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ASIEN/653: McChrystals Kandahar-Offensive ist bereits gescheitert (SB)


McChrystals Kandahar-Offensive ist bereits gescheitert

Ein NATO-Zivilbeamter kündigt "drei bis vier Jahre harter Kämpfe" an


In Kandahar, der ehemaligen Hochburg der Taliban und Hauptstadt der gleichnamigen afghanischen Provinz, ist, wenn auch nicht offiziell, die Großoffensive der NATO offenbar bereits angelaufen. In einem Bericht der New York Times vom 26. April, der den Titel "Elite U.S. Units Step Up Efforts Before Attack" trug und von Thom Shanker, Helene Cooper und Richard A. Oppel jun. verfaßt wurde, hieß es unter Verweis auf ranghohe Militärs und Vertreter der Regierung Barack Obamas: "Um die Taliban im Vorfeld der Großoperation zu schwächen, operieren kleine Gruppen von US-Spezialstreitkräften bereits seit mehreren Wochen in Kandahar, der größten Stadt Südafghanistans, intensiv, nehmen führende Aufständische fest oder töten sie." Die Bedeutung, die Obama und sein Afghanistan-Oberbefehlshaber General Stanley McChrystal der anrollenden Großoffensive um Kandahar beimessen, geht aus dem zweiten Satz besagten NYT-Artikels hervor:

Die drohende Schlacht um die geistige Heimat der Taliban entwickelt sich allmählich zum entscheidenden Test von Präsident Obamas Afghanistan-Strategie einschließlich der Fragen, in welchem Ausmaß die Vereinigten Staaten auf die Führung und das Militär des Landes zählen können, und ob ein möglicher Anstieg der Zahl der zivilen Opfer infolge der schweren Kämpfe eine Strategie unterminieren wird, die darauf hinausläuft, die afghanische Bevölkerung für sich zu gewinnen.

Nimmt man jene Ausführung des Strategieziels für bare Münze, dann kann man die Kandahar-Offensive McChrystals und mit ihr Obamas Eskalationsstrategie einschließlich der Aufstockung der in Afghanistan stationierten US-Soldaten auf 100.000 und der der NATO-Verbündeten auf fast 50.000 bereits jetzt als gescheitert betrachten. Trotz der erklärten Absicht des NATO-Oberbefehlhabers steigt die Zahl der zivilen Opfer des Afghanistankrieges dramatisch an. Dies zeigen die jüngsten Statistiken des Roten Kreuzes und des US-Militärs. Für das zunehmende Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung sind nicht nur die Bombenanschläge der Aufständischen, sondern auch die nächtlichen Ausflüge von McChrystals Schattenkrieger zur Taliban-Jagd verantwortlich. Einem Bericht der Zeitung Christian Science Monitor vom 29. April zufolge haben die Koalitionsstreitkräfte nach eigenen Angaben in den ersten drei Monaten dieses Jahres 87 Zivilisten irrtümlicherweise getötet. Im selben Zeitraum 2009 waren es nur 29.

Die Reihe der Vorfälle, bei denen ausländische Soldaten Zivilisten umbringen, nimmt kein Ende und treibt die Menschen in die Arme der Taliban. Am 12. April wurden nahe Kandahar fünf Menschen getötet und weitere 18 verletzt, als US-Soldaten aus einem Militärkonvoi heraus das Feuer auf einen Bus eröffneten. Daraufhin kam es mitten in der Provinzhauptstadt zu einer Demonstration gegen die NATO-Präsenz im Lande. Am 25. April setzte in der Provinz Logar eine Menschenmenge zwölf Transportfahrzeuge mit Nachschub für die NATO-Streitkräfte in Brand. Grund war die Verärgerung über die nächtlichen Razzien der ausländischen Soldaten zusammen mit ihren Kameraden von der Afghanischen Nationalarmee (ANA). Zu einer ähnlichen Straßenblockade kam es am 28. April, als in der ostafghanischen Provinz Nangrahar Freunde und Verwandte eines Manns, der in der zurückliegenden Nacht bei einer Razzia von amerikanischen Soldaten erschossen worden war, die Landstraße mit brennenden Reifen blockierten. Bei dem Mann soll es sich um den Schwager eines örtlichen, der Regierung von Präsident Hamid Karsai treuen Politikers gehandelt haben.

Die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten setzen zur Offensive in Kandahar trotz der Tatsache an, daß sich laut Umfragen die große Mehrheit der rund eine Million Bewohner der Stadt statt Kämpfen Verhandlungen mit den Taliban wünscht. Die Aussichten auf einen erfolgreichen Verlauf der ambitionierten NATO-Operation sind gering bis gar nicht vorhanden. Der sogenannte Probelauf in der Opiumhandelsstadt Mardscha in der Nachbarprovinz Helmand gilt, ungeachtet des großen Tohuwabohus, das die PR-Experten der NATO um diese Episode im Februar machten, bereits als gescheitert. Zwar hat man endlich nach mehreren Wochen heftiger Kämpfe in der Mitte der Stadt einen Stützpunkt errichten können, doch nachts befindet sich die ganze Umgebung weiterhin in Taliban-Hand.

Vor diesem Hintergrund sollte man auch nicht allzuviel auf die These geben, der Kriegskurs der Obama-Regierung hänge vom Ausgang der Kandahar-Offensive ab. Schließlich hat Mark Sedwill, der ehemalige britische Botschafter in Kabul, der heute dort als ranghöchster Zivilist der NATO arbeitet, am 29. April am Rande einer Konferenz im Londoner Royal United Services Institute (RUSI) erklärt, den westlichen Streitkräften am Hindukusch stünden noch "drei bis vier Jahre harter Kämpfe" und weitere "zehn bis 15 Jahre" bevor, in denen man die afghanische Polizei und Armee ausbilde und ihnen unterstützend zur Seite stehe; ohne explizit auf die Frage der zivilen Opfer einzugehen, erklärte Sedwill, man könne nicht niedrige Verluste "zum Maßstab des Erfolges" erheben. Dies berichtete am 30. April die Tageszeitung Guardian.

30. April 2010