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LATEINAMERIKA/2325: Tod aus brasilianischen Polizeiwaffen (SB)


Polizeirepression im Übergangsfeld zum Paramilitarismus


Wie aus einem soeben veröffentlichten Bericht der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hervorgeht, verlassen Teile der brasilianischen Polizeikräfte in Ausübung ihrer Gewalt in erheblichen Maße den Boden legalisierter Handlungsspielräume und tragen Konflikte tendentiell im Stil paramilitärischer Gruppen aus. Auffallend ist in diesem Zusammenhang insbesondere die hohe Zahl der von Polizisten getöteten Menschen, wobei sich die Hinweise mehren, daß ein wachsender Prozentsatz dieser Vorfälle vertuscht oder verschleiert wird.

Wenn Medien wie im vorliegenden Fall die New York Times (09.12.09) diese Entwicklung sporadisch aufgreifen, wird die monierte Illegalität derartiger Praktiken lediglich mit einer nicht näher spezifizierten Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns kontrastiert, ohne daß dessen grundsätzliche Funktion im Kontext der Staatsgewalt erörtert, geschweige denn analysiert wird. Die Darstellung, brasilianische Polizisten neigten in ihren Auseinandersetzungen mit "Drogenbanden" mitunter zu einer Brutalität und Vorgehensweise, die gängige Richtlinien polizeilicher Arbeit weit überschreite, kann das thematisierte Phänomen allenfalls ansatzweise beschreiben, ohne daß dabei wesentlich mehr als das simplifizierende Gegensatzpaar von guten und bösen Polizisten herauskäme.

Ausgeblendet bleibt insbesondere der eskalierende Krieg des brasilianischen Staates gegen die Hungerrevolte, in dem die in gewissem Umfang von der Leine jeglicher Dienstaufsicht gelassenen Polizeieinheiten die Mobilität und Grausamkeit von Todesschwadronen entwickeln, die sie zwar in Widerspruch zu Recht und Gesetz, doch keineswegs zum staatlichen Auftrag stellt, dessen flexible Erfüllungsgehilfen sie bleiben. Wenn in den Favelas konventionelle Polizeiarbeit an den Lebensverhältnissen der Armut scheitert, greift die Repression maskierter Sturmtruppen, die belagern, stürmen und um sich schießen oder sogar die Reviere in die Flucht geschlagener Banden übernehmen.

Die 122 Seiten umfassende Studie "Lethal Force" von Human Rights Watch erstreckt sich über zwei Jahre und konzentriert sich vor allem auf jene Fälle, in denen es Hinweise auf eine verfälschte Darstellung der Tötungen gibt. In den Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo wurden demnach seit 2003 mehr als 11.000 Menschen bei Polizeieinsätzen gegen "Drogenbanden" getötet, wobei die allermeisten Vorfälle als Notwehrsituationen ausgewiesen werden, da die Polizisten das Feuer in Selbstverteidigung erwidert hätten. In 51 Fällen liegen offenbar Beweise vor, daß die tatsächlichen Umstände verschleiert worden sind. [1]

Beim wohl spektakulärsten dokumentierten Zwischenfall der jüngeren Vergangenheit töteten Polizeikräfte in Rio de Janeiro im Jahr 2007 an einem einzigen Tag nicht weniger als 19 Bewohner der Favela Complexo do Alemão. Aus Polizeiberichten geht hervor, daß mindestens neun der Opfer ins Krankenhaus gebracht wurden, wo man ihr Leben jedoch nicht mehr retten konnte. Human Rights Watch konnte indessen anhand von Fotos und Autopsieberichten nachweisen, daß man wissentlich Leichen in Krankenwagen abtransportiert hatte, um Beweise zu vernichten und das Ansehen der Polizei aufzupolieren.

Wie hoch die Quote brasilianischer Polizeiopfer im internationalen Maßstab ist, unterstreicht ein prägnanter Vergleich. So wies die Polizei des Bundesstaats Rio de Janeiro im Jahr 2007 ein Rekordhoch von 1.330 "Tötungen in Notwehr" und 2008 immerhin noch 1.137 derart klassifizierte Fälle aus. Im Bundesstaat São Paulo wurden im Verlauf der letzten fünf Jahre mehr als 2.176 "Tötungen wegen Widerstands" verzeichnet. Im selben Zeitraum wurden in Südafrika, einem Land mit einer wesentlich höheren Mordrate in der Bevölkerung, mit 1.623 Polizeiopfern deutlich weniger Menschen bei Einsätzen der Sicherheitskräfte erschossen.

Bei den von Human Rights Watch untersuchten Einzelfällen standen die Polizeiprotokolle in Widerspruch zu forensischen Berichten über die Schußwunden der Opfer. Da sich das Justizsystem bei diesbezüglichen Fällen jedoch ausschließlich auf die polizeiliche Aufklärung stützt, kommt es zu keiner Überprüfung. Der Minister für Sicherheit des Bundesstaats Rio de Janeiro reagierte auf die Veröffentlichung des Reports mit der Erklärung, die Regierung trage erstmals in der Geschichte des Landes dafür Sorge, die Stadtteile wieder unter Kontrolle zu bringen, damit sie in Frieden leben können. Korruption und Menschenrechtsverletzungen würden nicht toleriert und mit Entlassung aus dem Polizeidienst geahndet.

Die brasilianische Regierung und die regionale Administration stehen unter erhöhtem Druck, da die Fußballweltmeisterschaft 2014 im Land ausgetragen wird und das Internationale Olympische Komitee die Sommerspiele 2016 an Rio de Janeiro vergeben hat. Die Sicherheitslage in den Metropolen Brasiliens ist damit in den Blickpunkt internationaler Aufmerksamkeit gerückt, weshalb eine staatliche Generaloffensive zur Befriedung brisanter Zonen zu befürchten steht.

Anmerkungen:

[1] Group Says Police Killings Go Unpunished in Brazil (09.12.09)
New York Times

9. Dezember 2009