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NAHOST/1072: Syrische Gesellschaft vor schweren Herausforderungen (SB)


Syrische Gesellschaft vor schweren Herausforderungen

Kommen die Reformen Bashar Al Assads für die Baath-Regierung zu spät?


Die arabische Welt steht Kopf, seit die alten Machthaber in Tunesien abgesetzt wurden und eine Protestbewegung auf dem Tahrir-Platz in Kairo den Umsturz des ägyptischen Mubarak-Regimes erzwang. Seitdem ist der Funke einer Revolution auf die Nachbarstaaten übergesprungen. In Libyen wird derzeit das sozialistische Projekt Gaddafis in Frage gestellt, in Jordanien gehen die verarmten Volksmassen auf die Straße, in Bahrains Hauptstadt Manama erhebt sich die schiitische Mehrheit gegen die sunnitische Palastherrschaft und im Jemen rebellieren die Stämme in alter Rivalität gegen den repressiven Staatsapparat von Ali Abdullah Saleh.

Arabisches Blut klebt an den Händen der feudalen Herrscher und ihrer westlichen Verbündeten, die den Regimen lange Jahre den Rücken stärkten und sie mit Petrodollars und modernsten Waffen gegen Öl und geostrategische Stützpunkte an der Macht hielten. Blut gegen Brot, Blut für Gerechtigkeit, für ein würdiges Leben, ein Aufstand vor allem der Jugend gegen eine düstere Lebensperspektive. Es ist unabweislich eine soziale Erhebung in einer Phase, in der Ressourcenverknappung der stetig wachsenden, maßgeblich von weltweit agierenden Kapitalinteressen um den Wohlstand betrogenen Bevölkerungsschichten auch die reichen Staaten des Maghreb und des Nahen Ostens erreicht hat. Reichtum ist immer eine Frage der Verteilung und des Unterschieds zwischen Palast und Hütte, Klassenkampf nannten es die Marxisten, daß der Widerspruch von Arbeit und Warenproduktion, Handel und Konsum, privatisiertem Kapital und massenhaftem Elend, dem Überschuß an Luxus einerseits und dem Mangel an den dringendsten Nahrungsmitteln auf der anderen Seite in einer sich zuspitzenden Spirale sozioökonomischer Überlebenskämpfe auf die finale Runde zustrebt. Die sozialen Unruhen von Libyen bis Jemen sind ein untrüglicher Ausdruck davon.

Die Lunte brennt, aber nicht immer ist ersichtlich, ob ein Volk gegen seinen Tyrannen aufsteht und/oder nur als geopolitisches Mittel benutzt wird, um eine ganze Region zu destabilisieren und im Zuge dieser Strategie neue Formen administrativer Verfügung und Struktur einzuführen. Die alten Feudalsysteme in den arabischen Despotien sind ein Relikt neokolonialistischer Kartenarchitektur und scheinen ausgedient zu haben. Die traditionellen Eliten sind jedenfalls nicht mehr in der Lage, die Krisenstimmung unter ihren Völkern in kontrollierte Bahnen zu lenken und so den Kapitalfluß aus den Peripherien in die Zentren in den USA und den Staatenbund Europa weitreichend zu sichern.

Syrien mit seiner zumindest in den Grundzügen sozialistischen Herrschaft der Baath-Partei ist ebenfalls von den Umbrüchen betroffen. So kommt es seit Mitte März in Aleppo, Damaskus, Dar'a, Hassake, Homs, und Latakia immer wieder zu Demonstrationen gegen die Baathisten um Präsident Bashar al-Assad. In der Hauptstadt Damaskus konnten republikanische Garden, die von Assads Bruder Maher befehligt werden, und Armee die Ausschreitungen niederschlagen. Es gab Tote und zahlreiche Verletzte unter den Regierungsgegnern. Auch wurden viele Demonstranten verhaftet.

Am heftigsten wüteten die Proteste jedoch in Dar'a und Latakia. So berichtete Joshua Landis vom Center of Middle East Studies an der Universität von Oklahoma, der Betreiber des vielbeachteten Blogs Syria Comment ist, daß es im christlichen Viertel bei Shaykh Dahr bei Latakia zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Armee auf der einen Seite und den Aufständischen auf der anderen gekommen war, wobei aus den Reihen der Demonstranten auf die Sicherheitskräfte geschossen worden sei. Augenzeuge zufolge hätten dabei Leute, die keiner in der Stadt kannte und die "Mukharabiin" ("fremde Eindringlinge") genannt werden, einen bewaffneten Aufruhr provoziert, so Landis. Dutzende Zivilisten kamen bei den Schießereien um Leben. In den folgenden Tagen zeigte die Armee massive Präsenz auf den Straßen, stellte Checkpoints auf und konnte so weitere Unruhen unterbinden.

Auch soll es im Vorwege jener Vorkommnisse zu einer Aufstachelung der Konfessionen gegeneinander gekommen sein, wobei Aufhetzer jeweils in den sunnitischen und alawitischen Stadtvierteln von drohenden Massakern der Gegenseite gewarnt hätten. Schließlich ist Syrien das einzige arabische Land, in dem eine sunnitische Mehrheit von einer religiösen Splittergruppe des Islams beherrscht wird. In Jableh südlich von Latakia an der Mittelmeerküste kam es daraufhin zu einer großen Friedensdemonstration, bei der die Menge lautstark ausrief "Sunniten und Alawiten sind eins".

Inzwischen haben Armeeeinheiten auch in der Altstadt von Dar'a, im Süden Syriens, die sich zu einem Brennpunkt der zum Teil von der sunnitischen Moslembruderschaft forcierten Proteste entwickelt hatte mit einer bisher ungeklärten hohen Anzahl an Toten, wieder für Ruhe gesorgt. Khaled Al Abboud, ein Vertreter für Dar'a im syrischen Parlament, erklärte gegenüber dem arabischen Nachrichtensender Al Jazeera, daß die Polizeikräfte das Feuer nicht gezielt auf friedliche Demonstranten richteten, wohl aber gegen die bewaffneten Banden, die sich unter die Proteste gemischt hätten.

Die USA, Großbritannien und Frankreich verurteilten das angeblich unverhältnismäßig harte Durchgreifen der Polizeikräfte und übten harsche Kritik am Assad-Regime wegen der Unterdrückung der "friedlichen" Demonstrationen. Jay Carney, der Pressesprecher des Weißen Hauses, forderte am 12. April die syrische Regierung dazu auf, die Verantwortlichen für die Eskalation zur Rechenschaft zu ziehen. US-Präsident Barack Obama nannte den polizeilichen Einsatz gegen die Demonstranten eine "verabscheuungswürdige Gewalt". Das Außenministerium in Berlin bestellte den syrischen Botschafter innerhalb weniger Tage gleich zwei Mal ein.

Angesichts der zum Teil sich arg widersprechenden Darstellungen über die Proteste in Syrien ist die Frage nach der Authentizität der Ereignisse durchaus klärenswert, zumal sich die Berichterstattung in den westlichen Medien auf anonyme Handy- und Videoaufnahmen stützt, die im Internet veröffentlicht oder direkt an Sender oder Privatpersonen im Ausland geschickt wurden. So hat Joshua Landis inzwischen nachweisen können, daß die Analyse der Filmdokumente durch die Art und Weise der Fragen manipuliert und die jeweiligen Antworten in einem falschen Kontext interpretiert wurden. Auch Alex Van Buren, ein Reporter der italienischen Zeitung La Repubblica, fand bei Recherchen und Interviews mit Menschenrechtsaktivisten heraus, daß in die Unruhen an der Westküste in Latakia, Banias und Tartus offensichtlich Kräfte des seit 2005 im Pariser Exil lebenden früheren Vizepräsidenten Abdul Khalil Khaddam verwickelt waren.

In diesem Zusammenhang ist ein Bericht in der Online-Ausgabe der Washington Post vom Sonntag, den 17. April, von hohem Interesse, demzufolge das US-Außenministerium seit 2006 insgeheim die Oppositionskräfte in Syrien mit Geldmitteln unterstützt. Das State Department hat demnach noch unter Präsident George W. Bush mindestens sechs Millionen US-Dollar an Regimegegner und an den regierungskritischen Fernsehsender Barada-TV zukommen lassen. Der Sender strahlt seit 2009 von London aus ein Propagandaprogramm aus, das in Syrien per Satellit zu empfangen ist. Auch nach dem Amtsantritt von Obama liefen die Zahlungen fort, und zwar nachweislich bis September 2010, auch wenn Malik Al Abdeh, der Chefredakteur des Senders und einer der Mitbegründer der syrischen Oppositionsgruppe im Exil Movement for Justice and Development (Bewegung für Gerechtigkeit und Entwicklung), die Alimentierung durch Condoleezza Rice und Hillary Clinton bestreitet und auf syrische Kaufleute verweist.

Zugespielt wurde der Washington Post die Depesche mit der Aufdeckung der finanziellen Unterstützung der syrischen Opposition vom Enthüllungsportal Wikileaks. Im Wortlaut hatte die US-Botschaft in Damaskus in dem Dokument die Befürchtung geäußert, daß der syrische Geheimdienst "unzweifelhaft jegliche US-Unterstützung für illegale politische Gruppen als gleichbedeutend mit der Unterstützung eines Regimewechsel" werten könnte. Aus den Dokumenten läßt sich allerdings nicht entnehmen, ob die Geldzuschüsse an den syrischen Widerstand bis auf den heutigen Tag noch andauern.

Es wäre unterdessen kein Widerspruch in der Sache, daß unter Barack Obama Washington nach fünfjähriger Absenz erstmals wieder im Januar einen Botschafter nach Damaskus entsandte. Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen steht ganz klar im Zeichen der Bestrebungen der USA, Syrien aus seiner Militärallianz mit dem Iran und der schiitisch-libanesischen Hisb Allah herauszulösen.

Der Ausbruch ziviler Revolten und der Druck aus dem Ausland scheinen in Damaskus ein Umlenken bewirkt zu haben. So hat Präsident Assad nach der Vereidigung der neuen Regierung am 16. April noch am selben Tag in einer Fernsehansprache ein umfangreiches Reformpaket und die Beendigung des seit 1963 andauernden Ausnahmezustands binnen einer Woche angekündigt. Die eher säkular als fundamentalistisch ausgerichtete Alawitendynastie unter Assad hob mit sofortiger Wirkung die Arbeitsbeschränkungen für muslimische Frauen mit Gesichtsschleier auf. Zwei Wochen zuvor war ein Gesetz in Kraft getreten, daß den rund 250.000 staatenlosen Kurden im Lande die vollen Rechte syrischer Staatsbürger verlieh. Eine Kommission wurde zudem beauftragt, ein Bündel von Verordnungen betreffs des Versammlungsrechts, der Medienarbeit, des Demonstrationsrechts, der Privatsphäre und des Rechts auf freie Meinungsäußerung auszuarbeiten. Bestandteil des Reformpakets soll auch ein Parteiengesetz sein, das die bisherigen Einschränkungen der politischen Betätigung aufhebt und sie internationalen Standards und Praktiken angleicht.

Sicherlich hofft Assad mit der Aufhebung des Notstandsrechts die Bremse ziehen zu können angesichts der weiterhin schwelenden Unzufriedenheit des syrischen Volkes mit seiner Regierung. Nicht von ungefähr warb der Sohn des langjährigen Staatsoberhaupts Hafiz Al Assads in seiner Ansprache für neues Vertrauen der Bürger in die Institutionen. Die alawitische Hegemonie in Syrien mit ihrer säkular-nationalistischen Ideologie hat stets größten Wert darauf gelegt, die Spannungen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppierungen im Lande mit einer antizionistischen und antiamerikanischen Außenpolitik zu besänftigen. Die Strategie dieser innenpolitischen Allianzen und die neuerlichen Zugeständnisse an die Adresse der Sunniten, der größten Einzelgemeinde, können jedoch über die wirtschaftliche Misere nicht hinwegtäuschen, die ein wesentliches Moment der Protestbewegung in Syrien darstellte.

Die demografische Herausforderungen für die Regierung in Damaskus sind immens. Zwischen 1975 und 2000 hat sich die Bevölkerungszahl fast verdoppelt. 40 Prozent der inzwischen 22 Millionen Syrer ist unter 14 Jahre, nur 3 Prozent sind älter als 65. Die Wirtschaftsentwicklung läuft dem Bevölkerungswachstum jedoch hinterher. In den letzten Jahrzehnten ist das Durchschnittseinkommen beträchtlich gesunken. 30 Prozent der Bevölkerung lebt unter der offiziellen Armutsgrenze von 1,60 Dollar pro Tag. Zudem liegt die Arbeitslosigkeit in Syrien mit zwischen 12 und 20 Prozent ähnlich der anderen arabischen Flächenstaaten sehr hoch. Vor allem der dramatische Anstieg der Preise für Lebensmittel - allein im Februar um 30 Prozent - und die hohe Inflation haben für den Zündstoff gesorgt, der sich in den Aufständen in den verschiedenen Städten entlud. Die hohen Lebensmittelpreise sind auch eine Folge der schweren Dürre, die seit mehreren Jahren Syriens Kleinbauern in den Ruin treibt.

In Syrien wurden Grundnahrungsmittel und Kraftstoffe bis 2008 noch auf hohem Niveau subventioniert. Ihre Einführung erfolgte jedoch zu einer Zeit, als die Bevölkerung nur 6 Millionen Menschen zählte und die Gewinne aus der Ölförderung stetig anstiegen. Heutzutage fallen die Einnahmen aus dem Ölgeschäft wegen des allmählichen Versiegens der verhältnismäßig kleinen syrischen Bestände, während die Subventionen im letzten Jahr 8 Milliarden US-Dollar oder 2000 Dollar pro Familie betrugen.

So kam es nicht überraschend, als Präsident Assad im Zuge der Regierungsumbildung Ali Al-Dardari als Stellvertretenden Ministerpräsident für wirtschaftliche Angelegenheiten entließ, hatte sich dieser mit der rasanten Umstellung der Ökonomie auf eine kapitalistische Marktwirtschaft zwar im Ausland viel Lob eingehandelt, aber bei Teilen des eigenen Volkes durch den massiven Subventionsabbau Existenzangst ausgelöst. Durch die Wirtschaftsreformen stiegen die Preise in die Höhe und die Schere zwischen arm und reich klaffte immer weiter auseinander.

Syriens Einheit als Staat ist bedroht, durch eine äußere Verschwörung, wie die vertraulichen Wikileads-Dokumente belegen, als auch durch die innere Zerrissenheit der ethnischen und religiösen Gruppen. Sollte die Fragmentierung der Gesellschaft fortschreiten und infolge der prekären Lebensbedingungen noch an Fahrt zunehmen, könnte die politische Öffnung zu spät gekommen sein. Rußland, China, die Türkei und andere Nachbarstaaten Syriens hatten Assad in den vergangenen Wochen Unterstützung für sein Reformprojekt zugesagt. Die Weltmacht USA und ihre europäischen Verbündeten scheinen jedoch auf Regimewechsel in Damaskus zu setzen.

20. April 2011