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MEDIEN/435: Videoenthüllung belastet US-Militär im Irak schwer (SB)


Videoenthüllung belastet US-Militär im Irak schwer

Wikileaks bringt das Pentagon in Bedrängnis


Am 4. April sahen sich Vertreter der NATO dazu gezwungen, endlich zuzugeben, daß Spezialkräfte der USA bei einer nächtlichen Razzia am 12. Februar im Dorf Khataba nahe der Stadt Gardes in der ostafghanischen Provinz Paktia fünf Zivilisten, darunter zwei schwangere Mütter und eine Jugendliche, versehentlich erschossen haben. Ursprünglich hatte die NATO behauptet, die beiden getöteten Männer, ein Polizeikommandeur und sein Bruder, ein Anwalt, seien Taliban-Anhänger gewesen, welche die drei Frauen bereits Stunden vor dem Eintreffen der US-Streitkräfte ermordet hätten. Der ISAF-Oberbefehlshaber, der US-General Stanley McChrystal, gab sogar eine Presseerklärung heraus, in der es hieß, die Leichen der Frauen habe man in einem Haus gefesselt und geknebelt vorgefunden. Durch gründliche Recherche hat Jerome Starkey von der Zeitung Sunday Times die Behauptungen der NATO widerlegt. Er fand heraus, daß in der fraglichen Nacht im Dorf kein konspiratives Taliban-Treffen, sondern eine Geburtstagfeier stattfand, und daß die US-Spezialkräfte, nachdem sie ihren Fehler bemerkt hatten, alles unternommen haben, um die Umstände des Vorfalls zu kaschieren. Dazu gehörte die Entfernung der Kugeln aus den Leichen ihrer weiblichen Opfer und die Säuberung der Eintrittswunden mit Alkohol, um Spuren zu verwischen und die Arbeit der Obduktionsmediziner zu erschweren.

Am 5. April suchte die nächste PR-Katastrophe das Pentagon heim, als das Enthüllungsportal Wikileaks unter dem Namen "Collateral Murder" eine fast 18minütige Videodokumentation veröffentlichte, die den Angriff einer US-Apache-Hubschrauberbesatzung am 12. Juli 2007 auf einer Gruppe Männer in einem südöstlichen Viertel von Bagdad zeigt. Bei dem Angriff waren zwölf Personen, darunter der 22jährige Fotograf Namir Noor-Eldeen und sein Fahrer, der 40jährige Saeed Chmagh, die beide für die Nachrichtenagentur Reuters arbeiteten, ums Leben gekommen. Am selben Abend hatte das US-Militär in der irakischen Hauptstadt behauptet, bei einem Feuergefecht, in dessen Verlauf auf den Hubschrauber von Boden aus mit AK-47-Gewehren und Panzerfäusten geschossen worden wäre, hätte die Apache-Besatzung das Feuer erwidert und dabei neun Aufständische und zwei Zivilisten getötet. Am 13. Juli 2007 zitierte die New York Times Oberstleutnant Scott Bleichwehl, damals Sprecher des US-Militärs in Bagdad, mit den Worten: "Es steht außer Frage, daß sich Koalitionskräfte klar in Kampfhandlungen mit einer feindlichen Gruppe befanden." Das Video von Wikileaks demontiert diese Version der Ereignisse gründlich.

Seit drei Jahren versucht Reuters vergeblich, unter Berufung auf das amerikanische Informationsfreiheitsgesetz eine Freigabe der relevanten Videoaufnahmen des US-Militärs zu erwirken. Vor kurzem hat Wikileaks das Material von einer Quelle im US-Verteidigungsministerium zugespielt bekommen, und nun, nach leichter Überarbeitung wie das Hinzufügen von vereinzelten Nahaufnahmen, von Pfeilen, um Noor-Eldeen und Chmagh in der Menschenmenge zu identifizieren, sowie von Untertiteln, damit man das laufende Funkgespräch der Apache-Besatzung untereinander sowie mit der Flugleitzentrale am Boden besser versteht, ins Netz gestellt.

Damals im Sommer 2007 kam es in Bagdad, vor allem in den armen schiitischen Vierteln, fast täglich zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen der sogenannten Madhi-Armee des Geistlichen Moktada Al Sadr und den US-Streitkräften. Am Vormittag des 12. Juli soll es bei einer Razzia im Stadtteil Amin zu einem solchen Schußwechsel gekommen sein. Noor-Eldeen und Chmagh, die in der Nähe für einen Bericht über Gewichtheben recherchierten, eilten zum Ort der Auseinandersetzung. Das Video von Wikileaks beginnt dort, wo die beiden Reporter aus ihrem Auto steigen und auf eine Gruppe ortsansässiger Männer treffen, die sie die Straße entlang zu einem Gebäude an der Ecke eines offenen Platzes führen.

Am Rande der Straße, links im Bild, stehen zwei junge Männer, die in den Händen jeweils ein AK-47-Maschinengewehr tragen. Die Waffen sind nach unten gerichtet und scheinen lediglich dem Selbstschutz zu dienen. Nichtsdestotrotz sind die US-Soldaten im Hubschrauber in heller Aufregung. Sie meinen, eine Gruppe Aufständischer vor sich zu haben. Sie haben die beiden Männer mit den Maschinengewehren gesehen, und nehmen einfach an, daß das, was Noor-Eldeen und Chmagh unter ihren Armen tragen, Panzerfäuste sind. Die Hubschschrauberbesatzung wendet sich an das Oberkommando mit der Bitte um Erlaubnis, das Feuer auf die Gruppe zu eröffnen - und erhält sie.

An der Ecke des Platzes angekommen, positioniert sich derweil Noor-Eldeen hinter dem Eckhaus. Umgeben von sieben bis acht unbewaffneten Männern geht er in die Hocke und beugt sich dann leicht vor, um aus der Deckung des Mauerwerks heraus die Straße hinunter Aufnahmen von etwas zu machen, das außerhalb des Bilds der Bordkamera des Hubschraubers liegt und bei dem es sich vermutlich um die Operation der US-Bodentruppen im Viertel handelt. Diese Bewegung Noor-Eldeens wird sofort von der Hubschrauberbesatzung als beabsichtigter Angriff mit einer Panzerfaust gedeutet. Für sie gibt es ab diesem Moment praktisch kein Halten mehr. Sobald sie den Häuserblock umflogen haben, eröffnen sie mit ihrer 30mm-Bordkanone das Feuer auf die ahnungslose Gruppe und mähen sie nieder. Im Funkgespräch gratuliert man sich gegenseitig wegen des "good shooting".

Eine Person, Chmagh, ist jedoch nicht getroffen und versucht zu fliehen. Im vollen Laufe wird er mit mehreren Schüssen zur Strecke gebracht. Offenbar nicht tot, aber doch schwer verletzt, versucht der Reutersmann sich mit den Händen über den Boden zu ziehen, um sich irgendwo in Deckung zu bringen. Über das Bordmikrofon kann man hören, wie ein Mitglied der Hubschrauberbesatzung ihn darum bittet, eine Waffe zu zeigen, damit es ihn endlich abknallen kann. Dies geschieht aber nicht. Es passiert Schlimmeres. Nach wenigen Minuten hält ein Minivan neben Chmagh an. Die Insassen steigen aus, um ihm zu helfen und ihn vermutlich ins Krankenhaus zu bringen. Bei dem Fahrer des Wagens soll es sich um einen Mann gehandelt haben, der, von zwei Freunden begleitet, seine beiden Töchter zum Nachhilfeunterricht fuhr. Die Apache-Besatzung bittet erneut um Schießerlaubnis, um die Bergung des vermeintlichen Aufständischen zu verhindern, erhält sie, und schießt daraufhin den Minivan kurz und klein.

Kurz danach treffen US-Bodenstreitkräfte ein. Ein am Boden liegender Mann wird von einem Panzerfahrzeug überfahren, was im Hubschrauber für große Heiterkeit sorgt. Als die Apache-Besatzung kurz danach erfährt, daß sich zwei Kinder im Kleintransporter befanden, die nun verletzt sind und die die US-Soldaten am Boden so schnell wie möglich ins Krankenhaus befördern wollen, kommentiert einer der Fliegerhelden, "sie" - die Iraker, die Aufständischen, Hadschis - hätten "selbst schuld", sie hätten nicht "ihre eigenen Kindern in die Schlacht mitnehmen" dürfen.

In einer ersten Reaktion auf die Wikileaks-Enthüllung veröffentlichte das Pentagon einen bisher vertraulichen Teil des Untersuchungsberichtes zum Vorfall. Demnach enthält der Bericht Aufnahmen von Machinengewehren und Granaten, welche die US-Soldaten vor Ort in der unmittelbaren Nähe der Getöteten gefunden haben sollen. Darüber hinaus machte man die beiden Reuters-Reporter für ihren Tod selbst verantwortlich, weil diese angeblich "keinen Versuch unternommen" hätten, "ihren Status als Presse oder Medienvertreter sichtbar zu machen". "... ihr vertrauter Umgang mit und ihre große Nähe zu bewaffneten Aufständischen und ihre heimlichen Bemühungen, Bilder von den Koalitionsstreitkräften zu machen, ließen sie aus Sicht der Apache-Hubschrauber, die sie angegriffen haben, als feindliche Kämpfer erscheinen", so das US-Militär, das den Fall natürlich nicht neu aufrollen will.

6. April 2010