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HISTORIE/324: Geschichtsstreit gefährdet Frieden in Nordirland (SB)


Geschichtsstreit gefährdet Frieden in Nordirland

Aufarbeitung der Geschichte der nordirischen Troubles unerwünscht



Ende Dezember 2013 sind in Belfast Verhandlungen unter der Leitung des US-Sondervermittlers Richard Haass gescheitert, die eine Beilegung des Dauerstreits in Nordirland um Flaggen, Märsche und den Umgang mit der geschichtlichen Hinterlassenschaft der "Troubles" ermöglicht hätten, die zwischen 1968 und 1998 rund 3.500 Menschen das Leben kosteten und Zehntausende verletzt oder traumatisiert zurückließen. Grund für das Scheitern war die Weigerung der protestantisch-unionistischen Parteien, der Gründung einer Art Wahrheits- und Versöhnungskommission zuzustimmen, der ehemalige Paramilitärs, Polizisten, Soldaten, Geheimdienstler oder auch einfache Bürger Hinweise zur Aufklärung früherer "terroristischer" Straftaten hätten anvertrauen können, ohne daß diese Informationen jemals gegen sie vor Gericht verwendet würden. Rückblickend erweist sich das Mißlingen der Haass-Gespräche als fatal vertane Chance. Durch die Verhaftung und viertägige Vernehmung von Gerry Adams, dem Vorsitzenden der katholisch-nationalistischen Partei Sinn Féin, Ende April, Anfang Mai, hat der Streit um die Geschichte des nordirischen Bürgerkrieges derart an Heftigkeit zugenommen, daß man sich ernsthaft Sorgen um ein Wiederaufflammen der Gewalt machen muß.

Anlaß zu der Verhaftung von Adams gaben angeblich neue Hinweise auf dessen Verwicklung in die Ermordung der Belfaster Witwe und zehnfachen Mutter Jean McConville im Jahre 1972 durch die Irisch-Republikanische Armee (IRA) wegen des Verdachts der Spitzeltätigkeit für die britischen Streitkräfte. Die Hinweise sollten sich in einer Sammlung von Interviews befinden, die der ehemalige IRA-Häftling und Publizist Anthony McIntyre zwischen 2001 und 2003 in Zusammenarbeit mit dem Journalisten Ed Moloney und unter der Leitung des Historikers Prof. Paul Bew von der Queen's University in Belfast mit ehemaligen Kameraden über die Zeit im Untergrund geführt hat. Viele der Interviewpartner standen der Sinn-Féin-Führung um Adams und Martin McGuinness kritisch gegenüber, weil sie aus ihrer Sicht durch ihre Unterschrift zum Karfreitagsabkommen von 1998 das oberste Ziel der IRA, die Wiedervereinigung Irlands, aufgegeben haben.

Um auszuschließen, daß die Interviews vom sogenannten "Belfast Project" in die Hände der britischen oder nordirischen Justizbehörden gelangten, hatte man beschlossen, die gesamte Sammlung - zu der auch eine Reihe von Gesprächen mit ehemaligen protestantisch-loyalistischen Paramilitärs gehören - dem renommierten Boston College im US-Bundesstaat Massachusetts anzuvertrauen. Moloney und McIntyre vereinbarten mit der Leitung der von irischen Jesuiten gegründeten Universität, daß die Tonbänder niemals ausgehändigt und ihr Inhalt erst mit dem Tod des jeweiligen Interviewpartners veröffentlicht werden dürften.

2010 gab Moloney, Autor des 2002 erschienenen Bestsellers "Secret History of the IRA", in dem er Gerry Adams' Rolle als langjähriger Oberbefehlshaber der Untergrundarmee kritisch beleuchtet hatte, das Buch "Voices from the Grave" heraus, das auf Interviews mit Brendan Hughes, einem 2008 verstorbenen Ex-IRA-Kommandeur, und David Ervine, dem 2007 verstorbenen Ex-Mitglied der loyalistischen Ulster Volunteer Force und späteren Chef der Progressive Unionist Party (PUP), basierte. Beide Männer hatten im Rahmen des Belfast Project ihre Erinnerungen an den Bürgerkrieg zu Protokoll gegeben. In dem Buch und der gleichnamigen, preisgekrönten Dokumentation des staatlichen irischen Rundfunksenders RTÉ belastete Hughes seinen früheren Freund Adams schwer und identifizierte ihn als langjährige IRA-Führungsperson, die auch den Befehl zur Hinrichtung von McConville gegeben und die Beseitigung ihrer Leiche angeordnet hatte.

Doch erst 2011 hat der "reformierte" Police Service of Northern Ireland (PSNI) Ermittlungen im Mordfall McConville aufgenommen. Auslöser war nicht "Voices from the Grave", sondern ein Interview der ehemaligen IRA-Freiwilligen Dolours Price mit der Journalistin Allison Morris aus dem Vorjahr, aus dem die Belfaster Zeitung Sunday Life in einem reißerischen Bericht zitiert hatte. Morris und Sunday Life hatten den Eindruck aufkommen lassen, daß die Angaben von Price, in denen sie ihre Rolle als Fahrerin bei McConvilles Hinrichtung und beim Vergraben der Leiche schilderte und in denen sie Adams namentlich als Auftraggeber nannte, den Boston College Tapes entstammten. Aufgrund dessen hat der PSNI vor einem US-Bundesgericht die Aushändigung aller Interviews des Belfast Project beantragt, in denen der Name Jean McConville vorkommt. Moloney und McIntyre haben bis zum Schluß energisch dagegen gekämpft. Doch wegen der fehlenden Unterstützung sowohl des Boston College als auch des US-Außenministeriums unter der Leitung von Hillary Clinton und ihrem Nachfolger John Kerry, die durch den Verweis auf das nationale Interesse der USA am Erhalt des Friedens in Nordirland den ganzen Spuk hätten beenden können, unterlagen sie. Ende 2013 wurden die fraglichen Bänder bzw. Abschriften dem PSNI ausgehändigt.

Seitdem sind mehrere Personen in Verbindung mit dem McConville-Fall verhaftet und vernommen worden. Am 21. März wurde der heute 77jährige, ehemalige IRA-Generalstabschef Ivor Bell, mit dem Adams und McGuinness 1972 zu geheimen Friedensverhandlungen mit der britischen Regierung Edward Heaths nach London geflogen waren, nach kurzer Vernehmung angeklagt und auf Kaution wieder freigelassen. Fünfeinhalb Wochen später erfolgte die spektakuläre Verhaftung des Dubliner Parlamentsabgeordneten und Vorsitzenden der Sinn-Féin-Fraktion, Gerry Adams, der aufgrund einer Vorladung die Irische Republik verlassen und sich zwecks einer Vernehmung beim Sonderdezernat Retrospective Major Investigation Team (REMIT), das im Polizeirevier Antrim in der Kleinstadt Carrickfergus am westlichen Ufer der Belfaster Bucht seinen Sitz hat, gemeldet hat.

Nach vier Tagen hinter Schloß und Riegel ließ der PSNI Adams am 4. Mai laufen. Es wurde vorerst keine Anklage erhoben. Darüber soll Pamela Atchinson, die Stellvertretende Generalstaatsanwältin Nordirlands, nach Überprüfung der 33 Verhöre, die allesamt per Video aufgenommen wurden, entscheiden. Aus dem, was Adams auf der Pressekonferenz nach seiner Freilassung erklärte und in einem Artikel für die britische Tageszeitung Guardian in der Ausgabe vom 8. Mai schrieb, waren die Beweise gegen seine Person wirklich dürftig. Sie könnten bestenfalls für eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung", jedoch niemals in Verbindung mit dem Mord an Jean McConville reichen. Doch selbst im ersteren Punkt wären die Chancen auf eine Verurteilung dünn.

Gegen die weitverbreitete These, die Verhaftung und Vernehmung von Adams und Bell basierten auf den Boston College Tapes sprechen zwei Tatsachen. Erstens ist in den übergebenen Protokollen zwar mehrmals der Name McConville gefallen, jedoch hat offenbar niemand eine einzige konkrete Aussage über die Umstände ihres Todes gemacht. Zweitens weiß niemand vom PSNI, wer was auf den Bändern sagt. Die einzigen Personen, welche die Identität der jeweiligen Personen kennen, die in den Dokumenten einfach mit Buchstaben wie R oder Y geführt werden, sind Moloney und McIntyre. Beide haben mehrmals erklärt, daß sie dieses Wissen niemals preisgeben würden.

Der jahrelange Kampf der beiden Männer um die Nicht-Herausgabe der Bänder und ihr Festhalten an der von ihnen abgegebenen Vertraulichkeitsgarantie hat Adams nicht daran gehindert, sie und Paul Bew - letzterer, weil er einst Berater von David Trimble, dem Chef der Ulster Unionist Party (UUP) gewesen ist - als die Hauptverantwortlichen für seine Verhaftung zu bezeichnen. In seiner Pressekonferenz und im Gastbeitrag für den Guardian hat der Sinn-Féin-Vorsitzende das mündliche Geschichtsprojekt als übles Machwerk friedensfeindlicher Kräfte verteufelt. In die gleiche Kerbe schlug Martin Mansergh am 8. Mai in der Irish Times. Der frühere irische Minister mit besonderer Verantwortung für Nordirland warf Moloney vor, seit Jahren einen Kreuzzug gegen Adams zu führen, und unterstellte McIntyre, den Friedensprozeß aus den Angeln hebeln zu wollen.

Die Kritik am Belfast Project ist natürlich vollkommen überzogen, hat aber ihre Wirkung nicht verfehlt. Am 7. Mai erklärte die Leitung des Boston College, man wolle die Interviewsammlung nicht länger verwahren und die Aufzeichnungen der Aussagen der einzelnen Projekteilnehmer zurückgeben. Damit gehen wichtige historische Dokumente über die Geschichte der dreißigjährigen "Troubles" unwiederbringlich verloren. Hinzu kommt, daß ein ähnliches Projekt, bei dem ehemalige Polizisten von beiden Seiten der irischen Grenze über ihre Erfahrungen zwischen 1968 und 1998 befragt werden sollten, wegen des Risikos, daß die Beteiligten aufgrund irgendwelcher Aussagen in eine kriminalistische Ermittlung oder Schlimmeres verwickelt werden könnten, nun gestorben ist. Währenddessen muß Anthony McIntyre, der bereits vor einigen Jahren nach Drohungen seitens ehemaliger IRA-Leute, die heute auf Sinn-Féin-Linie sind, mit seiner Frau und zwei Kindern von Belfast nach Drogheda auf die südliche Seite der irischen Grenze umgezogen ist, erneut um sein Leben fürchten. Aufgrund der hetzerischen Aussagen von Adams und anderen Sinn-Féin-Politikern wird der Betreiber des Blogs "A Pensive Quill" auf Graffiti-Schriftzügen im katholischen West-Belfast als "Spitzel" beschimpft.


Fußnote:

1. Siehe hierzu im Schattenblick unter INFOPOOL/EUROPOOL/REPORT:

INTERVIEW/008: Anthony McIntyre zum "Ausverkauf" der IRA und Sinn Féin

http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0008.html

8. Mai 2014