Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

MILITÄR/813: Raketenabwehrpläne Obamas genauso abwegig wie Bushs (SB)


Raketenabwehrpläne Obamas genauso abwegig wie Bushs

Lewis und Postol werfen Raketenabwehrbefürwortern Betrug vor


Entgegen seiner früheren skeptischen Äußerungen hält Präsident Barack Obama seit dem Einzug ins Weiße Haus vor einem Jahr genauso wie seine Amtsvorgänger George W. Bush, Bill Clinton, George Bush sen. und Ronald Reagan am Traum eines Raketenabwehrsystems fest, das das Territorium der USA, die mehr als 700 amerikanischen Militärstützpunkte im Ausland und eventuell das Staatsgebiet der NATO-Verbündeten sowie Israels, Japans und Südkoreas vor Angriffen mit feindlichen ballistischen Raketen schützt. Daß es bei dem Vorhaben trotz der jüngsten, von der Obama-Regierung vorgenommenen Rekonfiguration des Systems, die vor allem in Osteuropa zur Entspannung im Verhältnis der USA zu Rußland geführt hat, nach wie vor bei einem Wunschtraum bleibt und auf absehbare Zeit bleiben wird, stellen die beiden Wissenschaftler George N. Lewis und Theodore A. Postol in einem vor wenigen Tagen auf der Website der in Washington ansässigen Abrüstungsorganisation Arms Control Association erschienenen Bericht eindeutig fest.

Mit ihrer schwer widerlegbaren, hochkritischen Analyse haben Lewis und Postol das Weiße Haus, die im Pentagon ansässige Missile Defence Agency (MDA) und die am milliardenschweren Programm beteiligten US-Rüstungsunternehmen in Verlegenheit gebracht. Dies zeigen die Reaktionen auf den Bericht wie der am 18. Mai in der New York Times unter der überschrift "Review Cites Flaws in U.S. Antimissile Program" erschiene, um Schadensbegrenzung bemühte Artikel aus der Feder von William J. Broad und David E. Sanger. Nichtsdestotrotz sind die Interessen an der Fortsetzung des Programms so massiv, daß ein Abweichen vom eingeschlagenen Holzweg nicht zu erwarten ist. Für diese These spricht zum Beispiel die Entscheidung des zuständigen Unterausschusses des Repräsentantenhauses in Washington vom 12. Mai, gegen den erklärten Willen von Obama und Verteidigungsminister Robert Gates den vom Pentagon beantragten Etat für das Raketenabwehrprogramm im Jahre 2011 von 9,9 auf 10,3 Milliarden Dollar doch noch zu erhöhen.

Ungeachtet der Ermahnungen von Gates, daß Einsparungen bei den großen Rüstungsprojekten dringend erforderlich seien, um Amerikas Soldaten, die ihr Leben im Irak und in Afghanistan riskieren, angemessen ausstatten zu können, haben die Demokraten und Republikaner im House Armed Services Strategic Forces Subcommittee die Ausgaben für "Wunderwaffen" wie die fliegende Laserkanone um 361,6 Millionen Dollar erhöht. In einem entsprechenden Artikel der Online-Zeitschrift Defense News vom 13. Mai wurde das republikanische Ausschußmitglied Michael Turner aus Ohio dahingehend zitiert, daß man aus "parteiübergreifender Sorge", daß im geplanten Wehretat der Obama-Regierung für 2011 von 708,3 Milliarden Dollar das Raketenabwehrsystem nicht ausreichend berücksichtigt worden sei, für eine merkliche Aufstockung der dafür vorgesehenen Gelder entschieden habe.

Turner, in dessen Wahlkreis der gigantische US-Lüftwaffenstützpunkt Wright-Patterson liegt, gilt als einer von vielen Wasserträgern des militärisch-industriellen Komplexes auf dem Kapitol. Bei der von ihm erwähnten "Sorge" geht es offenbar weniger darum, daß Washington für das bis heute nicht funktionierende Raketenabwehrsystem Steuergelder in astronomischer Höhe zum Fenster hinauswirft, als daß seine Freunde in der US-Rüstungsindustrie, die vermutlich ihm seine Wahlkämpfe finanzieren und ihm nach dem Ende der politischen Karriere mit irgendeinem einträglichen Vorstandsposten belohnen werden, weiterhin die von ihnen erwünschten Zuwendungen aus dem Staatshaushalt bekommen. Nur so läßt sich der Widerspruch zwischen dem, was sich die politische Klasse vom Raketenabwehrprojekt - jedenfalls nach außen hin - verspricht, und dem, was das System bisher tatsächlich geleistet hat, nämlich eine endlose Kette gescheiterter Tests, unterbrochen von gelegentlichen Erfolgsmeldungen aufgrund von irgendwelchen gemauschelten Versuchsanordnungen, erklären.

Der höchst empfehlenswerte, auch für Laien verständlich geschriebene Bericht "A Flawed and Dangerous U.S. Missile Defense Plan" [1] von Lewis und Postol ist jedenfalls vernichtend - und daß nicht nur in Bezug auf die see- bzw. landgestützte Standard Missile 3, auch SM-3 genannt, die Hauptsäule des von der Obama-Administration rekonfigurierten Raketenabwehrsystems, sondern auch in Bezug auf das ganze Vorhaben. Im bereits erwähnten NYT-Artikel ignorieren Broad und Sanger diese Tatsache und heben lediglich hervor, daß Lewis und Postol bei ihrer Überprüfung der vorliegenden Daten herausgefunden haben, daß der größte Teil der von der MDA reklamierten Erfolge beim Test der SM-3 keine waren; statt den verhältnismäßig kleinen Sprengkopf zu treffen - und zu vernichten -, hätte die Abfangrakete lediglich den Rumpf der weit größeren Trägerrakete durchbohrt. Solche Treffer als Erfolg zu verbuchen, sei ein Betrug, so Lewis und Postol, da im Ernstfall der eventuell atomare Sprengkopf keineswegs aufgehalten würde, sondern mit nur geringer Veränderung seiner Flugbahn in die Nähe des vorgesehenen Ziels einschlüge.

Nach Angaben der beiden Physiker - Lewis ist Stellvertretender Direktor des Peace Studies Program an der Cornell University, während Postol einst wissenschaftlicher Berater des Operationschefs der US-Marine war und heute als Professor für Wissenschaft, Technologie und nationale Sicherheit am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrt - besteht die größte Schwachstelle im Raketenabwehrsystem in der Unfähigkeit, billige Abwehrmaßnahme der gegnerischen Seite zu überwinden. Ihnen zufolge läßt sich weder mit den Kameras, die auf Militärsatelliten montiert sind, noch mit den am Boden oder auf Schiffen stationierten X-Band-Radaren - mit beiden Systemen soll der Flug der feindlichen Rakete verfolgt werden und die Abfangrakete an sie herangeführt werden - noch mit den Hitzesensoren des Kill Vehicles, das zum Schluß von der Abfangrakete abgesetzt wird und mit eigener Energie in das gegnerische Projektil rasen und es vernichten soll, zwischen dem eigentlichen Sprengkopf und anderen Objekten in dessen Nähe ein Unterschied ausmachen. Hieß es früher, das Raketenabwehrsystem wäre mit Attrappen in Form von Ballons zu überlisten, so schreiben Lewis und Postol, daß mehrere Dutzend sechzig Zentimeter lange Stücke Metalldraht vollkommen genügen würde. Nach der Aussetzung im All erschienen sie und der Sprengkopf allesamt als gleichgroße Lichtpunkte. Den richtigen zu Treffen käme einem Lotteriespiel gleich.

Vor diesem Hintergrund nennen Lewis und Postol das Raketenabwehrsystem einen "durchsichtigen Bluff", der keinen Gegner wirklich beeindrucke und der lediglich den internationalen Rüstungswettlauf antreibe und damit dem erklärten Ziel der Obama-Regierung, nämlich der Bekämpfung der Verbreitung von Atomwaffen- und Raketentechnologie, zuwiderlaufe. Doch daß der Bericht der beiden Experten zu einem Umdenken im Weißen Haus, Pentagon, Kongreß oder bei den vom Projekt profitierenden Firmen führen wird, ist nicht zu erwarten. Bereits während der Ära Bill Clintons hat Postol für einen heftigen Skandal gesorgt, als er schwerwiegende Fälschungen der Testdaten der Sensoren der Abfangraketen durch die Firma TRW und seinen eigenen Arbeitgeber MIT aufdeckte. Trotz anfänglicher Dementis der Beschuldigten bestätigte später das Government Accountability Office (GAO) des Kongresses die Festellungen Postols. Geändert hat diese Affäre an der Gesamtsituation nichts. Im Sommer 2004, mitten im Wahlkampf um die Präsidentschaft, ließen Bush jun. und sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die ersten Abfangraketen in Fort Greely, Alaska, sozusagen als Schutz vor einem möglichen Angriff aus Nordkorea stationieren. Im letzten Sommer führte die Obama-Regierung eine ähnliche Charade durch, als unmittelbar vor dem Test einer nordkoreanischen Interkontinentalrakete Rumsfelds Nachfolger Gates demonstrativ auf Hawaii eine mobile Raketenabwehrbatterie samt Radarstation aufstellen ließ.

19. Mai 2010

Fußnote:

1. http://www.armscontrol.org/act/2010_05/Lewis-Postol