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NAHOST/939: US-Truppenabzug aus Iraks Städten eine PR-Maßnahme (SB)


US-Truppenabzug aus Iraks Städten eine PR-Maßnahme

Im Irak deutet alles auf einen langanhaltenden Krieg hin


Mit großen Tamtam hat am 1. Juli die irakische Regierung von Premierminister Nuri Al Maliki den 24 Stunden zuvor vollzogenen Rückzug aller US-Streitkräfte auf Basen, die außerhalb der Städte des Iraks liegen, als "Unabhängigkeitstag" feiern lassen. Im Einklang mit dem von US-Präsident Barack Obama letztes Jahr abgegebenen Wahlkampfversprechen sollen alle US-Kampfeinheiten bis Ende August 2010 aus dem Irak abgezogen werden. Aufgrund eines ebenfalls letztes Jahr von der Administration George W. Bush und der Regierung Maliki abgeschlossenen State of Forces Agreement (SOFA) sollen die restlichen US-Soldaten bis Ende 2011 den Irak verlassen haben. Wer angesichts dieses offiziellen Fahrplans glaubt, am 1. Januar 2012 befände sich auf irakischem Boden kein einziger US-Militärangehöriger mehr, der irrt sich gewaltig.

Die USA sind 2003 illegal in den Irak einmarschiert nicht nur allein, um Saddam Hussein und dessen Baath-"Regime" zu stürzen, sondern auch, um im Zuge dessen aus dem ölreichen Land einen Satellitenstaat zu machen. Bereits gegen Ende der Amtszeit von Bill Clinton war klar, daß sich die in Verbindung mit dem Golfkrieg 1991 verhängten UN-Wirtschaftssanktionen nicht viel länger würden aufrechterhalten lassen, denn die Massenvernichtungswaffen Bagdads galten als praktisch alle vernichtet und unter den Sanktionen litt hauptsächlich die Zivilbevölkerung. Wären die Sanktionen jedoch ohne einen vorherigen "Regimewechsel" in Bagdad aufgehoben worden, hätten Saddam und seine Nachfolger den Irak mit den zu erwartenden Öleinnahmen eventuell wieder zu einem aufstrebenden Fast-Industriestaat aufbauen können, der weiterhin eine eigenständige panarabische, anti-israelische Außenpolitik verfolgte.

Durch die Invasion wurde diese Option für immer vernichtet. Die Anwesenheit der amerikanischen Truppen im Irak hat zudem ethnische und religiöse Kräfte freigesetzt, die den Irak als Staat fast vollständig zugrunde gerichtet haben und die das friedliche Zusammenleben von Schiiten, Sunniten und Kurden auf Jahrzehnte hinaus schwierig machen werden. Mehr als eine Million Menschen sind in den letzten sechs Jahren gewaltsam ums Leben gekommen. Weitere zwei bis drei Millionen, darunter fast die komplette obere Mittelschicht, das heißt Ärzte, Anwälte usw. samt ihren Familien, sind ins Ausland geflohen. Daß sie jemals in ihre Heimat zurückkehren, ist fraglich. Durch die Überschwemmung mit billigen Waren aus dem Ausland ist die einheimische irakische Industrieproduktion quasi zum Erliegen gekommen, während die Landwirtschaft seit einigen Jahren nun unter einer schweren Dürre infolge des Dammbaus der Türken am Oberlauf von Euphrat und Tigris enorm leidet.

Gegner der US-Militärpräsenz im Irak haben mit Stellungnahmen auf die Verlegung der Streitkräfte reagiert. Der schiitische Prediger Muktada Al Sadr tat die Maßnahme als kosmetischen Trick ab und erneuerte seine Dauerforderung nach einem vollständigen Abzug sämtlicher ausländischer Militärs und politischer Berater aus dem Zweistromland. Izzat Ibrahim Al Douri, einst unter Saddam Hussein Stellvertretender Vorsitzender des Revolutionären Kommandorats, der als im Untergrund lebender Anführer und Finanzier des sunnitischen, neobaathistischen Widerstands gilt, hat die Konzentration der US-Truppenpräsenz als Erfolg der Gegenseite bezeichnet und rief zu verstärkten Anstrengung gegen die Besatzer auf.

Tatsächlich ist es so, daß nach Angaben des US-Oberbefehlshabers im Irak General Ray Odierno die Zahl der ihm unterstellten Soldaten bis Ende dieses Jahres von derzeit 131.000 lediglich auf 120.000 verringert werden soll. Es bestehen zudem große Zweifel, ob sich die Sicherheitslage soweit verbessern wird, daß sich die USA gezwungen sehen werden, den versprochenen Abzug aller Kampfeinheiten bis August kommenden Jahres durchzuziehen - von der unbekannten Anzahl an Beratern, Ausbildern und Technikern, welche den neuen irakischen Streitkräften künftig zur Seite stehen sollen, ganz zu schweigen. Im Juni starben bei Anschlägen und Überfällen nach Angaben der Nachrichtenagentur Associated Press 447 Menschen, doppelt so viele wie im Monat zuvor, was zeigt, daß die Gewalt im Irak doch wieder ansteigt.

So dürfte die prekäre Sicherheitslage im Irak auf Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte hinaus den USA den Vorwand liefern, warum sie die rund 100 bereits im Sommer 2003 von Donald Rumsfeld vorausschauend in Auftrag gegebenen, "dauerhaften Militärstützpunkte" nicht räumen. Bestätigung für diesen Verdacht findet sich in dem Bericht, der am 30. Juni in Washington vom dortigen Center for a New American Security (CNAP) der Presse vorgestellt wurde. Verfaßt wurde die Studie zum Thema der künftigen Beziehungen zwischen dem Irak und den USA von dem CNAP-Präsidenten John Nagl mit Hilfe seines Forschungsassistenten Brian Burton. Seit dem Ausscheiden aus dem Militärdienst vor einem Jahr gilt Oberstleutnant a. D. Nagl als einer der einflußreichsten und profiliertesten Verteidigungsexperten in den USA. Nagl ist Veteran des ersten Golfkrieges 1991 und arbeitete zuletzt unter Rumsfeld im Pentagon, wo er zusammen mit anderen Offizieren, darunter dem früheren Irak-Oberbefehlshaber und heutigen CENTCOM-Chef General David Petraeus, das seit 2006 gültige Feldhandbuch der US-Armee und -Marineinfanterie für die Aufstandsbekämpfung formulierte.

In einem am 1. Juli veröffentlichten Artikel für die Internetseite AxcessNews.com zitierte Michael Novinson, der auf der Pressekonferenz zum neuen CNAP-Bericht anwesend war, Nagl mit folgender, herablassender Einschätzung des geplanten Abzugs der US-Streitkräfte aus dem Irak: "Die irakische Regierung wird irgendwann 2010 oder 2011 zur Besinnung kommen und erkennen, daß die Präsenz von US-Kampfeinheiten sehr wohl im Interesse der irakischen Regierung ist." Laut Nagl, der als großer Bewunderer des britischen Kolonialbeamten T. E. Lawrence "von Arabien" gilt, würde die Regierung in Bagdad nicht umhinkommen, mit den USA das SOFA-Abkommen neu zu verhandeln, um den Verbleib der amerikanischen Streitkräfte im Land rechtlich abzusichern.

Nagl rief die Obama-Regierung und die Politiker im Washingtoner Kongreß dazu auf, die amerikanische Öffentlichkeit auf diese Eventualität vorzubereiten, denn die Bekämpfung der diversen Widerstandsgruppen im Irak würde noch "lange" dauern. In Bezug auf den Irak - aber auch mit Blick auf die Situation in Afghanistan - benutzte Nagle die einst von Rumsfeld eingeführte Formulierung vom sogenannten "langen Krieg". Gemeint ist jener "globale Antiterrorkrieg", den George W. Bush in Reaktion auf die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 ausrief und die bekanntlich nach Einschätzung seines Vizepräsidenten, des ehemaligen US-Verteidigungsministers Dick Cheney, "Jahrzehnte", wenn nicht sogar "Generationen" dauern soll.

3. Juli 2009