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INTERVIEW/005: Seyoum Habtemariam zu Äthiopien, Teil 2 - Innen- und Außenpolitik, Religion (SB)


Interview mit Seyoum Habtemariam am 28. August 2011 in Stelle-Wittenwurth

Teil 2: Innen- und Außenpolitik und das religiöse
Konfliktpotential Äthiopiens


Im ersten Teil des Interviews sprach der Schattenblick mit dem in Äthiopien geborenen und seit 1985 in Deutschland lebenden Seyoum Habtemariam über Hunger in Ostafrika, Landnahme (Land Grabbing) in Äthiopien und die Entwicklungszusammenarbeit. Im zweiten Teil spricht das Mitglied des in Tübingen ansässigen Äthiopischen Menschenrechtskomitees (Ethiopia Human Rights Committee) über innen- und außenpolitische Fragen sowie das religiöse Konfliktpotential Äthiopiens.

Seyoum Habtemariam beim Gespräch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Seyoum Habtemariam
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Die Regierungskoalition hat bei den letzten Parlamentswahlen 2010 mit 99,6 Prozent gewonnen, was Fragen aufwirft. Der unglaubliche Wahlsieg könnte zu der Vermutung verleiten, daß die Regierung trotz der krassen sozialen Gegensätze innerhalb des Landes große Zustimmung von der Bevölkerung erhält. Ist das glaubwürdig?

Seyoum Habtemariam: Nein, das ist natürlich nicht glaubwürdig, es haben nicht alle für die Regierung gestimmt. Die Wahlen wurden auf vielfältige Weise manipuliert: Manche Kandidaten befanden sich 24 Stunden unter Hausarrest, damit sie nicht wählen gehen konnten. Einige wurden sogar buchstäblich ans Bett gefesselt. Im Jahr 2005, also bei den vorletzten Wahlen, hatte die Opposition mit überwältigender Mehrheit gewonnen. Damals war es zu Unruhen gekommen, rund 200 Demonstranten wurden mit gezielten Kopfschüssen getötet, unter ihnen 40 Kinder. Die Regierung hat kurzerhand über 40.000 Personen in größeren Militärlagern interniert, viele Oppositionspolitiker wurden verhaftet. Menschen flüchteten zu Zehntausenden ins Ausland. Bei den Wahlen 2010 schließlich haben Regierungsvertreter vor laufender Kamera erklärt: "Wir haben von der letzten Wahl gelernt, dieses Mal machen wir es richtig ." Tatsächlich war die Regierung sehr gut auf die Wahlen vorbereitet. Die Menschen wurden bereits an ihrem Arbeitsplatz eingeschüchtert. Es gab vorbereitete Listen von jedem Betrieb und jeder Nachbarschaft, auf denen stand, wer regierungsfreundlich erschien, wer neutral war und wer möglicherweise zur Opposition gehörte - Kategorie A, B oder C. Es wurde mit allen möglichen Tricks gearbeitet. Wenn beispielsweise ein Junge an die Universität ging, dann wurden die Eltern unter Druck gesetzt, für die Regierung zu stimmen. Auf vielfältige Weise wurde Einfluß auf das Wahlergebnis genommen. Ein weiteres Beispiel: In einem Wahlbezirk , in dem 3.000 Personen lebten, wurden 10.000 Stimmen abgegeben. Derartige Manipulationen wurden nicht nur in einem, sondern in mehreren Bezirken festgestellt.

SB: Wenn so etwas geschieht, fragt man sich, was die Wahlbeobachter beispielsweise aus der Europäischen Union zu der Zeit gemacht haben.

SH: Was bringen schon 90 Wahlbeobachter bei 43.000 Wahllokalen? Zudem wurde allen Diplomaten - also den Vertretern der Geberländer - untersagt, die Hauptstadt zu verlassen.

SB: Wurde beispielsweise seitens der USA oder der EU Druck auf Äthiopien ausgeübt, mehr Wahlbeobachter zuzulassen oder die Wahlen transparenter zu gestalten?

SH: Nein. Das war nicht der Fall.

SB: Muß die Regierung nicht angesichts der Repressionen damit rechnen, daß der Zorn in der Bevölkerung wächst und dadurch ihre eigene Position gefährdet wird? Ist das nicht im Sinne von Herrschaftssicherung ungeschickt?

SH: Die Regierung ist mit Schwertern an die Macht gekommen und vertritt nicht die Interessen der Bevölkerung. Sie will um jeden Preis an der Macht bleiben. In Äthiopien ist es anders als in Deutschland, wo ein Politiker bei der nächsten Wahl mit Stimmenverlusten abgestraft wird. Meles Zenawi wird versuchen, an der Macht zu bleiben, solange es Regierungen und Politiker gibt, für die die Menschenrechte in Afrika inklusive Äthiopien - anders als im Iran, in Myanmar und Weißrußland - nebensächlich sind.

SB: Ist in Äthiopien mit einer Art arabischem Frühling zu rechnen?

SH: Den gab es schon! Im Jahr 2005 haben Millionen Bürger erstmals frei gewählt. Selbst ältere Menschen sind um vier Uhr morgens aufgestanden, haben sich den Schlangen vor den Wahllokalen angeschlossen und gewählt. Ihre Stimmen haben gewonnen. Aber der Sieg wurde von der Regierung vereitelt und wie ich bereits gesagt habe, die Demokratiebewegung vernichtet. Die 61 Mails, in denen der damalige EU-Botschafter Timothy Clarke aus Addis Abeba über täglich stattfindende Morde, Massenverhaftungen, Internierungen und Wahlfälschungen im Juni und Juli 2005 berichtete und die EU ganz massiv zum Handeln drängte, wurden einfach ignoriert - auch von der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen: In Äthiopien ist die Stimmung derzeit aufgeladen. Das hat auch mit dem Anstieg der Lebensmittelpreise zu tun, die vor vier Monaten um 33 Prozent und inzwischen um über 50 Prozent hochgeschnellt sind. Der Hunger im Land wird die Unzufriedenheit der Menschen mit der Regierung weiter erhöhen. Die Geber begründen ihre Unterstützung für Äthiopien damit, daß die Menschen Hilfe brauchen. Obwohl das Land seit Jahrzehnten am Tropf der Entwicklungshilfe hängt, kommt es zu keinen spürbaren Veränderungen. Die Lage ist sehr kritisch und das nicht erst seit der aktuellen Hungerkatastrophe. Ich empfehle dazu die zwei Bücher "The White Man Burden" von William Easterly und "Famine & Foreigners - Ethiopia after Live Aid" von Peter Gill. Beide Autoren setzen sich kritisch mit der Entwicklungszusammenarbeit in Äthiopien auseinander, hinterfragen alle Zahlen und kommen zu dem Schluß, daß die Entwicklungszusammenarbeit gescheitert ist.

SB: Das erlebt man häufig, daß offizielle Zahlen widersprüchlich sind. Man kann das oft nur noch herleiten. Wie bei den Zahlen zum Hunger und der verfügbaren Nahrung. Das dient systematisch der Beruhigung.

SH: Entwicklungsminister Niebel hat auf der BMZ-Webseite während seines Besuchs in Äthiopien im Januar 2011 erklärt, daß Äthiopien im Bildungsbereich "beeindruckende Erfolge" vorweisen kann. Demnach ist die Einschulungsrate von nur 24 Prozent im Jahr 1990 auf 79 Prozent 2008 gestiegen. Verschwiegen wurde jedoch, daß sich im gleichen Zeitraum die Einwohnerzahl Äthiopiens von rund 48,3 Millionen auf 80,7 Millionen erhöhte. Noch ein Beispiel für Zahlentricks: Im Afar-Gebiet wurden nach Regierungsangaben fünf Millionen Kinder eingeschult. Nun verhält es sich aber so, daß im gesamten Gebiet nur 1,4 Millionen Menschen leben. Wie kann das sein? Entwicklungserfolge werden in Äthiopien gern am Bauboom festgemacht. Aber was bringt er der Bevölkerung? Ähnlich wie beim Land Grabbing werden auch in diesen Fällen Menschen vertrieben. Es sind meist die Armen, die weichen müssen und dadurch entwurzelt werden. An den Hochhäusern, die man in der Hauptstadt baut, verdienen Regierung und Parteiangehörige kräftig mit.

Der simbabwische Diktator Robert Mugabe wurde heftig dafür kritisiert, daß er ganze Stadtteile abreißen ließ. Doch im Fall Äthiopiens ist Kritik an dieser Praxis weitgehend ausgeblieben. Addis Abeba war die Hochburg der politischen Opposition. Das ist ein Grund, warum viele Viertel planiert werden. Hinzu kommt, daß das Land begehrt ist und man mit Immobilien gute Geschäfte machen kann. Vom Bauboom profitiert übrigens auch die GTZ [Anm. d. SB -Red.: Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die inzwischen mit DED und InWent zur Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zusammengeschlossen wurde]. Sie arbeitet mit der Regierung zusammen und fungiert im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit als Bauunternehmer. Örtliche Baufirmen werden umgangen.

SB: Werden die Bauaufträge dann auch an deutsche Firmen vergeben?

SH: Ja, dafür ist die GTZ da. Die GTZ baut übrigens dreizehn Universitäten. Das Auftragsvolumen umfaßt eine Milliarde Euro. "Das ist der größte Einzelauftrag in der Geschichte der GTZ", schreibt der Journalist Markus Frenzel in seinem Buch 'Leichen im Keller. Wie Deutschland internationale Kriegsverbrecher unterstützt'. "Wer will es sich da schon mit den staatlichen Stellen verscherzen?" Das zum Thema EntwicklungsHILFE.

SB: Die Regierung rüstet nicht nur nach innen, sondern auch nach außen auf. Wird die äthiopische Gesellschaft militarisiert?

SH: Es wird sehr viel Geld fürs Militär ausgegeben. Die Regierung kauft beispielsweise Drohnen ein, und vor kurzem erwarb sie 200 Panzer von der Ukraine. Dafür wurden über 100 Millionen Dollar hingeblättert.

SB: Wurde die militärische Aufrüstung nicht eine Zeitlang von den USA gefördert, um Äthiopien gegen den Sudan in Stellung zu bringen?

SH: Ja, damals wollte man sowohl Äthiopien als auch Eritrea militärisch unterstützen. Doch dann wurden aus den beiden einstigen Waffenbrüdern Feinde, die sich bekämpften, und das Konzept ging nicht auf.

SB: Profitiert die deutsche Industrie von der militärischen Aufrüstung Äthiopiens?

SH: Ja, beispielsweise wurden Kommunikationsgeräte geliefert. Auch Panzerung.

SB: Die Spannungen zwischen Äthiopien und Eritrea, die 1998 Krieg gegeneinander führten, sind noch immer vorhanden ...

SH: Angesichts der derzeitigen Lage muß mit dem Ausbruch eines Krieges zwischen beiden Ländern gerechnet werden, und Äthiopien betreibt einen Regimewechsel in Eritrea. In ihren Feindseligkeiten stehen sich beide Regierungen in nichts nach. Die eritreische Regierung hat bewaffnete Gruppen in Äthiopien unterstützt, und Äthiopien die eritreische Opposition zusammengebracht. Beide Seiten unterhalten Büros in den jeweiligen Ländern. An den Besprechungen der eritreischen Opposition in Äthiopien haben auch westliche Diplomaten teilgenommen, was einer De-facto-Anerkennung der eritreischen Opposition gleichkommt, die eine Übergangsregierung bilden soll. Es handelt sich um dreizehn Oppositionsgruppen, die diplomatisch und finanziell stark unterstützt werden. Sollte in der äthiopisch-eritreischen Grenzregion Krieg ausbrechen, könnte es meiner Meinung nach schnell dazu kommen, daß die Übergangsregierung anerkannt wird. Sogar ein NATO-Einsatz ist vorstellbar, da die UN über Sanktionen gegen Eritrea nachdenkt. Der jüngste Vorwurf gegen das Land lautet, bei der letzten Versammlung der Afrikanischen Union im Januar in Addis Abeba einen Bombenanschlag auf die afrikanischen Präsidenten geplant zu haben. Die UN und die USA haben die "Beweise" angenommen. Im Untersuchungsbericht steht dann, welche Bomben und Waffen gefunden wurden oder auch welche Ausbildungslager in Eritrea existieren. In diesem Zusammenhang fällt dann auch der Name der Organisation Al-Shabab aus Somalia, die bereits mit anderen Attentaten in Zusammenhang gebracht wird.

SB: Deuten Sie den mutmaßlichen Bombenanschlag auf die Afrikanische Union als Vorbereitung auf einen von außen induzierten Regimewechsel in Eritrea?

SH: Ja, denn es scheint mir unwahrscheinlich, daß das Land versuchen wollte, ein Attentat auf das Büro des äthiopischen Premierministers und das Gebäude der Afrikanischen Union durchzuführen. Die Gebäude sind solide gebaut und gut bewacht. Zudem liegt das Büro des Premierministers auf einem Hügel. Das gesamte Areal ist riesig. Eine Bombe könnte nur auf der Straße versteckt werden. Ginge sie hoch, so bliebe das Gelände des Premiers unversehrt. Mir erschließt sich nicht die Logik, weswegen ein solches Bombenattentat durchgeführt werden sollte. Aber umgekehrt gilt aus der Sicht der äthiopischen Machthaber: Man kann seine Macht besser absichern, wenn der Rivale als mutmaßlicher Terrorstaat aus dem Verkehr gezogen wird.

SB: Es wird ja auch gesagt, daß Äthiopien und Eritrea in Somalia einen Stellvertreterkrieg führen und daß das einer der Faktoren sei, weswegen der Bürgerkrieg nie zu Ende kommt.

SH: Solange sich Äthiopien einmischt, wird es keinen Frieden geben.

SB: Könnte nicht ein weiterer Grund für die militärische Aufrüstung Äthiopiens der schwelende Konflikt mit Ägypten über die Verteilung des Nilwassers sein? Ägypten pocht ja auf die Gültigkeit der alten Nilverträge. Äthiopien baut jetzt mehrere große hydroelektrische Staudämme und hegt umfassende Entwicklungspläne, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wohingegen die frühere ägyptische Mubarak-Regierung erklärt hatte, daß sie den Staudammbau nicht zulassen werde. Besteht die Gefahr eines Waffengangs zwischen den beiden Ländern?

SH: Das halte ich für unwahrscheinlich.

SB: Man konnte den Eindruck gewinnen, daß die äthiopische Regierung die politisch unsichere Lage in Ägypten ausnutzt, um ihre umstrittenen Wasserbaupläne mit Nachdruck voranzutreiben. Dahinter könnte die Überlegung stecken, daß Ägypten zur Zeit genug mit sich selbst zu tun hat, als daß es sich zu außenpolitischen Eskapaden verstiege. In Äthiopien ist von einem "Projekt X" die Rede. Dahinter steckt angeblich der Plan, einen noch größeren Staudamm als Gilgel Gibe II zu bauen.

SH: Ja, dieser geplante Bau eines neuen Staudamms taucht in keinem Haushaltsplan der Regierung auf. Es stimmt, die Nilfrage besteht schon seit langem, da stellt sich schon die Frage, warum Äthiopien ausgerechnet diesen Zeitpunkt gewählt hat, um das Projekt zu propagieren. Darin sehe ich aber eine ganz klare Reaktion auf die nordafrikanischen Revolutionen. In Äthiopien hat man eine ähnliche Entwicklung erwartet, die Machthaber gerieten unter Druck und kamen sofort mit diesem Thema heraus. Indirekt wird damit vermittelt: "Wir haben hier keine Probleme, wir sind mit einem riesigen Entwicklungsprojekt beschäftigt." Nach dem Sturz Mubaraks in Ägypten war eine vierzigköpfige Delegation nach Äthiopien gereist und plötzlich hieß es aus Addis Abeba: "Einverstanden, bis Ägypten eine neue Regierung hat, lassen wir das Projekt ruhen."

SB: Bei einer Podiumsdiskussion des Buko [Anm. d. SB-Red.: Bundeskoordination Internationalismus; Dachverband von über 120 Nichtregierungsorganisationen] im vergangenen Jahr in Tübingen wurde ein Rückblick auf die Afrikapolitik vorgenommen. Wie beurteilen Sie aus Ihrer Sicht eine solche Veranstaltung?

SH: Ich fand sie gut. Das Publikum zeigte großes Interesse. Leider gibt es viel zu wenige solcher Treffen über Afrika.

SB: Äthiopien ist etwa je zur Hälfte christlich und muslimisch. In Europa findet eine Art Kulturkampf zwischen Islam und Christentum statt. Wie stellt sich das in Äthiopien dar?

SH : Darüber kam es einmal zu einer Meinungsverschiedenheit mit dem EKD, dem Evangelischen Kirchendienst. Dieser hatte in einer Pressemitteilung vor einem Krieg in Äthiopien zwischen Christen und Muslimen gewarnt. Lassen Sie mich dazu etwas ausholen: Mit dem Islam hat es in Äthiopien eine besondere Bewandtnis. Als Mohammed seine Religion gründete, mußten seine Familie und über 150 Gefolgsleute nach Äthiopien fliehen. Dort gewährte ihnen der christliche König Asyl und erlaubte ihnen auch, ihre Religion auszuüben. So wurde der Islam nach Äthiopien gebracht und hat sich dort verbreitet. Die äthiopischen Muslime haben einen besonderen Stellenwert, man nennt sie "Muminin", das heißt die Gläubigen. Sie wurden anders als die Saudis oder andere Völker nicht mit dem Schwert "überzeugt", d. h. sie mußten nicht zwischen Sklaverei oder Übertritt wählen. Mohammed hatte ausdrücklich Angriffe auf Äthiopien untersagt. Würden islamistische Fundamentalisten in Äthiopien ein Attentat durchführen, würden sie damit gegen das Wort des Propheten verstoßen.

Äthiopien ist ein gutes Beispiel für das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Christen. Da wird untereinander geheiratet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß an einem muslimischen Feiertag die Geschäfte und Schulen geschlossen blieben und an einem christlichen ebenfalls. Die jetzige Regierung jedoch provoziert Spannungen zwischen den Religionen. Da marschiert beispielsweise jemand in eine vollbesetzte Kirche und ruft "Allahu akbar". [Anm. d. SB-Red .: Gott ist groß.]. Und im Süden Äthiopiens haben Geheimdienstleute den Koran verbrannt. Derartige Provokationen hat es weder zur Zeit der Monarchie noch unter der nachfolgenden Militärdiktatur gegeben. Deswegen gehe ich von inszenierten Aktionen aus. Meiner Erfahrung nach - ich komme aus einer christlichen Familie - gibt es keine Bedrohung durch den Islam.

SB: Jugoslawien ist ein passendes Beispiel dafür, wie ein Streit von außen induziert werden kann. Sieht man von extremen Organisationen ab, die es schon immer gab, aber nie die große Wirkung erzielten, wußte man in Jugoslawien nicht zu unterscheiden, aus welchem Landesteil jemand kam. Scheinbar über Nacht haben dann Straße gegen Straße, Haus gegen Haus, Nachbar gegen Nachbar gekämpft. Das kann man sich nicht aus "lange gewachsener Feindschaft" erklären, wie es gern behauptet wird. Das hatte schon die Qualität eines systemischen Einflusses ...

SH: In Äthiopien bauen Muslime Kirchen und Christen Moscheen. Das wäre in anderen Ländern wie Saudi-Arabien unvorstellbar. An dem guten Verhältnis zwischen beiden Religionen wird nun seitens der Politik immer wieder gerüttelt. Dadurch sollen Konflikte geschürt werden. Käme es zu einem solchen Konflikt oder einer Krise, könnte die Regierung sagen: "Auch wir haben ein Al-Qaida-Problem."

SB: Es wird ja manchmal von einem Exodus der äthiopischen Juden gesprochen. Haben sie etwas auszustehen, daß sie nach Israel flüchten?

SH: Nein, dahinter stecken wirtschaftliche Gründe. Der Exodus begann bereits in den achtziger Jahren. Da die damalige Regierung links ausgerichtet war, hatte sie Probleme mit dem Westen. Damals kam es zur Operation Moses, der ersten Auswanderungswelle. 1984/85 wurden 8.000 Äthiopier ohne Wissen der damaligen Regierung über den Sudan nach Israel ausgeflogen. Zu der Zeit war Dschafar Muhammad an-Numairi im Sudan an der Macht. Er handelte sich Ärger mit der Arabischen Liga ein, die ihm vorwarf, Israel auf diese Weise zu stärken. 1991 folgte der zweite Exodus, Operation Salomon. Die äthiopischen Juden wanderten aus, weil sie Familien in Israel hatten oder weil sie sich wirtschaftlich verbessern wollten - ähnlich wie die Spätaussiedler, die nach Deutschland gekommen sind. Diskriminiert worden waren die äthiopischen Juden zu einem viel früheren Zeitpunkt. Heute ist das nicht mehr der Fall. Im übrigen gibt es gewisse Gemeinsamkeiten zwischen dem äthiopischen Judentum und den orthodoxen Kirchen wie die Praxis der männlichen Beschneidung.

SB: Und wie ergeht es den äthiopischen Juden in Israel?

SH: Sie fühlen sich nicht richtig angenommen. In der Wüste Negev soll dem Vorschlag eines israelischen Ministers zufolge ein "Little Ethiopia" gebaut werden, um die äthiopischen Juden dort anzusiedeln, damit sie sich "heimisch" fühlen.

SB: Gibt es hier in Deutschland eine größere äthiopische Community?

SH: Ja, ich schätze ihre Zahl auf etwa 15.000.

SB: Sie hatten davon gesprochen, daß die äthiopische Regierung aus politischen Gründen Bauern nicht mit Nahrungsmitteln und Saatgut versorgt. Wie viele sind davon betroffen?

SH: Alle, die für die Opposition gestimmt haben.

SB: Ist denn Äthiopien so durchstrukturiert und zentralistisch von oben nach unten verwaltet, daß solche Strafmaßnahmen alle oppositionellen Bauern treffen?

SH: Ja, die Kontrolle reicht in die Familien hinein.

SB: Herrscht auch in der Region Tigray, aus der Premierminister Meles Zenawi stammt, Hunger?

SH: Auch dort herrscht Hunger. Dort werden die Menschen sogar noch stärker politisch kontrolliert. Denn Meles Zenawi weiß: Wenn er dort verliert, kann er politisch nicht überleben.

SB: Welche Bedeutung kommt in Äthiopien der Volkszugehörigkeit zu?

SH: (lacht) In Gesprächen mit Politikern hat man mir oft die Frage gestellt: "Zu welchem Stamm gehören Sie eigentlich?" Meine Antwort lautet dann immer: "Wissen Sie, ich bin ein Mensch." Dann bekommen sie einen Schreck und sagen: "Ja, ja, ja, natürlich ..." Ich antworte dann immer: "In meinen Adern fließt das Blut mehrerer Stämme." Die jetzige Regierung hat angefangen, die Bundesländer nach Sprachzugehörigkeit neu zu strukturieren, die früher keine Rolle spielte. Das ist ein System von "teile und herrsche". Die Menschen werden gegeneinander ausgespielt. Jetzt wurden verschiedene sprachdefinierte Bundesländer geschaffen, was problematisch ist. In Sudan werden 145 Sprachen gesprochen, in Nigeria 244, im kleinen Ghana 90 und in Äthiopien etwa 80. Die verschiedenen Sprachen spielen in der Bevölkerung keine große Rolle. Nur bei den Politikern.

SB: Haben Sie den Eindruck, daß mit dieser Aufteilung in Sprachgebiete loyalen Personen zu mehr Einfluß verholfen werden soll?

SH: Ja, sicher. Eigentlich bieten Sprachen eine schlechte Organisationsstruktur. In Äthiopien gibt es eine gemeinsame Arbeitssprache, über die sich die Menschen größtenteils verständigen können. Nun dienen Sprachzugehörigkeit und Herkunft der Unterdrückung. Menschen aus einem Sprachraum dürfen nicht länger in anderen Sprachräumen arbeiten. Diese Restriktionen gelten auch für die Bauern, sie dürfen nicht mehr in andere Bundesstaaten umziehen. Das ist ein Rückschritt.

SB: Wer hat diese Regelung eingeführt?

SH: Meles Zenawi. Da fällt mir der Fall eines Studenten ein, der im Süden geboren wurde und dort aufgewachsen ist. Er wollte zum Studium in die Hauptstadt. Das wurde ihm mit dem Hinweis auf seine Stammeszugehörigkeit untersagt. Es gibt viele solcher Fälle.

SB : Wie beurteilen Sie die Rolle der Afrikanischen Union in Bezug auf Libyen? Gaddafi hatte sich ja in der Vergangenheit immer stark für die AU eingesetzt.

SH: Gaddafi wollte aber auch immer seine eigenen Interessen durchsetzen. Nur der südafrikanische Präsident Jacob Zuma hat die Angriffe auf Libyen kritisiert. Andere afrikanische Regierungen haben sich zurückgehalten, weil sie selbst Despoten sind.

SB: Allerdings haben Südafrika und Nigeria im UN-Sicherheitsrat für die Resolution 1973 gestimmt. Hinterher erklärte Zuma, daß die NATO-Einsätze über die Resolution hinausgingen. War es nicht naiv von ihm zu glauben, der Westen hätte etwas anderes im Sinn als den Sturz der libyschen Regierung?

SH: Was man gedacht hat und was dann passiert ist, sind zweierlei Paar Schuhe. Die NATO hat den Weg für die Aufständischen freigebombt. In dieser Situation waren Verhandlungen nicht vorgesehen.

SB: Herr Habtemariam, wir bedanken uns recht herzlich für das ausführliche Gespräch.

25. September 2011