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ASIEN/944: Afghanistan - und selbstsichere Taliban ... (SB)


Afghanistan - und selbstsichere Taliban ...


In Afghanistan stellt die US-Luftwaffe neue Rekorde bezüglich der Zahl ihrer Bomben- und Raketenangriffe auf, unter denen die Zivilbevölkerung bekanntlich schwer zu leiden hat. Laut vor wenigen Tagen veröffentlichten offiziellen Zahlen des für den Nahen Osten und Zentralasien zuständigen US-Regionalkommandos CENTCOM warfen 2019 amerikanische Kampfjets und Drohnen bei 2434 Einsätzen 7423 Stück Munition ab. Damit wurde die bisherige Höchstzahl von 2018 - 7362 Bomben und Raketen bei 966 Einsätzen - übertroffen. Verglichen damit haben die US-Streitkräfte auf dem Höhepunkt der mißlungenen Truppenaufstockungsstrategie, zu der die Generäle Stanley McChrystal und David Petraeus Präsident Barack Obama 2009 erfolgreich gedrängt haben und die den Einsatz von mehr als 100.000 alliierten Soldaten beinhaltete, weniger Luftangriffe geflogen. Die Zahlen beliefen sich auf 5100 bzw. 5411 abgeworfene Bomben und Raketen bei 2517 respektive 2678 geflogenen Einsätzen in den Jahren 2010 und 2011.

In den beiden letzten Amtsjahren Obamas, 2015 und 2016, waren die Zahlen der von der US-Luftwaffe abgeworfenen Bomben und Raketen auf 947 und 1337 zurückgegangen. Der dramatische Anstieg, der seit dem Einzug Trumps ins Weiße Haus im Januar 2017 zu verzeichnen ist, hängt direkt mit dem erklärten Wunsch des New Yorker Immobilienmagnaten zusammen, den von ihm wiederholt als "sinnlos" bezeichneten Krieg gegen die Taliban zu beenden. Einerseits hat Trump die Einsatzregeln für bemannte und unbemannte Flugzeuge in Afghanistan gelockert, andererseits führt sein Sonderbeauftragter Zalmay Khalilzad mit den Taliban seit 2018 in der katarischen Hauptstadt Doha immer wieder Friedensgespräche.

Im vergangenen September blies Trump die geplante Unterzeichnung eines angeblich fertigen Friedensvertrags für Afghanistan unter Verweis auf einen Bombenanschlag der Taliban in Kabul, bei dem ein US-Soldat ums Leben gekommen war, in letzter Minute ab. Doch möglicherweise handelt es sich bei der Begründung für die ungewöhnliche Entscheidung um eine Schutzbehauptung. Trotz Einigkeit darüber, daß eine Beendigung der Kämpfe prinzipiell wünschenswert sei, liegen der Sicherheitsapparat in Washington und die Taliban in der wichtigsten aller Fragen weiterhin meilenweit auseinander. Die einstigen Koranschüler beharren nach wie vor auf die Erfüllung ihrer kategorischen Forderung nach dem Abzug sämtlicher ausländischen Streitkräfte, während sich die USA mit Blick auf China, Rußland, den Iran und Pakistan weiterhin unter dem Vorwand der vergeblichen Notwendigkeit einer "Terrorbekämpfung" und/oder der soldatischen Ausbildung der afghanischen Armee und/oder der Wartung westlichen Kriegsgeräts an die Aufrechterhaltung irgendeiner Art amerikanischer Militärpräsenz am Hindukusch klammern.

Seit Dezember verhandeln die beiden Seiten wieder am Persischen Golf miteinander. Angeblich haben die Taliban eine kurzfristige Aussetzung der Kämpfe angeboten, während Team Trump eine langfristige Feuerpause verlangt. Verkompliziert werden die Friedensbemühungen durch die Weigerung der Taliban, sich mit den Vertretern der Regierung in Kabul, welche sie für die Handlanger Washingtons halten, an einen Tisch zu setzen. Während Afghanistans Präsident Ashraf Ghani seinerseits einen umfassenden Waffenstillstand verlangt, bevor er zu Verhandlungen mit den Taliban bereit wäre, wird er gleichzeitig vom eigenen Premierminister Abdullah Abdullah deswegen als friedensunwillig kritisiert. Offenbar hat Ex-Außenminister Abdullah ein besseres Ohr für die Stimmung im Volk als sein Rivale bei der letzten Präsidentenwahl. Laut des vor wenigen Tagen veröffentlichen Ergebnisses einer landesweit von der Pajhwok Afghan News durchgeführten Umfrage wünschen sich 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung eine Aussöhnung mit den Taliban.

Nach Jahrzehnten des Konflikts sind die Afghanen, ob Taliban- oder Regierungsanhänger, schlicht kriegsmüde. Hinzu kommt, daß die Taliban den Krieg im Grunde gewonnen haben, was die Supermacht USA jedoch nicht öffentlich zugeben will. Laut einer aktuellen Studie der Online-Militärzeitschrifit Long War Journal, die von der neokonservativen Denkfabrik Foundation for the Defense of Democracies (FDD) in Washington herausgegeben wird und deren Autoren deshalb über jeden Verdacht des Defätismus erhaben sind, hat das Herrschaftsgebiet der Taliban inzwischen seine größte Ausdehnung seit der amerikanischen Invasion im Oktober 2001 erreicht. Demnach befinden sich 67 Prozent des Territoriums und 51 Prozent der Bevölkerung unter Kontrolle der Taliban - Tendenz steigend. Trotz der kalten Winterzeit reißt die Taliban-Offensive nicht ab. Am 27. Januar überrannten sie in der nördlichen Provinz Baghlan eine Polizeiwache und töteten elf der Verteidiger. Angeblich wurde der Überfall durch die Hilfe eines Doppelagenten begünstigt - mit dem Insider-Problem sehen sich afghanische und ausländische Streitkräfte seit Jahren konfrontiert.

Am 27. Januar hatten die Taliban-Gegner einen weit schwereren Rückschlag als nur den Verlust eines kleinen Stützpunktes zu verkraften. An diesem Tag ist in der östlichen Provinz Ghazni, die zu weiten Teilen unter Taliban-Kontrolle steht, ein mit modernster Elektronik ausgerüstetes Spezialflugzeug der US-Luftwaffe abgestürzt. Alle Insassen sollen dabei ums Leben gekommen sein. Bei der Maschine handelte es sich um eine militärische Variante des vom kanadischen Unternehmen Bombardier seit 2012 für reiche Geschäftskunden gebauten zweistrahligen Flugzeugs Global 6000. Von der für mehrere hundert Millionen Dollar an das Pentagon ausgelieferten Spezialanfertigung Bombardier E-11A gibt es weltweit nur vier Exemplare. Alle vier Maschinen, welche die Bezeichnung Battlefield Airborne Communications Node (BACN) tragen, sind auf einem US-Luftwaffenstützpunkt in der südlichen Provinz Kandahar, bekanntlich die Hochburg der Taliban schlechthin, stationiert. Wegen ihrer Kommunikationsfähigkeiten bei der Aufstandsbekämpfung in der gebirgigen, zerklüfteten Landschaft Afghanistans, wo gute Netz- und Mobiltelefonverbindungen nur begrenzt zur Verfügung stehen, erfüllen sie eine wichtige Funktion.

Über die Ursache des spektakulären Absturzes, den Pentagon und US-Medien trotz oder gerade wegen der Einzigartigkeit der E-11A-Maschine nicht an die großen Glocke hängen, herrscht völlige Unklarheit. Die Taliban haben den Vorfall offiziell als militärischen Erfolg für sich reklamiert. Wie sie das bewerkstelligt haben sollen ist unbekannt. Auf Twitter kursieren verschiedene Videoaufnahmen, von denen eine offenbar unmittelbar nach dem Absturz erstellt wurde, denn das Flugzeug brennt noch lichterloh. Anhand dieser Bilder, die mit Mobiltelefonen einzelner Taliban-Kämpfer gemacht wurden, steht fest, daß die Maschine nicht in der Luft explodiert und auseinandergebrochen ist. Den Piloten scheint eine Bruchlandung im verschneiten Gelände gelungen zu sein, bei der zwar beide Flügel abgerissen wurden, jedoch der Rumpf der Maschine intakt geblieben ist. Den Brand, der die Mitte des Flugzeugs völlig zerstörte und diese schließlich ohne Dach übrigließ, haben nur das Cockpit, dessen Bug bei der außerplanmäßigen Landung eingedrückt wurde, und das Heck mit den beiden Triebwerken und der Identifizierungsmarkierung leicht beschädigt überstanden.

Das US-Militär bestreitet einen Abschuß und will nach eigenen Angaben die Ursache des Geschehens ermitteln. Zu diesem Zweck soll eine Einheit der US-Elitetruppe Seal Team 6 am 28. Januar die Absturzstelle erreicht, die Leichen der beiden Piloten sowie den Flugschreiber geborgen haben. Das Pentagon hat die Verstorbenen identifiziert. Es handelt sich um den 46jährigen Oberstleutnant Paul Vols aus Guam und den 30jährigen Hauptmann Ryan Phaneur aus New Hampshire. Laut US-Verteidigungsministerium waren nur diese beiden Männer im Flugzeug, als es abstürzte. Dagegen sprechen die Angaben nicht nur der Taliban, in denen von mindestens sechs Leichen die Rede ist. In einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom 28. Januar wird der Polizeichef der Provinz Ghazni, Khalid Wardak, dahingehend zitiert, daß sich sechs Personen im Flugzeug befanden - vier Tote und zwei Überlebende. Letztere hätten die Taliban verschleppt, so Wardak - vermutlich mit einem Teil der High-Tech-Ausrüstung und den an Bord befindlichen Dokumenten im Gepäck.

In iranischen und russischen Medien wird vielfach die These kolportiert, in der Bombardier E-11A habe sich Michael D'Andrea befunden, der Leiter des Iran Mission Center bei der CIA, der an leitender Stelle an der Liquidierung Osama Bin Ladens 2011 im pakistanischen Abbottabad beteiligt gewesen sein soll. Demnach sei D'Andreas Tod - bzw. seine eventuelle Gefangennahme - Vergeltung Teherans für den Drohnenangriff, mittels dessen am 3. Januar bei Bagdad die Trump-Regierung das Leben Qassem Soleimanis, des Chefs der Al-Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, ausgelöscht hatte. Für die Richtigkeit dieser Version der Ereignisse gibt es bislang keinen Beleg.

Gleichwohl wäre es nicht undenkbar, daß die Iraner hier ihre Hände im Spiel haben könnten. Als die sunnitischen Taliban noch in Afghanistan herrschten waren die Beziehungen Kabuls zum schiitischen Iran katastrophal. Doch ein gemeinsamer Feind hat häufig einst erbitterte Gegner zu Verbündeten gemacht. Der Nachfolger Soleimanis, Esmail Ghaani, stammt aus der ostiranischen Stadt Maschdad und soll fließend Paschtu sprechen. Die Iraner verfügen über tragbare Boden-Luft-Raketen, mit denen auch hochfliegende Maschinen wie die Bombardier 6000 aus dem Himmel geholt werden können. Vorstellbar wäre auch der Einsatz elektronischer Mittel. Bis heute rühmt sich Teheran einer Operation, bei der das iranische Militär am 5. Dezember 2011 die Kontrolle über die geheimnisumwitterte US-Aufklärungsdrohne RQ-170 Sentinel des amerikanischen Rüstungsgiganten Lockheed Martin nahe der iranisch-afghanischen Grenze übernahm, die hochmoderne Tarnkappenmaschine des Pentagons zur sicheren Landung in der Islamischen Republik zwang und dabei sogar den eingebauten Selbstzerstörungsmechanismus lahmlegte.

Auch wenn die Iraner nicht in den Absturz des E-11A-Kommandoflugzeugs verwickelt gewesen sein sollten, steht der Vorfall womöglich doch in Verbindung mit einem Entwicklungssprung, was die Bewaffnung der Taliban betrifft. Allein in diesem Januar haben sie vier Hubschrauber der afghanischen Streitkräfte abgeschossen. Eine solche Trefferquote hatten sie zuvor noch nie aufzuweisen. Offenbar verfügen sie über neue Boden-Luft-Raketen - entweder aus eigenen Produktion oder aus dem Ausland eingekauft. In Verbindung mit der Bergung der beiden Leichen der Bombardier-Maschine in Ghazni behaupten die Taliban, sich mit den US-Spezialstreitkräften und afghanischen Hilfstruppen ein Feuergefecht geliefert zu haben, bei dem sie noch einen Hubschrauber abgeschossen hätten. Ob diese Angabe stimmt, läßt sich aus der Ferne nicht beurteilen. Fest steht jedoch, daß es im Afghanistankrieg die Taliban sind, die heute den Takt angeben und den Gegner vor sich hertreiben.

1. Februar 2020


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