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ASIEN/753: Pakistan wegen US-Luftangriff auf Grenzposten in Rage (SB)


Pakistan wegen US-Luftangriff auf Grenzposten in Rage

24 pakistanische Soldaten von amerikanischen "Verbündeten" getötet


Die NATO-Luftangriffe, die in der Nacht vom 25. auf den 26. November an der Grenze zu Afghanistan 24 pakistanischen Soldaten das Leben kosteten und 13 weitere schwer verletzten, haben die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Islamabad und Washington in ihre bislang tiefste Krise gestürzt. Nach einem Treffen des Sicherheitskabinetts unter der Leitung von Premierminister Yousuf Raza Gilani nicht einmal 24 Stunden nach dem Vorfall hat die Regierung Pakistans dem NATO-Hauptquartier in Brüssel eine Protestnote übermittelt, den US-Botschafter in Islamabad, Cameron Munter, zum Rapport ins Außenministerium einbestellt, die beiden Grenzübergänge, über die die Hälfte des Nachschubs für die westlichen Soldaten nach Afghanistan rollt, bis auf weiteres geschlossen und der CIA 15 Tage zur Räumung des Luftwaffenstützpunkts Shamsi gegeben, von wo aus sie Drohnen zu Angriffs- oder Aufklärungsmissionen in die mehrheitlich von Paschtunen bewohnten Bezirke schickte. In dieser Region sollen die Taliban viele Kämpfer rekrutieren und sie als Rückzugsgebiet verwenden.

Während Barack Obamas Außenministerin Hillary Clinton und Verteidigungsminister Leon Panetta in einer gemeinsamen Erklärung ihr Bedauern über den Tod der Soldaten zum Ausdruck brachten und eine lückenlose Aufklärung des Vorfalls ankündigten, scheinen die Umstände für die pakistanische Seite eindeutig zu sein. In einer ersten Stellungnahme des pakistanischen Militärs hieß es, die beiden Grenzposten, die vor kurzem nahe dem Dorf Salala im Bezirk Mohmand mehrere hundert Meter von der Grenze entfernt eingerichtet worden waren, um den Taliban das Eindringen nach Afghanistan zu erschweren, seien von US-Kampfflugzeugen unter "unprovoziertes und wahlloses Feuer" genommen worden. Premierminister Gilani sprach von einem "Angriff auf Pakistans Souveränität". Generalstabschef Ashfaq Pervez Kayani, der am 27. November demonstrativ an der landesweit ausgestrahlten Trauerfeier für seine gefallenen Untergebenen teilnahm, versprach "eine angemessene Antwort" auf die "verantwortungslose Tat".

Während die Untersuchung des Vorfalls bei der NATO noch auf Hochtouren lief und man sich daher in Schweigen hüllte, leisteten namentlich nicht genannte Vertreter des afghanischen Militärs dem vor einem PR-Desaster stehenden westlichen Bündnis Rückendeckung. Gegenüber ausgesuchten Journalisten erklärten die beiden afghanischen Offiziere, die Teilnehmer einer gemeinsamen Anti-Terror-Operation afghanischer und amerikanischer Spezialstreitkräfte in der östlichen Provinz Khunar seien in der fraglichen Nacht aus Richtung der beiden pakistanischen Grenzposten unter Beschuß geraten und hätten deshalb Luftunterstützung angefordert.

Diese Version von einem "tragischen und unbeabsichtigten" Vorfall dementierte am 28. November vor der Presse der Sprecher der pakistanischen Streitkräfte, Generalmajor Athar Abbas, aufs energischste. Wie die Nachrichtenagentur Associated Press am selben Tag berichtete, bezeichnete Abbas die getöteten Soldaten, die noch geschlafen hätten, als bei ihnen die ersten Kugeln und Raketen einschlugen, als Opfer einer "grundlosen Aggression". NATO und afghanische Armee sollten die Behauptung, daß das Feuer von pakistanischer Seite aus eröffnet worden sei, beweisen und eventuell Verletzte vorführen, erklärte er. Die These, die Piloten der US-Kampfflugzeuge hätten wegen Unsicherheiten über den Grenzverlauf nicht gewußt, auf welche Ziele sie schossen, tat Abbas als unhaltbar ab. Die beiden Stützpunkte "Volcano" und "Golden" seien der NATO bekannt und auf Karten eingetragen gewesen, die Rawalpindi dem ISAF-Hauptquartier in Kabul nach ihrer Errichtung übermittelt habe. Aus Beton erbaut standen sie auf Bergkuppen - gerade wegen der Gefahr des Gegenschlages starteten die Taliban in der Region keine Angriffe aus leicht identifizierbaren Gebäuden, so Abbas. Der pakistanische Armeesprecher erhob seinerseits einen schweren Vorwurf gegen die US-Armeeführung in Afghanistan. Ihm zufolge hätte der Angriff trotz drängender Anrufe pakistanischer Kommandeure bei ihren Kontaktpersonen bei der ISAF, die Verantwortlichen möchten das Feuer einstellen, fast zwei Stunden gedauert.

Gerade letzteres nährt den Verdacht, daß es sich hier um eine gezielte Aktion gehandelt hat, mit der Pakistan eine Lektion erteilt werden sollte. Es mutet in diesem Zusammenhang seltsam an, daß der blutigste Vorfall entlang der Durand-Linie ausgerechnet eintrat, nachdem am Tag zuvor US-General John Allen, der Oberbefehlshaber der Internationalen Stabilisierungstruppe in Afghanistan (ISAF), das Hauptquartier der pakistanischen Armee in Rawalpindi besucht hatte, um dort mit Kayani über Wege einer verbesserten Zusammenarbeit im Kampf gegen die Taliban beiderseits der Grenze zu beratschlagen.

Die Tötung der 24 Grenzsoldaten stellt jedenfalls den bisherigen Höhepunkt der seit Monaten andauernden Entfremdung Islamabads und Washingtons dar. Im Frühjahr empörte sich die pakistanische Öffentlichkeit über die Affäre Raymond Davis. Am 27. Januar war der CIA-Mitarbeiter in Lahore festgenommen worden, nachdem er zwei junge Pakistaner auf einer Straßenkreuzung erschossen hatte. Zwei Monate später wurde der 36jährige ehemalige US-Elitesoldat gegen ein Blutgeld entlassen und in die USA zurückgeflogen. Angestellte des US-Konsulats, die Davis am Tag der Schießerei vor der Festnahme schützen wollten und in ihrer Eile mit einem Geländewagen einen pakistanischen Radfahrer totfuhren, hatten sich damals ins Ausland abgesetzt und der Justiz entzogen.

Der Überfall der US-Spezialstreitkräfte am 2. Mai auf ein Anwesen in der pakistanischen Stadt Abbottabad, in dessen Verlauf nach offiziellen Angaben Osama Bin Laden getötet wurde - Beweise dafür gibt es nicht, denn die Amerikaner behaupten, die Leiche anschließend im Indischen Ozean versenkt zu haben - hatte die Beziehungen beider Länder auf eine bis dahin niemals dagewesene Probe gestellt. Politiker im Washingtoner Kongreß warfen den Pakistanern vor, mit den USA ein doppeltes Spiel zu treiben, während die pakistanische Generalität behauptete, vom Versteck des Al-Kaida-Chefs niemals gewußt zu haben, und ihrerseits die Amerikaner bezichtigte, mit der unangekündigten und unabgesprochenen Operation die Souveräntität Pakistans massiv verletzt zu haben.

Am 22. September warf der scheidende US-Generalstabschef Admiral Michael Mullen bei einem Auftritt vor dem Verteidigungsausschuß des Senats in Washington dem pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) vor, mittels der Taliban und deren Verbündete vom Hakkani-Netzwerk einen "Stellvertreterkrieg" gegen die NATO in Afghanistan anzuzetteln. Mullen machte in diesem Zusammenhang das Hakkani-Netzwerk für den massiven Lastwagenbombenanschlag auf einen NATO-Stützpunkt in der afghanischen Provinz Wardak am 10. September - 5 tote Zivilisten und 77 verletzte US-Soldaten - sowie den Raketenangriff auf die amerikanische und britische Botschaft in Kabul drei Tage später - 11 tote Zivilisten und 5 tote afghanische Polizisten - verantwortlich, behauptete aber gleichzeitig, ohne die Hilfe der ISI wären die Operationen entweder nicht erfolgt oder lange nicht so erfolgreich gewesen.

Vor wenigen Tagen sorgte Mullen in Pakistan im Rahmen der sogenannten Haqqani-Affäre für Schlagzeilen. Hier ging es um ein umstrittenes Memorandum, das er unmittelbar nach der Operation der U. S. Navy SEALs in Abbottabad vom pakistanischen Botschafter in Washington, Hussein Haqqani, erhalten habe. Darin schlug Haqqani angeblich im Namen des pakistanischen Präsidenten Ali Asif Zardari der Obama-Regierung vor, sie sollten der zivilen Führung in Islamabad helfen, einen kalten Putsch durchzuführen und so die Militärs in Rawalpindi endlich in ihre Schranken zu weisen. Als Gegenleistung versprach Haqqani die Säuberung des ISI von allen islamistischen Kräften und eine für Washington "akzeptable" Transparenz in der Frage der Sicherheit der pakistanischen Atomwaffen.

Nach Publikwerden des Memorandums mußte Haqqani am 22. November als Botschafter Pakistans in Washington zurücktreten. Dort dürfte man die Personalie als Niederlage betrachtet haben, galt doch Haqqani in seinem eigenen Land als den USA freundlich gesonnen. Bereits im Frühjahr war Haqqani vor dem Hintergrund der Raymond-Davis-Affäre vorgeworfen worden, er hätte als Botschafter eine Erleichterung zur Erteilung von Visen angeordnet und damit die Einreise zahlreicher amerikanischer Söldner ermöglicht, die als Auftragsarbeiter der US-Botschaft in Pakistan Spionage nicht nur gegen Al Kaida und Taliban, sondern auch das pakistanische Militär und den ISI betrieben.

Vor diesem Hintergrund könnte der Überfall der US-Luftwaffe auf die beiden pakistanischen Grenzposten nur wenige Tage nach der Entlassung Haqqanis eine gezielte Retourkutsche des Pentagons, des State Departments und des Weißen Hauses gewesen sein. Nicht einmal 24 Stunden nach der Entlassung von Raymond Davis aus seiner zweimonatigen pakistanischen Gefangenschaft, wogegen die Obama-Regierung heftig gewettert hatte, am 17. März hat die CIA mit einem Drohnenangriff 38 Teilnehmer eines Treffens von Dorfältesten in Nordwasiristan getötet. In einem am 22. August veröffentlichten Artikel mit dem Titel "AP Exclusiv: Timing of US drone strike questioned", berichtete die Nachrichtenagentur, der damalige CIA-Chef Panetta habe persönlich den Angriff angeordnet und zitierte dazu einen nicht namentlich genannten Mitarbeiter der US-Regierung wie folgt: "Es war Vergeltung für Davis. Die CIA war zornig".

28. November 2011