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ASIEN/951: Afghanistan - nur kleine Schritte ... (SB)


Afghanistan - nur kleine Schritte ...


Mehr als ein Jahr lang hatte der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad in Doha mit der Führung der Taliban über Wege zur Beendigung des Krieges in Afghanistan verhandelt. Trotz diverser Rückschläge konnten am 29. Februar in der katarischen Hauptstadt Khalilzad im Namen der USA und der stellvertretende Chef der Taliban, Mullah Abdul Ghani Baradar, im Namen des von Washington formell nicht anerkannten Islamischen Emirats Afghanistan einen Friedensvertrag unterzeichnen. Doch mit der Umsetzung des Friedensabkommens hapert es seitdem gewaltig und zwar deshalb, weil sich die vom Westen unterstützte Regierung in Kabul in zwei Fraktionen gespalten hat, von denen die eine vom bisherigen Präsidenten Ashraf Ghani und die andere vom Noch-Premierminister Abdullah Abdullah angeführt wird. Über diese Entwicklung ist die Regierung in Washington sehr verärgert. Schließlich will sich Donald Trump unter Verweis auf den von ihm ermöglichten Frieden in Afghanistan im November für eine zweite Amtszeit als US-Präsident wählen lassen.

Ghani und Abdullah streiten sich über den Ausgang der Präsidentenwahl im vergangenen September, bei der es trotz oder gerade wegen einer sehr niedrigen Bürgerbeteiligung zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten zugunsten des Amtsinhabers gekommen war. Diese waren nicht restlos aufgeklärt worden, als im Februar der Leiter der Wahlkommission ohne Absprache mit den anderen Mitgliedern des Gremiums Ghani zum alten und neuen Staatsoberhaupt erklärte. Ghani nahm die Entscheidung dankend entgegen und kündigte für Ende Februar seine erneute Amtseinführung an. Abdullah ließ diesen Schachzug nicht auf sich sitzen, sondern erklärte sich selbst zum Wahlsieger und kündigte seine Einführung ins Präsidentenamt ebenfalls für Ende Februar an. Nur mit allergrößter Mühe konnte die US-Diplomatie die beiden Streithähne davon abbringen, den historischen Friedensschluß von Doha durch ihr Possenspiel in Kabul zu torpedieren.

Ghani und Abdullah beugten sich dem Druck aus Washington und hielten sich einige Tage zurück, um sich dann aber doch am 9. März bei getrennten Zeremonien im Präsidentenpalast jeweils zum neuen "Präsidenten" Afghanistan ausrufen zu lassen. Unter der afghanischen Bevölkerung hat diese Idiotie große Empörung und Enttäuschung ausgelöst. Viele Menschen befürchten, daß die politische Klasse in Kabul gerade dabei ist, die beste Gelegenheit zur Beendigung des jahrzehntelangen Krieges wegen Eifersüchteleien und einander widersprechenden Interessen zu verspielen. Vor die schwierige Wahl gestellt, hat sich die diplomatische Vertretung der USA in Kabul und mit ihr die der anderen NATO-Staaten zur Teilnahme an der Amtseinführung Ghanis entschieden. Viel hat dieses Entgegenkommen Washington nicht gebracht. Nach wie vor weigert sich Ghani, die von Khalilzad und Baradar in Doha vereinbarte Freilassung von 5000 Taliban-Gefangenen im Austausch gegen 1000 gefangengehaltene Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte in die Tat umzusetzen, sondern verlangt vorab eine Feuerpause.

Die Taliban lassen sich auf Ghanis falsches Spiel gar nicht erst ein, sondern haben als Antwort darauf ihre militärischen Aktivitäten wieder hochgefahren. Bei ihrem heftigsten Angriff seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags kamen am 12. März 24 Soldaten ums Leben, als ihr Außenposten in der südlichen Provinz Zabul von den ehemaligen Koran-Schülern überrannt wurde. Angesichts des unerfreulichen Aufflammens der Gewalt blieb US-Außenminister Mike Pompeo trotz der Corona-Krise nichts anderes übrig, als am 23. März nach Kabul zu fliegen und dort zu versuchen, Abdullah und Ghani zur Räson zu bringen.

Am Tag davor war in Afghanistan der erste offizielle Fall einer Corona-Virus-Erkrankung gemeldet worden. Beobachter befürchten, daß COVID-19 im Armenhaus Afghanistan mit seinem ohnehin desolaten Gesundheitssystem besonders schlimm wüten könnte. Die katastrophalen hygienischen Bedingungen in den afghanischen Gefängnissen lassen eine rasche Umsetzung des geplanten Gefangenenaustausches zwischen Kabul und den Taliban höchst dringend erscheinen. Darum haben auch Vertreter beider Seiten am 22. März erstmals offiziell miteinander gesprochen. Es ging ausschließlich um die Gefangenenproblematik und lief über Skype. Die Regierungen der USA und Katars hatten die zweieinhalbstündige Unterredung technisch ermöglicht. Trotzdem ist am Ende nichts dabei herausgekommen. Die Taliban verlangten erneut die mit den USA vereinbarte Freilassung ihrer 5000 Anhänger, während die Vertreter Ghanis auf eine Waffenruhe als Vorbedingung beharrten.

Bei seiner Stippvisite in Kabul verbrachte Pompeo abwechselnd mehrere Stunden mit Abdullah und Ghani in ihren jeweiligen Residenzen, um nach einem Weg aus der politischen Sackgasse, in die sich Afghanistans zwei führende "Demokraten" manövriert haben, zu suchen. Trumps Chefdiplomat schwebt eine Lösung ähnlich jener vor, die sein Vorgänger John Kerry 2014 in derselben Situation durchsetzen konnte. Auch damals hatte sich Ghani zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt, während Abdullah von Betrug sprach. Kerry konnte Abdullah damals dazu bringen, sich mit seiner umstrittenen Niederlage abzufinden, indem man ihm den Posten des Premierministers gab. Doch Pompeos Versuch einer Neuauflage der politischen Zweckehe ist laut afghanischen Medienberichten vor allem am Widerstand Ghanis gescheitert, der angeblich mit Abdullah nicht mehr zusammenarbeiten, sondern ihn ein für allemal loswerden will.

Im Anschluß an die ergebnislosen Gespräche in Kabul flog Pompeo überraschend am Abend des 22. März nach Doha, wo er sich mit Taliban-Vizechef Baradar persönlich zusammensetzte. Das bislang hochrangigste Treffen zwischen einem US-Regierungsvertreter und einem Repräsentanten der Taliban-Führung scheint gut gelaufen zu sein. Baradar bekannte sich erneut zum Friedensvertrag und dessen Inhalt, darunter die rasche Beendigung des Krieges und ein innerafghanischer Versöhnungsprozeß. Pompeo verwies auf den bereits begonnenen Abzug amerikanischer Streitkräfte. Den Plänen Washingtons zufolge werden die USA die Zahl ihrer in Afghanistan stationierten Soldaten innerhalb der nächsten viereinhalb Monate von aktuell 14.000 auf 8.600 reduzieren, der restliche Abzug soll innerhalb weiterer neuneinhalb Monate abgeschlossen sein.

Nachdem Pompeo das Gespräch mit Baradar als "konstruktiv" bezeichnet hatte, erteilte er vor laufenden Fernsehkameras Abdullah und Ghani eine Rüge, die in der Geschichte der amerikanisch-afghanischen Beziehungen ihresgleichen sucht. Er warf beiden Männern "unverantwortliches Handeln" vor und erklärte, sie hätten mit ihrem nicht endenden Ränkespiel alle amerikanischen und afghanischen Soldaten und Polizisten "entehrt", die in den letzten mehr als 18 Jahren ihr Leben im Kampf gegen die Taliban verloren haben.

Zur herben Schelte gesellten sich auch finanzielle Zwangsmaßnahmen. Pompeo kündigte eine sofortige Kürzung der Finanzhilfe Washingtons für den Haushalt der afghanischen Regierung um eine Milliarde Dollar an - von 4,3 auf 3,3 Milliarden Dollar - und stellte eine weitere Kürzung in derselben Größenordnung für 2021 in Aussicht, sollten Adbullah und Ghani ihren Streit bis dahin nicht beigelegt haben. Des weiteren ordnete Pompeo eine Generalüberprüfung aller Hilfsleistungen der USA für Afghanistan an. Ohne die finanzielle und militärische Unterstützung ist der "afghanische Staat", um dessen Kontrolle sich Ghani und Abdullah streiten, nicht überlebensfähig. Kein Wunder, daß die Taliban die Kabuler Politikclique nicht besonders ernst nehmen und lange nicht mit deren Repräsentanten verhandeln wollten.

26. März 2020


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