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LATEINAMERIKA/2179: Argentiniens Ex-Präsident Alfonsín gestorben (SB)


Mythisch verklärte Symbolfigur der Rückkehr zur Demokratie


Im Alter von 82 Jahren ist der frühere argentinische Präsident Raúl Alfonsín, der das Land von 1983 bis 1989 geführt hat, in seinem Haus in Buenos Aires an Lungenkrebs gestorben. Nach Bekanntwerden seines Todes ordnete Vizepräsident Julio Cobos eine dreitägige Staatstrauer an. Gestern trat der Kongreß zu einer Gedenkfeier zusammen. Nach einer Operation in den USA im Vorjahr war Alfonsín im Oktober 2008 bei einem Treffen mit der amtierenden Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ein letztes Mal öffentlich aufgetreten. Wie er damals sagte, hätten Ideen Bestand, während dies Menschen nicht beschieden sei: "Menschen gewinnen oder verlieren, doch es sind die Ideen, die sich in Fackeln verwandeln und die Demokratie am Leben halten."

Alfonsín gilt als Symbolfigur für die Rückkehr zur Demokratie, da er nach dem Ende der Militärdiktatur erster gewählter Präsident des südamerikanischen Landes war. Er ist der Repräsentant des Übergangs geblieben und galt bis zum Schluß als integrer Politiker, der an den Umständen gescheitert ist. Daß sich dieses Bild in der offiziell kommunizierten Erinnerung zu einer geradezu mythischen Verklärung verdichtet hat, ist nicht zuletzt auf die systematische Ausblendung des Herrschaftscharakters der demokratischen Zivilgesellschaft zurückzuführen, der die Diktatur als absolut wesensfremder Schrecken aus einer überwundenen Vergangenheit gegenübergestellt wird. Aus dieser Perspektive läßt sich Alfonsín zum gestrauchelten Helden hochstilisieren, der viel gewagt und wenig gewonnen, aber mit diesem Opfer die Rückkehr zur guten Ordnung auf den Weg gebracht hat.

Raúl Ricardo Alfonsín Foulkes wurde am 12. März 1927 in der Kleinstadt Chascomús südlich von Buenos Aires geboren. Sein Vater, ein spanischer Einwanderer, der es vom kleinen Ladenbesitzer zum wohlhabenden Mann gebracht hatte, war in der Heimat im Bürgerkrieg als Anhänger der Loyalisten ein entschiedener Gegner Francos gewesen. Wie Alfonsín einmal erzählte, entstamme er einem häuslichen Umfeld, in dem man Freiheit nicht nur aus Büchern gelernt habe. Schon vor seinem 18. Geburtstag gründete er eine politische Studiengruppe, doch graduierte er zunächst an einer Militärakademie und erlangte einen Offiziersrang, bis er zunehmend in Widerspruch zu dieser Laufbahn geriet.

Er studierte daraufhin an der Universität in La Plata Rechtswissenschaft und engagierte sich in der Unión Cívica Radical (UCR), einer linksliberalen Partei mit einem ausgeprägten Sozialprogramm. Während nach dem Sturz General Juan Domingo Peróns im Jahr 1955 die politische Führung des Landes mehrfach zwischen Militärregimes und Zivilregierungen wechselte, erlangte Alfonsín zunächst lokale und später regionale Ämter, bis er schließlich 1963 ins Parlament gewählt wurde. Er galt als Außenseiter in seiner Partei und gründete eine Fraktion, die sich verstärkt für Sozialreformen stark machte, um dem Rückhalt der Peronisten in der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen.

Ende der 1970er Jahre gewann er zunehmend an Profil, da er zu den wenigen Politikern gehörte, die offen Kritik an der Militärdiktatur übten, und als Anwalt nicht nur Regimegegner verteidigte, sondern auch die "Ständige Versammlung der Menschenrechte" ins Leben rief, die sich der systematischen Menschenrechtsverletzungen annahm. Im Jahr 1973 scheiterte er jedoch beim Versuch, von seiner Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert zu werden.

Als die Militärjunta immer mehr an Zustimmung verlor und geschwächt aus dem verlorenen Malwinenkrieg gegen Großbritannien hervorging, war die sieben Jahre währende Diktatur (1976-1983) am Ende. Nach Aufhebung des Verbots politischer Parteien wurden für den 30. Oktober 1983 erstmals wieder Präsidentschaftswahlen anberaumt, bei denen sich Alfonsín als Kandidat der Unión Cívica Radical überzeugend gegen einen Konkurrenten der peronistischen Partei (PJ) durchsetzte.

Hunderttausende feierten in der Wahlnacht auf den Straßen von Buenos Aires diesen Wahlsieg eines Politikers, mit dem sich die Hoffnung auf ein endgültiges Ende des Schlachtens und den Anbruch eines neuen Zeitalters verband. Zunächst enttäuschte er diese euphorischen Erwartungen nicht, denn in seiner Regierungszeit mußten sich die bis dahin allmächtigen Militärs erstmals vor Gericht für zehntausendfachen Mord, Folter und Entführung von Regimegegnern verantworten. Ungeachtet der immer noch starken Position der Streitkräfte machte der neue Präsident bereits drei Tage nach seiner Amtseinführung den Weg für die Prozesse gegen ranghohe Angehörige der Streitkräfte wegen Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur frei.

Die Verfahren, die in ganz Südamerika ohnegleichen waren, endeten 1985 nach einem aufsehenerregenden Prozeß mit der Verurteilung von fünf Juntamitgliedern, darunter zwei Ex-Präsidenten, zu langjährigen Haftstrafen. Zudem setzte Alfonsín eine Kommission ein, welche die Fälle Tausender Verschwundener aufarbeiten und das brutale Regime der Militärs dokumentieren sollte. In deren Abschlußbericht "Nunca Más" ("Nie wieder") von 1984 wurde das Verschwinden von über 10.000 Menschen festgehalten.

Allerdings ließ der Staatschef der Radikalen Bürgerunion die meisten unteren Dienstränge aus Militär und Polizei straffrei davonkommen, selbst wenn diesen schwere Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt wurden. Alfonsín berief sich bis zuletzt darauf, daß er unter der ständigen Bedrohung durch die Militärs, die mit einem erneuten Umsturz drohten, keine andere Wahl gehabt habe. Das Militär versuchte 1987 und 1988 dreimal, den demokratisch gewählten Präsidenten abzusetzen, was Alfonsín jedoch verhindern konnte. Mehr als einmal stand Argentinien in dieser Zeit am Rande eines Bürgerkriegs.

Auf Druck des Militärs wurde die Strafverfolgung von Angehörigen der Militärdiktatur jedoch deutlich eingeschränkt. Im Dezember 1986 gab Alfonsín dem Druck nach und schloß mit dem Schlußpunktgesetz neue Verfahren aus. Dennoch rebellierten in der Karwoche 1987 erneut Teile der Streitkräfte und forderten ein Ende der noch laufenden Prozesse. Zwar verkündete Alfonsín vom Balkon des Regierungsgebäudes vor einer jubelnden Menschenmenge das Ende der Putschgefahr, doch hatten sich die Militärs insgeheim durchgesetzt, wie das im Mai 1987 erlassene Gesetz des geschuldeten Befehlsgehorsams bewies. Mit dessen Hilfe konnten sich die vor Gericht stehenden Militärs auf den Befehlsnotstand während der Diktatur zurückziehen, womit deren juristische Aufarbeitung vorerst gescheitert war.

Historiker äußerten Zweifel an der Haltung Alfonsín und verwiesen unter anderem darauf, daß der Präsident den niederen Dienstgraden von Anfang an eine Bestrafung ersparen wollte. Indessen sollte die Immunität für niedere Ränge nicht ewig währen. Im Jahr 2005 wurden die Amnestiegesetze durch den Obersten Gerichtshof endgültig aufgehoben, nachdem das Parlament schon 2003 in gleichem Sinne entschieden hatte. Damit war die Möglichkeit geschaffen, Hunderte von Verfahren gegen die Schergen der früheren Militärjunta wieder aufzunehmen.

Alfonsín sah sich neben den opponierenden Militärs zunehmend mit einer hohen Auslandsverschuldung, Hyperinflation, Kapitalflucht, Korruption und sozialen Verwerfungen konfrontiert, die ihn den Rückhalt der Bevölkerung kosteten. Er verlor nicht nur die Unterstützung der desillusionierten Menschenrechtsbewegung, sondern brachte auch die peronistischen Gewerkschaften gegen sich auf, die ihrer Streikbereitschaft freien Lauf ließen und zwischen 1984 und 1989 nicht weniger als 4.000 Streiks, darunter 15 Generalstreiks, organisierten.

So fiel insbesondere die Bilanz seiner Wirtschaftspolitik verheerend aus, da er die Auslandsschulden Argentiniens, die während der Herrschaft der Militärs explodiert waren, nicht in den Griff bekam. Er versuchte, die Hyperinflation durch den "Plan Austral" einzudämmen, doch war ihm nur vorübergehend Erfolg beschieden. Im Laufe zweier Jahre änderte er in einem Schlingerkurs alle paar Monate die Wirtschaftspolitik, bis am Ende seiner Amtszeit die Inflation auf bis zu 3.000 Prozent gestiegen war und das Land auf die Zahlungsunfähigkeit zusteuerte.

Bei der Präsidentschaftswahl 1989 setzte sich der peronistische Kandidat Carlos Saúl Menem mit deutlichem Vorsprung durch, worauf Alfonsín die Staatsführung fünf Monate vor Ablauf der verfassungsgemäßen Amtszeit an den Sieger abtrat. Damit hatte erstmals seit 61 Jahren wieder ein gewählter argentinischer Präsident sein Amt an einen gewählten Nachfolger aus einer anderen Partei übergeben.

Raúl Alfonsín füllte in späteren Jahren zunehmend die Rolle eines Elder statesman seiner Partei aus, schrieb Beiträge für Zeitungen und gab lange Interviews im Fernsehen. Gekleidet in zerknitterte Anzüge und schäbige Trenchcoats, die seine Markenzeichen wurden, verkörperte er seinen Wahlspruch, er sei der niedrigste aller Argentinier, bis hinein in sein äußeres Erscheinungsbild. Wer angesichts derart dick aufgetragener Bescheidenheit aus dem Munde eines ehemaligen Präsidenten Schmierseife riecht, dürfte sich durch folgende Grundsatzerklärung bestätigt sehen: "Meine Inspiration entspringt der Ethik und nicht einer Ideologie", erklärte Alfonsín einmal im Interview. "Einer Ethik, die an die menschliche Freiheit glaubt." Indem er der Ideologie eine Absage erteilt, verwahrt er sich von vornherein gegen die Frage, in welche Freiheit er die Argentinier denn geführt hat.

2. April 2009