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LATEINAMERIKA/2467: Cristina Kirchners Wiederwahl so gut wie sicher (SB)


Triumph bei den Vorwahlen - Anleihe an den Mythos Evita Perón


Der 10. Dezember 2007 ging als historisches Datum in die Geschichte Argentiniens ein. An diesem Tag trat mit Cristina Fernández de Kirchner erstmals eine gewählte Präsidentin ihr Amt an und setzte in direkter Nachfolge Néstor Kirchners die Machtübergabe im Rahmen einer Familiendynastie fort. Der scheidende Staatschef, der seit 2003 an der Spitze des südamerikanischen Landes gestanden hatte, war so populär, daß vermutlich ohne nennenswertes Ansehen der Person gewählt worden wäre, wen immer er als seinen Wunschkandidaten präsentiert hätte. Daß es sich ausgerechnet um seine Ehefrau handelte, bestärkte die gut 27 Millionen registrierten Urnengänger, für die Wahlpflicht bestand, um so mehr in der Überzeugung, daß damit der Kurs Bestand haben werde, den man als ungebrochenen Aufschwung nach der tiefen Wirtschaftskrise erlebt hatte. Cristina Fernández de Kirchner hatte sich gleich im ersten Wahlgang mit knapp 45 Prozent der Stimmen durchgesetzt, da ihre schärfste Rivalin Elisa Carrió mit 23 Prozent weit abgeschlagen zurücklag.

Nun hat Cristina Kirchner bei Vorwahlen für die Präsidentenwahl am 23. Oktober einen überzeugenden Sieg davongetragen. Auf sie entfielen rund 50 Prozent der Stimmen, während Ricardo Alfonsín, der Sohn des ehemaligen Präsidenten Raúl Alfonsín von der sozialdemokratischen Radikalen Bürgerunion, nur knapp 13 Prozent auf sich vereinen konnte. Expräsident Eduardo Duhalde, der wie die Präsidentin der Peronistischen Partei angehört, jedoch einen anderen Flügel vertritt, kam auf 12 Prozent. Bei den erstmals abgehaltenen Vorwahlen schieden Kandidaten aus, die weniger als 1,5 Prozent der Stimmen erhielten. Da die meisten Parteien nur einen Kandidaten ins Rennen schickten und die Teilnahme für alle wahlberechtigten Bürger obligatorisch war, gilt die Vorwahl als wichtiger Stimmungstest für den Urnengang im Oktober. [1]

Damit dürfte die Wiederwahl Cristina Kirchners, die eine Mitte-Links-Fraktion der Peronisten anführt, so gut wie sicher sein. Im Verlauf des erbitterten Machtkampfs mit den einflußreichen Agrarproduzenten um die Verteilung der Erlöse im Jahr 2008 war ihre Zustimmungsrate unter 30 Prozent gesunken. Seither hat jedoch ein stabiles Wirtschaftswachstum die Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze, Lohnerhöhungen und den Ausbau der Sozialleistungen möglich gemacht. Im Kontrast zur weltweiten Wirtschaftskrise war dies ein so bemerkenswerter Erfolg, daß die Popularität der Staatschefin deutlich stieg. [2] Das mutmaßliche Vorhaben der Kirchners, einander auch künftig im Präsidentenamt abzuwechseln, wurde vom Tod Néstor Kirchners durchkreuzt, der im vergangenen Oktober im Alter von 60 Jahren überraschend einem Herzinfarkt erlag. Seine 58jährige Ehefrau Cristina, die mit ihm zwei Kinder hat, erfuhr seither eine Welle von Sympathie in der Bevölkerung, die nun auch im Ergebnis der Vorwahl ihren deutlichen Niederschlag fand.

Cristina Kirchner hat die linksbürgerliche Wirtschafts- und Sozialpolitik ihres verstorbenen Ehemanns erfolgreich fortgesetzt. Der relativ niedrige Wechselkurs des Peso unterstützt die Konkurrenzfähigkeit der vor allem auf Agrarerzeugnisse ausgerichteten Exporte, während zugleich Subventionen für Lebensmittel und Kraftstoffe die Kaufkraft der Bevölkerung fördern, so daß die hohe Inflationsrate kompensiert wird. Kritik aus Wirtschaftskreisen und seitens konservativer Fraktionen der Peronisten, die Anstoß an der tendentiellen Umverteilung der Einkünfte zugunsten sozialer Leistungen nehmen, haben zwar ihren Ausdruck in mehreren Siegen gegnerischer Kandidaten bei Wahlen auf lokaler Ebene gefunden, die insgesamt zersplitterte Opposition jedoch nicht geeint. [3]

In jüngerer Zeit hat Cristina Kirchner ihren oftmals konfrontativen Ton gemäßigt und damit unabhängige Wähler eingebunden. Während sie sich mit einer Hausmacht aus der nachrückenden Parteijugend umgibt, die ihre Sozialpolitik unterstützt, verändert sie ihr Bild in der Öffentlichkeit hin zu einer Staatsführerin, die - wer wollte es ihr verdenken - Anleihen bei der historischen Säulenheiligen der argentinischen Geschichte nimmt. Vor wenigen Wochen enthüllte sie ein zehn Stockwerke hohes Portrait Evita Peróns aus geschmiedetem Stahl an der Seitenfront eines Regierungsgebäudes und erwies damit einer der wirkmächtigsten Mythen des Landes ihre Referenz. Das Symbol Evitas möge für die Einheit aller Argentinier stehen, verkündete die Präsidentin, die sich in ihren Reden des öfteren auf das Vermächtnis dieses Vorbilds beruft, das gleichsam als bodenständiger Volksglauben weiterlebt.

Am 26. Juli 1952 starb María Eva Duarte de Perón im Alter von nur 33 Jahren an Krebs. Als die Nachricht in den Abendstunden des kalten Wintertages bekannt wurde, glich Buenos Aires, sonst eine der lebhaftesten Metropolen der Welt, einer Geisterstadt. Wochenlang defilierten weinende und klagende Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters an dem Sarg vorbei, in dem "Santa Evita", engelsgleich aufgebahrt, noch im Tode Propaganda blieb und endgültig zum Mythos wurde. Wie Präsident Juan Perón voller Pathos erklärte, kenne die Welt nur drei wirklich bewundernswerte Frauengestalten: die Heilige Jungfrau Maria, die Jungfrau von Orleans und Evita. Wie es in dem Bulletin weiter hieß, sei die geistige Führerin der Nation gerade in die Unsterblichkeit übergegangen. Die Staatstrauer fand in der vorläufigen Beisetzung zwei Wochen später, die Millionen Argentinier verfolgten, ihren beispiellosen Höhepunkt.

Auf die Frage, wer Evita Perón gewesen und wofür sie eingetreten sei, wird es wohl nie eine einhellige und abschließende Antwort geben. Ob als "Botin der Hoffnung", die als strahlende Erscheinung auf den Plakaten der Peronisten für die Armen und Unterdrückten Zuspruch und Hilfe verkörperte, oder als "Frau mit der Peitsche", die nach Auffassung der Kritiker skrupellos ein Regime der Geltungssucht und Machtgier errichtete, wird sie so zwiespältig dargestellt, daß selbst Andrew Lloyd Webber mit seinem Musical, das Evita zum Popstar machte, die allzeit latente Kontroverse nicht in einer schmalzigen Gefühlssoße ertränken konnte.

Es ist vielfach behauptet worden, daß Juan Peróns Stern in dem Augenblick zu sinken begann, als Evita durch den frühen Tod von seiner Seite gerissen wurde. Wenngleich diese These eine gehörige Portion mystischer Deutung transportiert, steht doch fest, daß María Eva Duarte eine dominierende Rolle in seinem Leben und den damaligen Ereignissen in Argentinien gespielt hat. Sie stammte als uneheliche Tochter vom Lande aus einfachsten Verhältnissen und machte aus ihrer Abneigung gegen die herrschenden Klassen nie einen Hehl. In den Armenvierteln liebte man Evita, die es von der Gelegenheitsschauspielerin bis zur Präsidentengattin und Fürsprecherin der Massen gebracht hatte, während die alten Eliten die blonde Aufsteigerin als vulgär und demagogisch verachteten. Wenngleich sie gerne Pelzmäntel und Juwelen trug, verehrten die "Descamisados" ("Hemdlosen") sie wie eine Heilige, und noch heute findet man vielerorts im Land Altäre für "Santa Evita".

Den Namen "Evita" ("Evchen") hatten ihr die Gegner gegeben, um sie als zweifelhafte Geliebte lächerlich zu machen. Dies sollte sich als verheerendes Eigentor erweisen, wozu allerdings das außerordentliche Talent Evita Peróns, Bescheidenheit mit Pathos in überaus emotionalen und zugleich aufrüttelnden Bekenntnissen zu verschmelzen, maßgeblich beitrug:

"Ja, nennt mich Evita, meine Brüder und Schwestern", rief sie aus, ihre Arme pathetisch erhebend und mit vor Leidenschaft erstickter, aber doch deutlich hörbarer Stimme, "meine geliebten Descamisados, nichts weiter will ich sein als die Evita aus dem Volke für das Volk, die Bescheidenste und Geringste aller Peronisten!" Dann fügte die fromme und von der Kirche unterstützte Katholikin hinzu: "Der General arbeitet von früh bis spät. Die Sorge um euch, meine Descamisados, läßt ihn nicht schlafen. Er bittet mich, euch seine ganze Liebe darzubringen. Jedem von euch seine herzliche Umarmung!"

Mit solchen Reden, bei denen die Menge nicht selten in Ekstase geriet, tauchte sie den "Justicialismo" der Peronisten, der staatlich durchgesetztes gleiches Recht für alle bis in die entferntesten Winkel des Landes in Aussicht stellte, in einen Schein von Mystik, für die das einfache Volk überaus empfänglich war.

"Ich bin", so schrieb sie in ihren in Millionenauflage erschienenen Memoiren, "nur eine einfache Frau, ein Spatz, verloren in einer riesigen Wolke von Spatzen. Er (Perón) ist der Condor, der hoch und fern über den Gipfeln segelt, nahe bei Gott. Wenn er mich nicht gelehrt hätte, wie ein Condor zu fliegen, hätte ich niemals die wunderbare Unermeßlichkeit meines Volkes überschauen können."

Allerdings hat es dieser "verlorene Spatz" durchaus verstanden, den dirigierenden "Condor" in vieler Hinsicht zu kontrollieren und zu leiten, wie auch sich selbst eine bemerkenswerte Machtfülle zu sichern. Sie war Aktionärin verschiedener Großbetriebe und Besitzerin etlicher Zeitungen, übte als Beherrscherin des Sekretariats für Arbeit und soziale Wohlfahrt eine Art unumschränkter Diktatur über die Gewerkschaften aus, deren Führer ihr blind ergeben sein mußten und keinerlei Widerspruch wagen durften. Die Einführung des Frauenstimmrechts machte sie zur "Bannerträgerin der Frau", durch ein "Sozialwerk", das ihren Namen trug, wurde sie zum "Hort und Schild" der Armen und Unterdrückten. Dieses Hilfswerk wurde aus Sondersteuern sowie Beiträgen von Unternehmern und Arbeitern finanziert und schuf zahlreiche Einrichtungen wie Krankenhäuser, moderne Arbeiterwohnungen, Kindergärten, Kinderspielplätze, Mütter- und Säuglingsheime, Sportplätze, Parks und Erholungsstätten. Nie zuvor wurde die Jugend Argentiniens in solchem Maßstab gefördert und gewonnen, wobei man auch den Armen fremder Länder großzügig half.

Das Phänomen Evita Perón läßt sich keinesfalls auf eine von übersteigertem Ehrgeiz geleitete Person reduzieren, die ihre Talente darauf verwendete, sich selbst ungeheuren Einfluß und der Propaganda der Peronisten durchschlagenden Erfolg zu verschaffen. Wenngleich unzählige Mythen um ihr Leben und Sterben im Laufe der Jahrzehnte einen Kult hervorgebracht haben, der bisweilen an Elvis in Graceland erinnert, bleibt Eva Perón zugleich eine machtvolle Gestalt in der Überlieferung des Volkes, deren Tragweite kaum auszuloten ist. Als die Putschisten 1955 die Herrschaft Juan Peróns beendet hatten, entführten sie die einbalsamierte Leiche seiner verstorbenen Frau und versteckten sie jahrelang auf einem Mailänder Friedhof, wohl um das wichtigste Symbol einer möglichen Restauration des Peronismus aus der Reichweite zu halten. Perón selbst brachte sie 1973 kurz vor seinem Tod im Zuge seiner Rückkehr als Präsident wieder nach Buenos Aires, wo sie noch immer ruht und von Pilgern besucht wird.

Argentinien hatte in der Vergangenheit schon einmal eine Präsidentin, die allerdings nicht in ihr Amt gewählt worden war. María Estela Martínez de Perón, bekannt als Isabelita, die mit Juan Domingo Perón in dessen dritter Ehe verheiratet war, bekleidete das Amt der Vizepräsidentin, als er 1974 starb. Sie übernahm die Staatsführung und wurde nach 20 chaotischen Monaten durch einen erneuten Militärputsch gestürzt.

Man hat Juan Perón einen Putschisten, Demagogen, Faschisten und Diktator genannt, dessen Wohltaten für das Volk vor allem der Propaganda und Stärkung der eigenen Machtfülle gedient hätten. Wenngleich die autokratischen und patriarchalischen Züge der peronistischen Herrschaft unübersehbar sind, sollte man darüber doch nicht vergessen, daß Perón zumindest in der Phase seines politischen Aufstiegs Positionen vertrat, die man noch heute bahnbrechend für Lateinamerika nennen muß, zumal viele der damaligen Errungenschaften und Vorhaben zunichte gemacht wurden und lange in Vergessenheit gerieten.

Perón machte sich einen Namen als Beschützer der Armen, da unter seinem Einfluß die Löhne der Landarbeiter stiegen, Obdachlose ein verbrieftes Recht auf eine menschenwürdige Behausung bekamen, die Arbeiter Mindestlöhne und bezahlten Urlaub erhielten. Die Pächter durften ihr Land mindestens acht Jahre bestellen, wobei die Pacht bei Mißernte erlassen und Eigenleistungen angerechnet wurden. Staatliche Kontrolleure sorgten überall im Land für Proklamation und insbesondere Wahrung der Menschenrechte. Zugleich rief Perón alle Länder Lateinamerikas zu einer eigenständigen Entwicklung unter Führung Argentiniens auf, wobei er sich scharf gegen die Vereinigten Staaten wandte und deren Hegemonialstreben verurteilte.

Da Argentinien damals noch ein reiches Land war, das die Europäer in der Nachkriegszeit mit Lebensmittelhilfe bedachte und neben der blühenden Landwirtschaft auch die Industrialisierung enorm vorantrieb, hätte das Land durchaus eine beispiellose Vorreiterrolle in der gesellschaftlichen Umgestaltung wie auch im Kampf gegen den Neokolonialismus übernehmen können. Man könnte die Phase grausamer Militärdiktaturen, die dem ursprünglichen Peronismus in Argentinien ein Ende machten und zahlreiche weitere Länder Lateinamerikas einem blutigen Zwangsregime unterwarfen, nicht zuletzt als Antwort der Hegemonialmacht auf die drohende Dynamik dieses Massenphänomens auffassen.

Fußnoten:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/argentienien_kirchner_vorwahl_1.11913331.html

[2] http://www.nytimes.cohm/2011/08/15/world/americas/15argentina.html

[3] http://www.nytimes.com/2011/08/14/world/americas/14argentina.html

16. August 2011