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MILITÄR/856: Moskau droht NATO-Raketenabwehrsystem mit Erstschlag (SB)


Moskau droht NATO-Raketenabwehrsystem mit Erstschlag

John McCain führt sich als selbstgerechter Verbalrambo in Moskau auf



Ungeachtet aller technischen Unzulänglichkeiten hält die NATO an der für das Gipfeltreffen der nordatlantischen Allianz in diesem Monat in Chicago geplanten Verkündung der Inbetriebnahme der ersten Phase ihres Raketenabwehrsystems für Europa fest. Dies gab am 30. April NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im Interview mit der Nachrichtenagentur Associated Press bekannt. Angesprochen auf kritische Berichte des Defense Science Board des Pentagons und des Government Accountability Office des Kongresses behauptete der ehemalige dänische Premierminister diese nicht gelesen zu haben. Das System sei getestet worden und funktioniere, für technische Fragen seien die USA zuständig, so die wenig überzeugende Antwort des in Verlegenheit gebrachten Politikers.

In Rußland ist man über die Pläne der NATO bekanntlich alles andere als glücklich. Dies wurde auf einer großen Konferenz, die am 3. und 4. Mai in Moskau unter dem Titel "Missile Defense Factor in Establishing A New Security Environment" stattfand, deutlich. An der Konferenz nahmen mehr als 200 Militärs und Experten aus über 50 Ländern, darunter aus den 28 NATO-Mitgliedsstaaten, China, Japan, Südkorea und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), teil. In Moskau glaubt man nicht, daß sich das Raketenabwehrsystem der USA und deren NATO-Verbündeten gegen den Iran und Nordkorea richtet, denn weder Teheran noch Pjöngjang verfügt über atomwaffenfähige Interkontinentalraketen. Vielmehr sieht die Kreml-Führung in dem System eine potentielle Bedrohung der eigenen Zweitschlagskapazität und ein Mittel, mit dem Washington seine globale Führung auf ewig festigen will.

Um den jahrelangen Streit zu entschärfen hat die russische Seite zwei brauchbare Vorschläge gemacht: Entweder richten die NATO und Rußland ein gemeinsames Raketenabwehrsystem ein oder Washington gibt Moskau eine schriftliche Garantie, daß das System niemals verwendet wird, um mit einem Erstschlag die russischen Atomstreitkräfte auszuschalten. Die Weigerung Washingtons, auch nur eine der beiden Kompromißmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, gilt aus Sicht der Russen als Bestätigung für die aggressiven Absichten der Amerikaner und die These, daß es sich beim Raketenabwehrsystem des Pentagons um keine Defensiv-, sondern um eine Offensivwaffe handelt. Folglich hielten sich die Vertreter Rußlands auf der Moskauer Konferenz über ballistische Raketenabwehrsysteme mit deutlichen Worten nicht zurück. Auch der von den Gastgebern als Geste des guten Willens organisierte Besuch aller Konferenzteilnehmer beim Raketenabwehrverband Sofrino - eine Hinterlassenchaft des ABM-Vertrages von 1972, in dem sich die USA und die Sowjetunion gegenseitig eine Schutzvorrichtung für die jeweilige Hauptstadt zubilligten - konnte die frostige Atmosphäre nicht verbannen.

Am 4. April erklärte der russische Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, die Verhandlungen mit den USA befänden sich "praktisch fast in einer Sackgasse". Ebenfalls am ersten Tag der Konferenz richtete der Generalstabschef der russischen Streitkräfte, Nikolai Makarow, eine sehr ernste Warnung an die Adresse der NATO: "Bedenkt man die destabilisierende Natur des Raketenabwehrsystems, das heißt die Erzeugung der Illusion, daß ein vernichtender [Erst-]Schlag ungestraft gestartet werden kann, wird eine Entscheidung über den präemptiven Einsatz von [russischen] Angriffswaffen getroffen werden, sollte sich die Situation verschlechtern." Weltweit machte Makarows Drohung eines russischen Erstschlags Schlagzeilen, weshalb am Ende der Konferenz am 5.‍ ‍April die anwesenden Vertreter der Regierung Barack Obamas um gute Stimmung und Entspannung bemüht waren. Während Madelyn Creedon, Staatssekretärin im US-Verteidigungsministerium, meinte, allein das Zusammenkommen der vielen Experten aus den unterschiedlichen Ländern sei ein "Erfolg" gewesen, stellte Ellen Tauscher, Staatssekretärin im Außenministerium Hillary Clintons, in Aussicht, daß in den kommenden Monaten Moskau und Washington ihre Differenzen in den gemeinsamen technischen Arbeitsgruppen ausräumen müßten.

Die Stellungnahme des ebenfalls zur Konferenz angereisten republikanischen Senators John McCain ließ jedoch die Hoffnung auf eine rasche diplomatische Beilegung des Streits als illusorisch erscheinen. Der Vietnamkriegsveteran aus Arizona, der seit Jahren glaubt, er allein verfüge im US-Kongreß über militärischen Sachverstand, meinte die Einwände gegen das Raketenabwehrsystem der USA stellten für Moskau einen "Vorwand" zur verstärkten Stationierung von russischen Streitkräften nahe der NATO-Ostgrenze und sogar ein "ungeheuerliches Beispiel" für die "Paranoia Wladimir Putins" dar. Wohlwissend, daß Putin zwei Tage später erneut das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation antreten sollte, hat sich McCain gegenüber seinen Gastgebern in Moskau einen schweren Affront geleistet, der stürmische Zeiten in den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Rußland erwarten läßt.

5.‍ ‍Mai 2012