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MILITÄR/896: Pakistan baut sein Atomwaffenarsenal kräftig aus (SB)


Pakistan baut sein Atomwaffenarsenal kräftig aus

Das nukleare Pulverfaß Indien-Pakistan kann jeder Zeit hochgehen


Pakistan ist auf dem besten Weg, drittstärkste Atommacht der Welt zu werden. Dies geht aus zwei alarmierenden Studien hervor, aus denen die Washington Post unter der Überschrift "Report: Pakistan's nuclear arsenal could become the world's third-biggest" am 27. August berichtete. Der Ausbau des pakistanischen Nuklearwaffenarsenals liefert Anlaß zu Sorge, denn das südasiatische Land steht einerseits mit dem benachbarten Indien wegen der Kaschmir-Frage in Dauerkonfrontation und schlägt sich andererseits mit großen innenpolitischen Problemen wie Korruption, Armut, lahmender Wirtschaft, Energieknappheit und religiösem Fundamentalismus herum. Und auch der scheinbar niemals endende Konflikt in Afghanistan läßt Pakistan, in dessen nördlichen Grenzbezirken sich die Taliban und die staatlichen Sicherheitskräfte seit Jahren einen blutigen Bürgerkrieg liefern, nicht zur Ruhe kommen. Zwischen keinen anderen Staaten ist die Gefahr eines Atomkriegs so groß wie zwischen Indien und Pakistan. Renommierte Klimaexperten warnen seit Jahren, daß schon ein "begrenzter" Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan mit dem Einsatz von "nur" 100 Atomsprengköpfen einen "nuklearen Winter" auf der ganzen Welt mit Ernteausfällen, Hungersnöten et cetera zur Folge hätte.

Die von Tim Craig, dem Islamabad-Korrespondenten der Washington Post, zitierten Studien stammen von der Carnegie Endowment for International Peace und dem Stimson Center - zwei in der US-Hauptstadt ansässigen Denkfabriken. Deren Analysten beziffern die Zahl der Atomwaffen Indiens und Pakistans auf derzeit 120 respektive 100. Die Autoren der Studien behaupten, daß Pakistan dank eines umfangreichen Bestands an angereichertem Uran sowie Plutonium aus vier Kernkraftwerken aktuell mehrere Dutzend Atomsprengköpfe pro Jahr herstellt. Bei einem solchen Tempo hätte Pakistan demnach innerhalb von fünf bis zehn Jahren 350 Atomsprengköpfe und läge damit weltweit auf dem dritten Platz hinter den USA und Rußland mit ihren jeweils rund 1500 einsatzbereiten Nuklearwaffen aber vor Frankreich (300), China (250) und Großbritannien (215). (In der Washington Post werden keine Angaben zu Israel gemacht, das, ähnlich wie Indien und Pakistan, nicht dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist und schätzungsweise zwischen 200 und 300 Nuklearsprengköpfe besitzen soll.)

Auch wenn die nukleare Aufrüstung Pakistans nicht in dem von der Carnegie-Stiftung und dem Stimson-Zentrum geschätzten Ausmaß forciert werden sollte, bietet sie doch Anlaß zur Sorge. Im Vergleich zum Rivalen Indien, dessen konventionelle Streitkräfte um ein vielfaches größer sind, verfolgt Pakistan keine Zweitschlagstrategie, sondern behält sich vor, im Notfall Atomwaffen auch taktisch einzusetzen, um Defizite auf dem Schlachtfeld wettmachen, bzw. auch einen Erstschlag durchführen zu können. Angesichts des miserablen Stands der Beziehungen zwischen Islamabad und Neu-Delhi kann der nukleare Ernstfall jederzeit eintreten. Dies könnte schon geschehen, wenn die Spannungen an der gemeinsamen Grenze eine Dynamik in Gang setzen, die nicht mehr kontrolliert werden kann.

Am 23. und 24. August sollten in der indischen Hauptstadt die ersten bilateralen Gespräche zwischen Regierungsvertretern aus Islamabad und Neu-Delhi seit zwei Jahren stattfinden. Darauf hatten sich die beiden Premierminister Nawaz Sharif und Narendra Modi auf Drängen Wladimir Putins am Rande des Gipfeltreffens der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) im russischen Ufa am 10. Juli verständigt. Bei den Gesprächen sollten die beiden Nationalen Sicherheitsberater, Sartaj Aziz aus Pakistan und Ajit Doval aus Indien, Wege zur Beruhigung der Lage entlang der gemeinsamen Grenze ausloten. Dort kommt es seit über einem Jahr verstärkt zu Schußwechseln und Verstößen gegen den Waffenstillstand. Doch 22 Stunden vor dem Treffen wurden die Gespräche plötzlich abgeblasen. Neu-Delhi verlangte von Aziz eine Garantie, daß er sich während seines Aufenthalts in der indischen Hauptstadt nicht mit Vetretern der muslimischen Hurriyat-Konferenz treffe, die eine Loslösung Kaschmirs von Indien bzw. den Anschluß an Pakistan anstrebt. Aziz hingegen wollte angeblich dem Amtskollegen Doval drei Dossiers vorlegen, die belegen sollten, daß der indische Auslandsgeheimdienst Research & Analysis Wing (RAW) die militanten Separatisten im pakistanischen Belutschistan unterstützt.

Kaum war der Termin für die bilateralen Gespräche geplatzt, setzte der Schußwechsel entlang der indisch-pakistanischen Grenze am 28. August wieder ein. Nach Angaben Islamabads wurden durch das indische Artilleriefeuer acht pakistanische Zivilisten im Bezirk Sialkot getötet und weitere 47 verletzt. Laut Neu-Delhi soll der Beschuß aus Pakistan mindesten drei indische Zivilisten das Leben gekostet haben. Keine Seite machte Angaben zu Verlusten unter dem Militärpersonal. 2008 hat Barack Obama den Kaschmir-Konflikt zu Recht als eine der größten Bedrohungen des Weltfriedens identifiziert und eine Vermittlung Washingtons zu dessen Beilegung versprochen. Nach dem Einzug ins Weiße Haus hat sich Obama, statt sich als ehrlicher Makler zwischen Neu-Delhi und Islamabad zu betätigen, vor allem um die Einbindung Indiens in die Eindämmung Chinas bemüht. Das Versäumnis, sich nicht stärker für eine Aussöhnung zwischen Indien und Pakistan einzusetzen, könnte sich noch als gravierendster außenpolitischer Fehler während der Präsidentschaft Obamas erweisen.

31. August 2015


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