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AFRIKA/2123: Globaler Hunger größer als behauptet (SB)


Erneute Kritik an Berechnungsmethoden der Vereinten Nationen zur Zahl der Hungernden


Der Hunger in der Welt wird weithin unterschätzt. Die von den Vereinten Nationen verbreiteten Zahlen verharmlosen das Ausmaß des Mangels; die Zahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, ist viel zu niedrig angesetzt, behauptete die Autorin Frances Moore Lappé diese Woche bei einem Vortrag an der Tufts University in Massachusetts. [1]

Wenn die FAO (Food and Agriculture Organization) mitteilt, daß die Zahl der Hungernden weltweit in den letzten 25 Jahren um 216 Millionen abgenommen habe, obgleich die Weltbevölkerung um mehr als 1,5 Milliarden gewachsen sei, dann werden hierdurch statistische Probleme bei der Berechnung des Hungers und andere Mängel des Ernährungssystems kaschiert, so Lappé.

Damit greift sie eine seit Jahren aus Reihen der Hilfs- und Entwicklungsorganisationen dies- und jenseits des Atlantiks gegen die FAO und andere UN-Institutionen vorgebrachte Kritik auf. Beispielsweise macht die Welthungerhilfe auf den sogenannten versteckten oder verborgenen Hunger aufmerksam, von dem zwei Milliarden Menschen betroffen sind. Denn: "Jeder Mensch braucht Mikronährstoffe, also Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, um sich gesund zu entwickeln. Fehlen Vitamin-A, Jod, Eisen oder andere wichtige Nährstoffe, leidet die körperliche und geistige Gesundheit", schreibt die Hilfsorganisation. [2]

Auch Lappé hebt die Bedeutung der Nährstoffe hervor. Die Vereinten Nationen stütze ihre Berechnungen zu sehr auf Kalorien, die von den Menschen mit der Nahrung aufgenommen werden, anstatt zu fragen, ob dabei auch genügend Nährstoffe mitgeliefert werden. Die Einnahme von Kalorien und Nährstoffen gehe zunehmend getrennte Wege, die Menschen könnten genügend Kalorien zur Verfügung haben und dennoch unter Nährstoffmangel leiden. Die Vereinten Nationen rechneten erst dann einen Menschen zu den Hungernden, wenn dieser mindestens ein Jahr lang weniger als 1800 Kalorien pro Tag zu sich nimmt. So könne jemand drei Monate lang extremen Hunger leiden und würde dennoch nicht zu den Hungernden gerechnet.

Was die Autorin hier beschreibt, ist der Landbevölkerung in vielen Regionen Afrikas eine vertraute, wenngleich stets leidvolle Erfahrung: Es gibt eine von Jahr zu Jahr auftretende Versorgungslücke, sobald die Menschen ihre Ernte vom Vorjahr aufgebraucht haben, aber die nächste Ernte noch nicht reif ist. Das Phänomen ist so verbreitet, daß es die "magere Jahreszeit" genannt wird. Sollte in dieser Phase zusätzlich auch noch die neue Ernte aufgrund von Dürre, Überschwemmung oder Befall mit Schädlingen vernichtet werden, bricht rasch eine regelrechte Hungersnot aus.

Seit den 1970er Jahren hat die Nahrungsmittelproduktion weltweit pro Kopf um 40 Prozent zugenommen, obschon gleichzeitig die Zahl der Menschen von 3,7 Milliarden auf 7,2 Milliarden gestiegen ist. Demnach ist die globale Landwirtschaft sehr viel produktiver geworden. Doch ein beträchtlicher Teil dieses Zuwachses - die Hälfte des Getreides, das das Hauptnahrungsmittel des Menschen ist - wurde entweder zur Herstellung von Viehfutter, Treibstoff oder für andere industrielle Zwecke verarbeitet, moniert die Gründerin des Food First-Instituts (auch Institute for Food and Development Policy genannt) und Trägerin des Alternativen Nobelpreises (1987). Darüber hinaus beanspruche die Viehwirtschaft fast drei Viertel der landwirtschaftlichen Fläche weltweit.

Scharfe Kritik an den beschönigenden Berechnungen der UN zur Hungerlage übt auch Thomas Pogge, Professor für Philosophie und Internationale Angelegenheiten an der Universität Yale. Wer 1800 Kalorien pro Tag zu sich nimmt, aber körperliche Arbeit verrichten muß, kommt damit nicht aus und hungert, sagte er Anfang des Jahres in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". [3]

Beim FAO-Ernährungsgipfel 1996 in Rom sei beschlossen worden, die Anzahl der chronisch Unterernährten (damals 788 Millionen) zu halbieren, also auf 394 Millionen. Vier Jahre darauf, bei der sogenannten Millenniumserklärung, hatte man die Berechnungsgrundlage bereits modifiziert, indem nunmehr der Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung halbiert werden sollte. Die wächst jedoch und damit durfte auch die absolute Zahl der Hungernden wachsen!

Ein weiterer Kniff bestand darin, das Millenniums-Entwicklungsziel (Halbierung der Zahl der Hungernden) nicht, wie es ursprünglich gemeint war, auf das Beschlußjahr 2000 zu beziehen, sondern auf 1990 zurückzuverlegen. Das hatte den rechnerischen Effekt, daß das Millenniumsziel inzwischen scheinbar in greifbare Nähe gerückt ist. Durch solche Rechentricks dürfen nun weltweit 724 Millionen Menschen hungern, also beinahe doppelt so viele wie 1996 beim FAO-Gipfel in Rom vereinbart, und dennoch würde das Millenniumsziel als erfüllt gelten.

Wenn dieser Tage beim EU-Afrikagipfel oder in wenigen Wochen beim Klimagipfel COP 21 in Paris sich die Staats- und Regierungschefs ob der angeblich schon geleisteten Fortschritte in Sache Armuts- und Hungerbekämpfung auf die Schultern klopfen (bei aller Sorge vor den vielen Flüchtlingen, die gefälligst in den humanitären Notstandsregionen bleiben sollen ...), so stützen sie sich, was die Welternährung betrifft, auf äußerst beschönigende Zahlen.


Fußnoten:

[1] http://www.trust.org/item/20151110171021-wk355/?source=fiOtherNews3

[2] http://www.welthungerhilfe.de/verborgener-hunger.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/philosoph-ueber-globale-gerechtigkeit-wie-die-vereinten-nationen-den-hunger-kleinrechnen-1.2315642

11. November 2015


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