mancher Anwesen oder gar der im In- und Ausland angehäufte Reichtum der politischen Entscheidungsträger und Unternehmer wird von den Globalinstitutionen keineswegs zur Disposition gestellt. Im Gegenteil, der Wohlstand wird gegenüber den Hungerleidern außerhalb der Mauern, Zäune und sonstigen architektonischen Verteidigungslinien der Reichen durch ausgefeilte Überwachungstechnologien und selbstverständlich auch Bewaffnete abgesichert.

Das ist nicht der Hauptgrund, aber sicherlich einer der Gründe, warum sich die Armen untereinander bestehlen und nicht massenhaft in die Viertel der Reichen eindringen, um sich zu holen, wessen sie bedürfen. So berichtete ebenfalls am Montag AlertNet [2], daß der Diebstahl von Wasser und Teilen der Wasserversorgung in Kenia laut der Polizeistatistik den höchsten jemals registrierten Stand erreicht habe. Die Polizei verzeichnet im Slum Kibera im Tagesdurchschnitt 75 Diebstahlsmeldungen im Zusammenhang mit der Wasserversorgung. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich darüber liegen, weil nicht jeder Slumbewohner jeden Vorfall meldet.

Daß die Verteidigung der Eigentumsordnung nicht perfekt ist, wird am Beispiel des Kawangware-Slums von Nairobi deutlich. Dort kommt es nur halb so oft zu Diebstählen wie in Kibera, was offenbar damit zu tun hat, daß der Slum an den wohlhabenden Vorort Lavington grenzt, deren Bewohner sich bereits bei der Polizei über die Diebstähle beschwert haben und fordern, daß dem ein Ende bereitet wird [2].

Abgesehen davon, daß es vermutlich nicht einfach wäre, die Diebstähle auf null einzudämmen, erfüllen auch sie gewissermaßen eine gesellschaftliche Ventilfunktion, die durchaus vergleichbar mit der der sporadischen Nahrungsmittelhilfe ist. Solange den Reichen hier und da ein paar Krümel gestohlen werden, greifen die Marginalisierten oder Unterdrückten nicht nach dem ganzen Kuchen.

In der Ernährungsunsicherheit eines Millionenheers von Menschen in den kenianischen Städten drückt sich der globale Trend eines zunehmenden Nahrungsmangels aus. Der dürfte sich in den nächsten Jahren aufgrund des Klimawandels, der Nutzung landwirtschaftlicher Flächen für andere Zwecke als denen der Nahrungsproduktion (u. a. Treibstoffgewinnung und Produktion von Biomaterialien als Ersatz für erdölbasierte Kunststoffe) und des weltweiten Rückgangs der Bodenqualität steigern. Mit Maßnahmen zur Erfassung der Not darf fest gerechnet werden ...


Fußnoten:

[1] "Kenya: Urban Poor Face Rising Food Insecurity", UN Integrated Regional Information Networks, 6. August 2012
http://allafrica.com/stories/201208070228.html

[2] "Kenya: Water Shortages Driving Growing Thefts, Conflicts", AlertNet, 6. August 2012
http://allafrica.com/stories/201208070333.html

7. August 2012