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JUSTIZ/676: Denunziation, Schnellgerichte, hohe Strafen - Britannien sanktioniert Aufbegehren (SB)


Repressive Offensive gegen die Armutsrevolte


Nach den Unruhen in zahlreichen britischen Städten gehen Politik, Polizei und Justiz zur Generaloffensive gegen die aufbrechende soziale Revolte über, um ihr präventiv die Spitze und Stoßrichtung organisierten Widerstands gegen die verheerenden Lebensverhältnisse zu nehmen. Mit dem Rückenwind der Ängste zahlloser Bürger vor einem Schlachtfeld inmitten ihres Stadtviertels lancieren die Behörden ein Arsenal längst vorbereiteter oder bereits in Stellung gebrachter repressiver Optionen der Fahndung, Bestrafung, Abschreckung und Aufstandsbekämpfung.

Gefordert und von der Regierung explizit nicht ausgeschlossen wird der Einsatz der Streitkräfte zur Niederschlagung von Unruhen in den britischen Metropolen. Waren Wasserwerfer bislang ausschließlich in Nordirland stationiert, sollen sie wie von dem früheren Londoner Bürgermeister Ken Livingstone und anderen verlangt künftig auch von der Polizei in England eingesetzt werden. Zwar ist dafür eine Genehmigung des Parlaments erforderlich, die zu erwirken jedoch als geringfügige Hürde eingestuft wird. Premierminister David Cameron schloß sich dieser Forderung an und stellte zudem eine Aufrüstung der Polizeikräfte mit Gummigeschossen in Aussicht.

Im Zuge der Fahndung nach mutmaßlichen Tätern griff man auf die flächendeckend ausgebrachte optische Überwachung zurück und rief die Bevölkerung im Internet und auf öffentlich aufgestellten Leinwänden oder Großbildschirmen zur Identifizierung der dort gezeigten Personen auf. Ohne diese induzierte Denunziation großen Stils wären die erzielten Fahndungserfolge nicht möglich gewesen, da die Mehrzahl der Festnahmen nur auf Grund von Hinweisen aus der Bevölkerung erfolgte. Zudem sind die Medien randvoll mit Berichten über Eltern, die ihre Kinder anzeigen, und reumütige gutbürgerliche Missetäter, die sich selbst der Polizei gestellt haben.

Im Zusammenhang mit den Unruhen sind bislang allein in London 1635 Menschen festgenommen und 940 von ihnen unter Anklage gestellt worden. Dabei greifen die rund um die Uhr arbeitenden Gerichte im Schnellverfahren hart durch. Die Quote derer, die ins Gefängnis geschickt werden, liegt derzeit bei 65 Prozent. Die Londoner Metropolitan Police hat im Rahmen ihrer Operation Withern 500 Beamte darauf angesetzt, rund 20.000 Stunden Material von Überwachungskameras auszuwerten. Commissioner Tim Godwin prognostiziert, daß in der Hauptstadt bis zu 3.000 Personen festgenommen und vor Gericht gestellt werden.

Bekannt gewordene Beispiele dokumentieren exemplarisch, daß dabei nicht nur kurzer Prozeß gemacht wird, sondern ausdrücklich eine rigorose Abrechnung intendiert ist, deren abschreckende Wirkung man unverhohlen vorhält. Die bislang höchste Strafe von vier Jahren Haft hat ein Gericht in der Grafschaft Chester gegen zwei junge Männer verhängt, die auf dem sozialen Netzwerk Facebook zur Beteiligung an Unruhen aufgerufen haben sollen. Den beiden wurde zur Last gelegt, zu Randale und Plünderung in der nordwestenglischen Stadt Northwich sowie in Warrington angestachelt zu haben. Allerdings wurde den Aufrufen nicht Folge geleistet, was die Polizei jedoch auf ihr Eingreifen zurückführt. Der zuständige Richter Elgan Edwards verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, daß das Urteil eine abschreckende Wirkung auf andere haben werde. Ein Sprecher der Polizei lobte den Urteilsspruch als ein "abschreckendes Beispiel und eine klare Botschaft an potentielle Krawallmacher". Die Facebook-Einträge der beiden Männer hätten gezeigt, "wie heutzutage die Technologie für kriminelle Aktivitäten missbraucht" werden könne. [1]

In einem anderen Fall wurde in Manchester eine Mutter von zwei Kindern zu sechs Monaten Haft verurteilt, obgleich sie sich nicht an den Ausschreitungen beteiligt hatte. Ihr wurde zur Last gelegt, ein Paar Shorts getragen zu haben, die ein Mitbewohner aus einem Laden gestohlen haben soll. [2] An derart harschen Urteilen regte sich umgehend Kritik. So bezeichneten Menschenrechtsgruppen und Parlamentsabgeordnete einige Urteilssprüche als "unverhältnismäßig", während Rechtsexperten eine Welle von Berufungen erwarten. [3]

Angesichts der Ausweitung der Unruhen und der Absprachen über moderne Kommunikationstechnik brachte die britische Polizei den Vorwurf zur Anwendung, es handle sich um "organisierte Kriminalität". Nachdem Vermutungen kursierten, Täter hätten sich mittels des BlackBerry Messengers (BBM) zu den Unruhen verabredet, sagte der kanadische Hersteller Research In Motion umgehend Hilfe bei der Aufklärung zu. BBM arbeitet im Unterschied zu Kurznachrichtendiensten wie Twitter mit einer Verschlüsselungssoftware, die das Mitlesen der Nachrichten für Außenstehende erschwert. Neben dem von den Behörden angestrebten Zugriff auf die sozialen Netzwerke wie Twitter oder Facebook per Zensur hat die Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten auch Sender wie BBC und Sky News aufgefordert, der Polizei alles nicht genutzte Material über die Unruhen auszuhändigen.

Von administrativer Seite wird gezielt die Behauptung ins Spiel gebracht, es habe sich um Bandenkriminalität gehandelt, auf deren Bekämpfung man das Hauptaugenmerk legen müsse. Innenministerin Theresa May will Ausgangssperren wie etwa einen Hausarrest für Jugendliche unter 16 Jahren möglich machen, wozu es jedoch einer Gesetzesänderung bedarf. Bislang können Ausgangssperren gegen einzelne Verdächtige verhängt werden, nicht jedoch wie von der Regierung gewünscht generell in bestimmten Gebieten.

Wie vom Premierminister angeregt, wollen die Konservativen an den Ausschreitungen Beteiligten Sozialleistungen streichen und öffentlich subventionierte Sozialwohnungen kündigen. Die Verwaltungen in britischen Gemeinden wie dem Londoner Stadtteil Wandsworth, Manchester und dem benachbarten Salford haben bereits begonnen, diese Pläne in die Tat umzusetzen und Kündigungen auszusprechen. Diese repressiven Maßnahmen gegen Einzelpersonen strafen zugleich ganze Familien, Lebensgemeinschaften und andere Formen des gemeinsamen Wohnens ab, die vom Verlust einer Sozialwohnung betroffen sind.

Bezeichnenderweise werden zuerst und vor allem Sanktionen gegen die ärmeren Bevölkerungsschichten gefordert und umgesetzt, denen die regierende Koalition nicht nur wesentliche Teile ihres gewaltigen Sparpakets von mehr als 80 Milliarden Pfund aufbürdet, sondern auch jeden Gedanken an Aufbegehren gegen die miserablen Lebensbedingungen auszutreiben gedenkt.

Fußnoten:

[1] http://www.dw-world.de/dw/article/0,,15322881,00.html

[2] http://www.wsws.org/articles/2011/aug2011/riot-a15.shtml

[3] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1193527

17. August 2011