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LATEINAMERIKA/2371: Verteilungskämpfe um Brasiliens Ölgeschäft (SB)


Rio de Janeiro verteidigt Löwenanteil mit Zähnen und Klauen


Während die Debatte längst um das absehbare Ende der fossilen Brennstoffe kreist, könnte Brasilien als führende Wirtschaftsmacht Südamerikas die Landkarte der Ölreserven entscheidend verändern und damit seinen Einfluß erheblich ausbauen. Der brasilianische Traum vom Aufstieg zu einer bedeutenden Nation, der man im Kreis der Weltmächte Sitz und Stimme nicht länger verweigern kann, ist eng mit der Bedeutung seines wachsenden Erdölsektors verbunden. Die Regierung Präsident Luiz Inácio Lula da Silvas will die immensen Ölvorkommen vor der Atlantikküste jedoch nicht multinationalen Ölkonzernen überlassen, während für sein Land wie bislang üblich nur ein Bruchteil der realisierten Profite abfällt.

Um den eigenen Erdölsektor und insbesondere die Lagerstätten vor der Küste enger einzubinden und die Erlöse zu steigern, will die Regierung die Öffnungen und Privatisierungen der Branche aus den neunziger Jahren teilweise rückgängig machen und neben Petrobras einen weiteren staatlichen Ölkonzern gründen, dem die Vorkommen in der Tiefsee vor der Küste überschrieben werden sollen. Entscheidungen über die Ölpolitik werden zunehmend in einem der Regierung untergeordneten Nationalen Rat für die Energiepolitik (CNPE) gefällt, wodurch der staatliche Einfluß auf die Erdölbranche auch institutionell wächst.

Probebohrungen in den letzten drei Jahren haben bestätigt, daß die gewaltigen Lagerstätten vor der Küste die brasilianischen Reserven mindestens um die Hälfte, womöglich aber um ein Vielfaches erhöhen können. Während andere Ölvorkommen des Landes langsam zur Neige gehen, dürften weitere Bohrungen im Atlantik bestätigen, daß dort entweder eine Vielzahl ergiebiger Felder oder sogar ein zusammenhängendes riesiges Vorkommen erschlossen werden kann.

Bevor man von den gigantischen Ölvorkommen tief unter dem Atlantik profitieren kann, müssen diese zunächst mit einem beispiellosen Einsatz modernster Technologie erschlossen werden, die gewaltige Summen verschlingt. Nach dem klassischen Modell der Offshore-Lizenzen bekommt der meistbietende Konzern den Zuschlag. Dieser muß zwar die Erschließungskosten tragen, verfügt dafür aber über die später geförderte Ölmenge. Demgegenüber sieht das Modell der brasilianischen Regierung vor, künftig demjenigen Bieter den Zuschlag zu geben, der dem neuen Staatskonzern den größten Teil der Fördermenge überläßt. Grundsätzlich soll die staatlich kontrollierte Petrobras an allen neuen Ölfeldern das Fördermonopol erhalten und damit der einzige Konzern sein, der in den Offshore-Feldern Öl fördern darf. In- und ausländische Privatkonzerne können lediglich als Kapitalgeber an der Prospektion und Förderung teilnehmen.

Die brasilianische Regierung geht ein beträchtliches Risiko ein, an den immensen technischen Problemen und Kosten zu scheitern. Sollte es ihr aber gelingen, ihr Vorhaben gegen alle politischen Widerstände durchzubringen und erfolgreich umzusetzen, winken dem Land bedeutend höhere Erlöse, die Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze, die Verfügung über die weltweit führende Technologie auf diesem Gebiet und nicht zuletzt eine strategische Kontrolle über die Ölförderung.

Im Bestreben, den Zugriff auf die Ölreserven und damit auch die Erlöse in Händen der Regierung zu zentralisieren, versucht diese, vier wichtige Gesetzesvorhaben im Kongreß beschließen zu lassen, bevor dieser im Juni oder Juli in die Ferien geht. Da im Laufe der kommenden Jahrzehnte vermutlich die Verteilung von Hunderten Milliarden Dollar auf dem Spiel stehen, versucht die Opposition, die Verabschiedung der Gesetze bis nach den Präsidentschaftswahlen im Oktober hinauszuzögern. Hingegen möchte der Präsident verhindern, daß diese Verteilungskämpfe die geplante Ölreform blockieren oder gar scheitern lassen.

Bislang erhält die brasilianische Regierung etwa ein Drittel der Erlöse aus der Ölproduktion, während der Löwenanteil von 50 Prozent an jene Bundesstaaten geht, auf deren Territorium das Öl gefördert wird, und der verbleibende Rest in Sozialprogramme fließt. Kürzlich haben nun die beiden Abgeordneten Ibsen Pinheiro und Humberto Souto, die aus Bundesstaaten ohne eigene Ölförderung stammen, einen Gesetzentwurf eingebracht, der eine gleichmäßige Verteilung der Gelder im ganzen Land vorsieht. In der unteren Kammer des Kongresses wurde der Entwurf bereits mit 369 gegen 72 Stimmen gebilligt. [1]

Luiz Inácio Lula da Silva, der seine Stabschefin Dilma Rousseff zur Wunschkandidatin bei den Präsidentschaftswahlen aufgebaut hat, muß in dieser brisanten Kontroverse behutsam zu Werke gehen, um die Wahlbürger nicht gegen die regierende Arbeiterpartei aufzubringen. Der Bundesstaat Rio de Janeiro und andere ölproduzierende Regionen laufen natürlich Sturm gegen das Gesetzesvorhaben, das ihre Einkünfte drastisch reduziert. Was aus Sicht der ärmsten Regionen des Landes ein Segen sein könnte, halten sie für ganz und gar unzumutbar. Inzwischen hat der Präsident angekündigt, daß er sein Veto gegen das Gesetz einlegen werde, sollte es auch vom Senat verabschiedet werden. [2]

Die Einkünfte des Bundesstaats Rio de Janeiro, vor dessen Küste fast 90 Prozent des brasilianischen Erdöls gefördert werden, würden bei Realisierung des Verteilungsmodells von bislang rund 4,3 Milliarden auf nur 134 Millionen Dollar jährlich schrumpfen, was natürlich verheerende Folgen für den Haushalt hätte. Gouverneur Sérgio Cabral hat sich daher an die Spitze des Protests gegen den Gesetzentwurf gestellt und diesen als verfassungswidrig bezeichnet. Vor allem aber droht er mit einer Gefährdung der Baumaßnahmen für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016, die beide in Rio stattfinden werden. Diese Prestigeprojekte sind nicht nur der Stolz der Metropole und des gleichnamigen Bundesstaats, sondern auch der Zentralregierung und nicht zuletzt Präsident da Silvas.

Cabral, der ein politischer Verbündeter Luiz Inácio Lula da Silvas ist, führte einen riesigen Protestzug in Rio de Janeiro an, dem sich trotz strömenden Regens etwa 150.000 aufgebrachte Bürger anschlossen, darunter zahlreiche Staatsbedienstete, die an diesem Tag nicht zur Arbeit gehen mußten und teilweise mit Bussen aus allen Teilen des Bundesstaats in die Stadt gebracht worden waren. Niemand habe das Recht, einem wegzunehmen, was einem die Natur gegeben hat, verkündete der Arbeitsminister von Rio de Janeiro, Carlos Lupi. Für Cabral bietet diese Kampagne über den aktuellen Anlaß hinaus die Gelegenheit, sich in der Arbeiterpartei als Kandidat für den Posten von Rousseffs Vizepräsident zu empfehlen. Deren voraussichtlich schärfster Konkurrent José Serra, derzeit Gouverneur von São Paulo, hielt sich zunächst in der aktuellen Kontroverse bedeckt, da sein Bundesstaat wesentlich weniger Öl als Rio produziert. Inzwischen hat sich Serra jedoch ebenfalls gegen den Gesetzentwurf ausgesprochen.

Obgleich die Fußballweltmeisterschaft 2014 bereits im Oktober 2007 nach Rio vergeben worden war, haben bislang in keinem der dafür vorgesehenen Stadien die erforderlichen Baumaßnahmen begonnen. Der Fußballweltverband hat diese zögerliche Herangehensweise erst vor kurzem moniert, da die Arenen ein volles Jahr vor der Weltmeisterschaft fertiggestellt sein müssen, damit der Confederations Cup als Generalprobe ausgetragen werden kann. Auch das Olympische Komitee Brasiliens hat seiner Besorgnis Ausdruck verliehen und dieser Tage erklärt, eine Reduzierung der Einkünfte aus dem Ölgeschäft werde die Ausführung der notwendigen Arbeiten für die Olympiade 2016 unmöglich machen. [3]

Der Energieminister im Kabinett da Silvas hat den Senat dringend ersucht, den Gesetzentwurf nicht in der vorliegenden Form zu billigen, die zu radikal sei. Mehrere Senatoren haben bereits angekündigt, sie wollten sich für Veränderungen in den Bestimmungen einsetzen. Nach dem voraussichtlichen Veto des Präsidenten stehen daher weitere Verhandlungen über die künftige Aufteilung der vermutlich sprunghaft steigenden Erlöse aus dem Ölgeschäft an. Unbedingt zu begrüßen ist die Absicht der Regierung, den Einfluß multinationaler Konzerne zu beschneiden und den Anteil Brasiliens an der Verwertung seiner eigenen Bodenschätze zu erhöhen. Überfällig ist zugleich eine Verteilung der Erlöse über das ganze Land, da die bereits erschlossenen Ölvorkommen ebenso wie die entdeckten Lagerstätten vor der Küste nach dem bislang geltenden Schlüssel vor allem Rio de Janeiro zugutekommen, während die meisten anderen Bundesstaaten mehr oder minder leer ausgehen.

Anmerkungen:

[1] Rio de Janeiro Is in Fight Over Brazil‹s Oil Riches (17.03.10)
New York Times

[2] Streit um Öleinnahmen: Zehntausende demonstrieren in Rio de Janeiro (19.03.10)
junge Welt

[3] Rio protests: Sharing Brazil's oil revenues will hurt 2016 Olympics (17.03.10)
Christian Science Monitor

20. März 2010