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ASIEN/846: Der endlose Krieg in Afghanistan eskaliert erneut (SB)


Der endlose Krieg in Afghanistan eskaliert erneut

Luftangriff bei Kundus sorgt bei Afghanistans Bevölkerung für Empörung


Seit Wochen empören sich westliche Politiker und Medienkommentatoren über den Blutzoll, den die russischen und syrischen Luftangriffe auf die Rebellenhochburg im Osten Aleppos unter der dort eingekesselten Zivilbevölkerung fordern. Dieselben Moralapostel nehmen dagegen wenig Notiz von den zahlreichen Zivilisten, welche die US-Luftwaffe bei der Unterstützung der Großoffensive der irakischen Armee zur Rückeroberung Mossuls tötet. Dort wird der Islamische Staat (IS) für sämtliche Verluste unter den Zivilisten mit dem Hinweis verantwortlich gemacht, die "Terrormiliz" benutze die Bewohner der Stadt als "menschliche Schutzschilde" - ganz, als rechtfertige das den Einsatz geächteter Waffen wie Bomben aus weißem Phosphor und Uranmunition.

Vor diesem Hintergrund überraschen die vergleichsweise verhaltenen Medienreaktionen des Westens auf die Luftangriffe, die jüngst nördlich der Stadt Kundus Dutzenden afghanischer Zivilisten das Leben gekostet haben, nicht. Hier soll es zu dem blutigsten Vorfall im Afghanistankrieg gekommen sein, seit im Oktober vergangen Jahres eine fliegende Festung der US-Luftwaffe vom Typ AC-130 bei Kundus ein Krankenhaus der Organisation Ärzte ohne Grenzen über Stunden zusammenschoß, 42 Mediziner und Patienten umbrachte und weitere 37 verletzte.

Laut offiziellen Angaben war in der Nacht vom 3. auf den 4. November bei dem Versuch, zwei Führungsmitglieder der Taliban in der Ortschaft Bous Kandahari zu liquidieren, eine gemeinsame Kommandotruppe afghanischer und amerikanischer Spezialstreitkräfte in einen Hinterhalt geraten. Zwei US-Militärs wurden getötet und vier weitere verletzt. Drei afghanische Elitesoldaten fielen ebenfalls im Kugelhagel. Daraufhin hat die Leitung der Operation massive Luftangriffe - vermutlich als Vergeltung - auf das Dorf angeordnet, die über Stunden gingen und zahlreiche Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, töteten. In einem Bericht der World Socialist Web Site vom 4. November wurde ein Dorfvorsteher namens Amruddin dahingehend zitiert, daß mindestens 100 Menschen entweder getötet oder schwer verletzt wurden. In einem Artikel vom selben Tag in der New York Times behauptete Mohammed Reza, der seinen Vater, seinen Bruder und vier Neffen bei dem Massaker verlor und beim ersten Luftangriffe gegen 1.30 Uhr ein Kopfverletzung erlitt, daß er und die anderen Dorfbewohner, als sie gegen 5.30 Uhr begannen, unter den Trümmern ihrer Häuser nach Verletzten zu suchen und die Leichen der Toten einzusammeln, erneut von Kampfhubschraubern und -jets angegriffen wurden.

Mit Sicherheit trägt Art, wie die 10.000 US-Militärangehörigen in Afghanistan, ihre NATO-Partner und die von ihnen unterstützte Armee der Regierung in Kabul quasi straffrei Kriegsverbrechen verüben können - bestes Beispiel der Kundus-Vorfall im September 2009, bei dem unter Mitwirkung des Bundeswehrobersts Georg Klein rund 100 Zivilisten starben - dazu bei, daß die Aufständischen ständig an Zulauf gewinnen. Derzeit befindet sich rund ein Drittel Afghanistans unter der Kontrolle der Taliban. Die Gotteskrieger stehen vor den Toren dreier Provinzhaupstädte - Kundus, Lashkar Gah, Hauptstadt der Provinz Helmand, und Farah, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz - und drohen diese einzunehmen. Die Verluste bei der afghanischen Armee und Polizei schießen in die Höhe. Experten befürchten deshalb einen Kollaps der afghanischen Streitkräfte im kommenden Jahr. Um die negative Entwicklung aufzuhalten, hat US-Präsident Barack Obama bereits im Juni eine Ausweitung der US-Luftangriffe angeordnet - vergeblich. Vermutlich wird sich Obamas Nachfolger im Weißen Haus nach der Amtseinführung im Januar zu einer deutlichen Aufstockung der Anzahl der in Afghanistan befindlichen Truppen der USA gezwungen fühlen.

Zu einer ähnlichen Aufstockung hat sich Obama nach dem eigenen Einzug ins Oval Office im Januar 2009 von den Generälen David Petraeus und Stanley McChrystal überreden lassen. Doch nach drei Jahren galt der Aufstandsbekämpfungsplan von Amerikas gefeiertem Militärstrategenduo als vollkommen gescheitert. Von daher darf man sich fragen, was eine Wiederholung jenes Fehlers überhaupt bringen sollte, außer das schreckliche Leiden der afghanischen Bevölkerung zu verlängern und den Schein der unbesiegbaren Supermacht USA zu wahren.

In den letzten Wochen hat es mehrere Hinweise auf Ansätze der Taliban und Washingtons, den Krieg in Afghanistan doch auf dem Verhandlungsweg zu beenden, gegeben. Am 19. Oktober berichtete die britische Zeitung Guardian von geheimen Annäherungsgesprächen, die seit September in Doha stattfinden. Über die New York Times signalisierte am 1. November der Chefunterhändler der Taliban, Sayed Muhammad Tayeb Agha, erstmals die Bereitschaft seiner Organisation, über ihre Kernforderung nach dem Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan, zu diskutieren. Derzeit sieht es aber aus, als würden die kompromißbereiten Kräften in den USA sowie bei den Taliban von den Ereignissen am Boden überholt werden. In Afghanistan wird der IS immer stärker und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sich unter die geschätzt 45.000 Aufständischen immer mehr Ausländer, vor allem aus Pakistan und Usbekistan, mischen. In der Provinz Nangarhar wird der IS allmählich zur stärksten Kraft. Um ihre Macht zu demonstrieren, haben die Kalifatsanhänger am 31. Oktober mittels eines Selbstmordanschlags in Dschalalabad, der Hauptstadt Nangarhars, 15 Teilnehmer eines Treffens von Stammesältesten als "Ungläubige" getötet und weitere 25 verletzt. Offenbar hat der Kriegsbrand am Hindukusch inzwischen eine eigene Dynamik entwickelt, die sich jeder Kontrolle der ursprünglichen Konfliktparteien entzieht.

5. November 2016


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