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NAHOST/1058: Libyen wird zum Glaubwürdigkeitsproblem für die NATO (SB)


Libyen wird zum Glaubwürdigkeitsproblem für die NATO

Interventionsbefürworter sind von ihrem Vorhaben nicht abzubringen


Seit dem Ausbruch von Unruhen in Libyen Ende Februar ziehen diejenigen Kräfte im Westen, die sich bei jeder geopolitischen Krise gern mit dem Titel "internationale Gemeinschaft" schmücken, gegen das "Regime" Muammar Gaddhafis zu Felde. Der eigenwillige Revolutionsführer, dem man 2003 wegen artigen Verhaltens seinen langjährigen Paria-Status - unter Vorbehalt, versteht sich - aberkannt hatte, ist wieder zum arabischen Bösewicht gestempelt worden, weil er zum Auftakt des "demokratischen" Aufbruchs in seinem Land angeblich die Luftwaffe gegen friedliche Demonstranten eingesetzt hat. Ob dies tatsächlich so passiert ist, wie kolportiert, läßt sich nach bisherigem Kenntnisstand nicht eindeutig sagen. Ungeachtet der Tatsache, daß der politische Streit in Libyen zwischen Anhängern und Gegnern des "Regimes" Gaddhafi recht schnell in einen regelrechten Bürgerkrieg ausartete, hat man sich im Westen nicht, wie es sich nach dem Völkerrecht gehört, um einen Waffenstillstand und ein schnellstmögliches Ende des Blutvergießens bemüht, sondern sich eindeutig auf die Seite der Rebellen geschlagen.

Das mag in den ersten Tagen angeraten erschienen sein, als man sich vor Berichten über die Greueltaten der libyschen Spezialstreitkräfte und ihrer Söldner-Verbündeten aus Schwarzafrika kaum retten konnte und die Aufständischen nach der "Befreiung" des Ostens des Landes zum Sturm auf die Hauptstadt Tripolis bliesen, während von dort aus der scheinbar dem Untergang geweihte Gaddhafi über Fernsehen und Radio seine sämtlichen Gegnern als Kakerlaken und Al-Kaida-Terroristen beschimpfte und sie restlos zu vernichten versprach. Auf Druck der USA und ihrer Verbündeten Frankreich und Großbritannien hat am 26. Februar der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Waffenembargo über Libyen und finanzielle und diplomatische Sanktionen gegen die Führungsmitglieder der Regierung in Tripolis verhängt. Gaddhafi wurde sogar der erste amtierende Staatschef, den der UN-Sicherheitsrat in einem einstimmigen Votum wegen des Verdachts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzeigte.

Der diplomatische Erfolg von US-Präsident Barack Obama, seiner Außenministerin Hillary Clinton, dem britischen Premierminister David Cameron und dem französischen Staatsoberhaupt Nicholas Sarkozy war in diesem historischen Moment erdrückend, könnte sich aber noch als Bumerang erweisen. Denn gerade durch die Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs hat der Westen Gaddhafi zur Persona non grata erklärt. Man hat ihn damit demonstrativ von der Liste der Personen, mit denen man über eine Beilegung des Konfliktes vielleicht verhandeln könnte, gestrichen und damit den eigenen Spielraum eingeschränkt. Hätten die Rebellen ihre damalige Offensive erfolgreich zu Ende führen können, wäre vielleicht das Setzen auf ein Libyen ohne Gaddhafi aufgegangen. Doch trotz des enormen internationalen Drucks und des Rücktritts zahlreicher libyscher Diplomaten im Ausland hat die Zentralregierung in Tripolis die anfängliche schwere Krise überstehen, ihre Kräfte konsolidieren und ihre Anhänger bei der Stange halten können. Seit mehreren Tagen befinden sich die Truppen Gaddhafis eindeutig auf dem Vormarsch, haben eine Reihe von verlorengegangenen Städten zurückerobern können und stehen kurz vor dem Angriff auf die Rebellenhochburg Benghazi. Nach der Einnahme von Brega, belagern Gaddhafis Truppen derzeit Adschdabija, die letzte größere Stadt vor dem rund einhundert Kilometer nordöstlich liegenden Benghazi.

Dessen ungeachtet haben die Gegner Gaddhafis im Ausland ihre Haltung gefestigt. Nachdem am 10. März Frankreich als erstes Land den in Benghazi residierenden Nationalen Übergangsrat als legitime Regierung Libyens anerkannte, hat sich zwei Tage später die Arabische Liga bei einem Treffen in Kairo für die Einrichtung einer Flugverbotszone über dem Land ausgesprochen. Beide Entscheidungen weisen einen hohen Grad an Eigenwilligkeit und Willkürlichkeit auf. Im Fall des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen Paris' zu Tripolis bei gleichzeitiger Anerkennung der Rebellen in Benghazi soll der Entschluß im Elysée-Palast und nicht im Quai D'Orsay getroffen worden sein. Ohnehin hört man vom Sitz des französischen Außenministeriums seit Wochen die Klage, daß Sarkozy die Politik Frankreichs in Bezug auf die Umwälzungen in der arabischen Staatenwelt dominiert, zu Kurzschlußhandlungen neigt und auf den Rat der eigenen Experten nicht hört.

Die Beratungen der Arabischen Liga riechen nach Opportunismus und Heuchelei. Zu dem Treffen in Kairo wurden die Delegierten der libyschen Regierung mit dem Argument nicht zugelassen, das "Regime" Gaddhafi hätte seine "Legitimität" verloren. Jene These hatte US-Präsident Obama am 3. März als erster in die Welt gesetzt, als er Gaddhafi zum Rücktritt aufforderte. Doch den Vorwurf der Gewaltanwendung gegen oppositionelle Zivilisten könnte man ebenso gut gegen die in Kairo versammelten Gaddhafi-Kritiker erheben. In den meisten Mitgliedstaaten der Arabischen Liga versuchen Armee und Polizei seit Wochen mit brutaler Gewalt oppositionelle Bewegungen niederzuschlagen.

Im Irak - jenem Leuchturm der Demokratie von George W. Bushs Gnaden - sollen die Sicherheitskräfte von Premierminister Nuri Al Maliki bei Protesten in Bagdad und anderen Städten gegen Korruption und die miserable Lage im Lande mehr als 200 Menschen getötet haben. In Bahrain sind am 14. März 1200 Soldaten Saudi-Arabiens und 800 aus den Vereinigten Arabischen Emiraten mit rund 150 Panzern und gepanzerten Mannschaftswagen einmarschiert, um die anhaltenden Proteste der schiitischen Mehrheitbevölkerung gegen das "Regime" der sunnitischen Königsfamilie Al Khalifa niederzuschlagen - oder wie es am selben Tag seitens der BBC hieß, um "die Stabilität zu gewährleisten". Seit Jahren greift Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh zu denselben Maßnahmen, die der Westen im Falle Gaddhafis als völlig inakzeptabel empfindet, um Rebellenbewegungen im Norden und Süden zu unterdrücken. Salehs "Legitimität" scheinen blutige Luftangriffe auf Houthi-Dörfer in Nordjemen bisher nicht abträglich gewesen zu sein. Das Gegenteil ist der Fall. Im Jemen greift die CIA seit mehr als einem Jahr mit Raketen mutmaßliche Al-Kaida-Verstecke an und tötet dabei unzählige Zivilisten, während die Regierung in Sana'a wegen ihres vermeintlich mutigen Einsatzes im "Antiterrorkrieg" Finanz- und Militärhilfe in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar aus Washington einstreicht.

Am 14. März hat Gaddhafi den Rebellen eine Amnestie angeboten, sollten sie den Kampf gegen die Zentralregierung in Tripolis aufgeben und die Waffen strecken. Auch wenn sich die militärische Lage für die Aufständischen negativ gestaltet, wollen diese nicht kapitulieren. Durch die Entscheidung der Arabischen Liga für die Verhängung einer Flugverbotszone fühlen sie sich diplomatisch gestärkt und fordern von der NATO, daß sie eingreift und das Blatt zu ihren Gunsten wendet. Bei Audienzen mit Frankreichs Präsident Sarkozy und US-Chefdiplomatin Clinton am 14. März am Rande des G8-Außenministertreffens in Paris hat eine Delegation des Nationalen Übergangsrats, angeführt von Ex-Justizminister Mustafa Abd Al Jalil und Mahmud Dschibril, einst Leiter des Nationalen Rates für Wirtschaftliche Entwicklung, sogar von der "internationalen Gemeinschaft" verlangt, daß sie versucht mit gezielten Bomben- und Raketenangriffen Gaddhafi zu töten - ganz als würde der Tod einer einzelnen Person den Konflikt in Libyen beenden. Dies berichtete am 15. März der Londoner Guardian unter Verweis auf Mustafa Gheriani, Sprecher des Nationalen Übergangsrats in Benghazi.

Nun sieht sich die NATO in einer schwierigen Position. Die diplomatische Offensive gegen Gaddhafi hat nicht, wie gehofft, in Libyen zum Kollaps seines "Regimes" geführt. Statt dessen sind es die neuen Verbündeten des Westens in Libyen - Lokalpatrioten aus den östlichen Provinzen, unzufriedene junge Männer, Islamisten, abgesprungene Wendehälse wie Abdel Fattah Younis, Gaddhafis ehemaliger Innenminister, und übergelaufene Soldaten -, die mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Ausschaltung der libyschen Luftwaffe allein wird nicht ausreichen, um den Bürgerkrieg zuungunsten der Regierungstruppen zu entscheiden, denn am Boden scheinen die Rebellen keine Antwort auf die gepanzerten Verbände und die Eliteinheiten Gaddhafis zu haben.

Deswegen drängen Interventionsbefürworter wie der britische Außenminister William Hague und William Traub, Gastautor der New York Times und Kolumnist der Politzeitschrift Foreign Policy, auf Verhängung einer Flugverbotszone durch den UN-Sicherheitsrat, während sie bereits jetzt schon einräumen, daß man, um Gaddhafi loszuwerden und in Tripolis einen "Regimewechsel" herbeizuführen - offiziell spricht man davon, das libysche Volk vor dem Diktator zu retten -, es eventuell bei Angriffen aus der Luft nicht wird belassen können. Für die Warnungen von Leuten wie dem türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan, daß eine NATO-Intervention in Libyen "völlig kontraproduktiv" wäre und "gefährliche Folgen" haben könnte, zeigen sich die Gaddhafi-Fresser taub.

15. März 2011