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HISTORIE/333: USA - verlorene Schlachten und Waffennot ... (SB)


USA - verlorene Schlachten und Waffennot ...


Im Vietnamkrieg sind die US-Streitkräfte dem Einsatz von taktischen Atomwaffen nähergekommen als bisher gedacht. Dies geht aus Dokumenten hervor, die lange Jahre unter Verschluß lagen, vor einiger Zeit freigegeben wurden und die der amerikanische Historiker Michael Beschloss für sein neuestes Buch "Presidents of War", das in den kommenden Tagen in den USA erscheint, verarbeitet hat. Die New York Times, für die Beschloss gelegentlich als Gastautor schreibt, hat in der Ausgabe vom 7. Oktober über die beunruhigenden neuen Erkenntnisse unter der Überschrift "U.S. General Considered Nuclear Response in Vietnam War, Cables Show" berichtet.

Anlaß, den erstmaligen Kriegseinsatz von Atombomben seit den Abwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 zu erwägen, war die bedrängte militärische Position zweier Regimenter der US-Marineinfanterie bei der Schlacht um Khe Sanh, die im Januar 1968 begonnen hatte. Dort versuchten 6000 Marines verzweifelt, den Stützpunkt Khe Sanh vor dem Angriff von rund 20.000 Soldaten der nordvietnamesischen Armee zu verteidigen. Der Stützpunkt war wegen seiner Position im nordwestlichen Winkel Südvietnams nahe der Demilitarisierten Zone (DMZ) zu Nordvietnam und der Grenze zum Nachbarland Laos von großer strategischer Bedeutung. Mit Luftangriffen, Entlaubungsmaßnahmen und Kommando-Operationen von Khe Sanh aus wollten die Amerikaner den Waffennachschub aus Nordvietnam für die Vietkong-Rebellen im Süden, der zum Teil über das Territorium von Laos - Stichwort Ho-Chi-Minh-Pfad - lief, unterbinden und deshalb den Stützpunkt dort unbedingt halten. Wegen der personellen Überlegenheit der nordvietnamesischen Streitkräfte sah alles danach aus, als könnten die USA bei Khe Sanh eine ähnlich demoralisierende Niederlage wie 1954 Frankreich bei der Schlacht um Dien Bien Phu erleiden. Präsidenten Lyndon B. Johnson hatte seine Militärs ausdrücklich darum gebeten, ein solches Szenario nicht zuzulassen.

Vor diesem Hintergrund schickte am 3. Februar 1968 der Oberkommandeur der US-Streitkräfte in Vietnam, General William Westmoreland, folgende Nachricht an den Vorsitzenden der Vereinigten Streitkräfte im Pentagon, General Earle Wheeler: "Sollte sich die Situation in der DMZ-Gegend dramatisch verändern, sollten wir bereit sein, Waffen größerer Effektivität gegen die gegnerischen Massen einzusetzen. Unter solchen Bedingungen kann ich mir vorstellen, daß entweder taktische Atomwaffen oder chemische Kampfstoffe die geeignetsten Mittel der Wahl wären." Am 7. Februar schrieb Admiral Ulysses S. Grant Sharp jun., der von Japan aus den Oberbefehl über die US-Streitkräfte im pazifischen Raum innehatte, an Westmoreland, er sei "über den Ausweichsplan zum Einsatz von taktischen Atomwaffen in der Region Khe Sanh/DMZ, der von Mitgliedern unserer jeweiligen Stäbe letzte Woche auf Okinawa erstellt wurde, unterrichtet worden". Sharp bezeichnete den Plan namens Fracture Jaw als "konzeptionell solide", schlug einige kleine Veränderungen vor und bat um den "raschen" Erhalt der Endfassung, um die Umsetzung in die Wege leiten zu können.

Am 10. Februar unterrichtete Westmoreland Sharp davon, daß er "Oplan Fracture Jaw genehmigt" habe. Am selben Tag hat der Nationale Sicherheitsberater Walt Rostow zum zweiten Mal innerhalb einer Woche einen hochgeheimes Eilmemorandum an Johnson übermittelt, um diesen über die bevorstehende Eskalation bei Khe Sanh zu informieren. Was dann geschah, schilderte im NYT-Artikel Tom Johnson, damals ein junger Assistent seines Namensvetters im Weißen Haus: "Als er erfuhr, daß der Plan in Gang gesetzt worden war, war er außerordentlich verärgert und hat über Rostow, und ich glaube sogar im direkten Gespräch mit Westmoreland, mit Nachdruck angeordnet, die Sache abzublasen." Grund für die Entscheidung des Präsidenten gegen den Einsatz von Kernwaffen war die Angst vor einer Ausweitung des Konflikts und dem Kriegseintritt der chinesischen Volksarmee, wie ihn die Amerikaner bereits 1950 im Koreakrieg erleben mußten. "Johnson vertraute seinen Generälen niemals völlig. Er hatte große Bewunderung für Westmoreland, doch er wollte nicht, daß die Militärs den Krieg führten", so der ehemalige Notizenschreiber im Weißen Haus. Am 12. Februar hat Admiral Sharp den Befehl erteilt, "jegliche Planung um Fracture Jaw zu beenden" und sämtliche dazugehörigen Dokumente einschließlich "Nachrichten und Korrespondenzen" an einem sicheren Ort wegzusperren.

Mit der Entscheidung von Johnson, im Vietnamkrieg doch nicht auf Atomwaffen zurückzugreifen, starb der Glaube der USA an einen Sieg. Wegen schlechter Meldungen der Presse über den Kriegsverlauf war bereits 1966 für Pentagon und Weißes Haus die sogenannte "Glaubwürdigkeitslücke" entstanden. Auch die Erhöhung auf 525.000 amerikanischer Soldaten in Vietnam, den höchsten Stand, brachte keine Wende zum Besseren. Quasi parallel zur Schlacht von Khe Sanh hatten die Vietkong Ende Januar 1968 die sogenannte Tet-Offensive gegen alle US-Militäreinrichtungen in Südvietnam gestartet. Hatte sich Westmoreland noch Ende 1967 damit gebrüstet, seine Männer befänden sich inzwischen auf der Siegerstraße, so haben die Fernsehbilder von schweren, wochenlangen Kämpfen in den sichergeglaubten Städten Saigon und Hue die amerikanische Öffentlichkeit schockiert und wachgerüttelt.

Wegen der zunehmenden Kritik am Vietnamkrieg und sinkenden Umfragewerten gab Johnson am 31. März 1968 seinen überraschenden Entschluß, für eine zweite reguläre Amtszeit als Präsident nicht zu kandidieren, bekannt. Der ehemalige Senator aus Texas, der wenige Stunden nach dem Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 vom Vizepräsidenten zum Präsidenten aufgestiegen war, hatte im Gegensatz zu seinem ermordeten Vorgänger dem Drängen der Generäle nach einer großen Militärintervention im Vietnam nachgegeben. Am 24. November erklärte er dem damaligen US-Botschafter in Saigon, Henry Cabot Lodge, er werde nicht als derjenige in die Geschichtsbücher eingehen, der Vietnam "an den Kommunismus verloren" habe. Wie Beschloss im NYT-Artikel attestiert, hat Johnson in Vietnam zwar "schwere Fehler" gemacht, aber immerhin verhindert, daß der "tragische Konflikt atomar wurde". Was Khe Sanh betrifft, so haben die US-Marines den Stützpunkt im Juli 1968 gezwungenermaßen geräumt und die umkämpfte Position in dem vietnamesischen Hochland den Streitkräften des Nordens überlassen.

10. Oktober 2018


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