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NAHOST/1317: Syrien und Irak gehen am selben Krieg zugrunde (SB)


Syrien und Irak gehen am selben Krieg zugrunde

Die Grenzen des Nahen Ostens werden mit Gewalt neu gezogen



Die jüngste "Rettungsmission" John Kerrys im Irak scheint wenig gefruchtet zu haben. Premierminister Nuri Al Maliki wies nach seinem Treffen mit dem US-Außenminister am 23. Juni in Bagdad die Forderung Washingtons nach einer irakischen Regierung der nationalen Einheit als "Putsch gegen die Verfassung" zurück. Bei seinem anschließenden Besuch am darauffolgenden Tag in Erbil wurde Kerry von Massud Barsani, dem Präsidenten der autonomen Region Kurdistan, eröffnet, daß durch den laufenden Volksaufstand in den mehrheitlich sunnitisch bewohnten Gebieten in der Mitte und im Nordwesten des Landes ein "neuer Irak, eine neue Realität" entstanden sei. Jener Realität hatte Kerry bei seinem Überraschungsbesuch bereits Rechnung getragen, wie man anhand seines Transportmittels erkennen konnte. Statt mit einem zivilen Flugzeug war Amerikas Chefdiplomat mit einer C-5-Galaxy-Transportmaschine des US-Militärs im irakischen Luftraum unterwegs.

Seit rund zwei Wochen hält die sunnitische Offensive, bei der die "terroristische" Gruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante (ISIS) die Führungsrolle inne zu haben scheint, wenngleich die Rolle sunnitischer Stammeskämpfer und Angehöriger der früheren Armee Saddam Husseins unter der Leitung von dessen früherem Stellvertreter Izzat Ibrahim Al Duri nicht unterschätzt werden darf, die Welt in Atem. Inzwischen haben die ISIS und ihre Verbündeten, die seit Frühjahr 2013 in der zentralsyrischen Provinzhauptstadt Raqqa herrschen und Anfang dieses Jahres Falludscha und Ramadi in der westirakischen Provinz Anbar erobern konnten, auch Mossul, die zweitgrößte Metropole des Iraks und Hauptstadt der Provinz Nineveh, unter ihre Kontrolle gebracht. Sie sind dabei, sich der wichtigsten Ölförderanlagen, -raffinerien und -pipelines der Region zu bemächtigen und haben nicht nur sämtliche Grenzübergänge zwischen Syrien und dem Irak überrannt, sondern auch den Grenzposten Turaibal an der wichtigsten Verbindungsstraße zwischen Bagdad und Amman, der Hauptstadt Jordaniens, in ihre Gewalt gebracht.

Derzeit rücken die Aufständischen Bagdad immer näher, indem sie die umliegenden Kleinstädte im Norden und im Westen, die mehrheitlich von Sunniten bewohnt sind, einnehmen. Man geht davon aus, daß sie vorerst nicht zum Sturm auf Bagdad, dessen mehr als sieben Millionen Bewohner größtenteils Schiiten sind, blasen werden. Hinzu kommt, daß die Schiiten als Reaktion auf die sunnitische Großoffensive eine landesweite Massenerhebung gestartet haben. Zehntausende junge Schiiten melden sich bei den regulären irakischen Streitkräften oder bei der Mahdi-Armee zum Dienst, die "Radikalprediger" Muktada Al Sadr vor wenigen Tagen wieder ins Leben gerufen hat. Nichtsdestotrotz soll die ISIS-Allianz allein in den letzten beiden Wochen sieben von 14 Divisionen der irakischen Armee vernichtend bzw. in die Flucht geschlagen und dabei Waffen und Munition im Wert von zehn Milliarden Dollar entweder vernichtet oder erbeutet haben. Dies berichtete der kurdische Nachrichtensender Rudaw am 26. Juni unter Berufung auf eine Quelle beim irakischen Militär.

Bisher hat sich nur die Führung der ISIS-Gruppe um Abu Bakr Baghdadi dafür ausgesprochen, die Grenzen im Nahen Osten neu zu ziehen, um die Staaten Syrien, Irak, Libanon und Jordanien aufzulösen und dort ein islamisches Kalifat zu errichten. Alle anderen Akteure - Maliki, Al Sadr, Barsani, US-Präsident Barack Obama, Irans Oberster Geistlicher Ali Khamenei und sogar Ahmad Dabash, der Gründer der Islamischen Armee des Iraks, die jahrelang gegen die amerikanischen Streitkräfte gekämpft hat und am erneuten Aufstand der Sunniten beteiligt ist - bekennen sich zur Aufrechterhaltung der bisherigen Grenzen und zur Beibehaltung des Iraks, auch wenn sie verschiedene Vorstellungen haben, wie dieser Staat künftig konstituiert bzw regiert werden soll.

Dabash und die meisten Sunniten wollen einen Bundesstaat Irak, in dem die sunnitischen Provinzen in der Mitte des Landes und die schiitischen im Süden jeweils zu autonomen Regionen ähnlich dem nördlichen Kurdistan zusammengelegt werden. Auf diese Weise soll die politische und wirtschaftliche Benachteiligung der Sunniten, für die Maliki die Hauptverantwortung trägt, behoben werden. Im Zuge der jüngsten Umwälzungen haben die Kurden die Stadt Kirkuk und die umliegenden Ölfelder besetzt. Diese De-Facto-Veränderung des Status quo wollen sie künftig festgeschrieben sehen, andernfalls werden sie ihre Unabhängigkeit ausrufen, wofür sie überraschenderweise in den letzten Tagen positive Signale seitens der Türkei erhalten haben. Al Sadr hat die Bildung einer Notstandsregierung ohne Maliki angeregt, in der alle Bevölkerungsgruppen vertreten sind, um den Bürgerkrieg zu beenden, bevor er richtig zu toben beginnt.

Die Iraner wollen, daß die Schiiten, entsprechend ihrer Mehrheit in der irakischen Bevölkerung (60 Prozent) politischen Einfluß ausüben, und daß die Sunniten (20 Prozent) nicht wieder in Bagdad an die Macht kommen (Die Kurden und andere kleine Ethnien bilden die restlichen 20 Prozent). Ob der Iran jedoch bereit ist, seinen Günstling Maliki fallenzulassen, ist eine andere Frage. Medienberichten zufolge greift der Iran bereits der gebeutelten irakischen Zentralregierung militärisch unter die Arme. Führende Offiziere der iranischen Revolutionsgarden sollen bereits nach Bagdad entsandt worden sein, um die Kampfkraft der irakischen Armee zu stärken. Am 26. Juni berichtete die New York Times, Teheran schicke inzwischen täglich 140 Tonnen Waffen und Munition per Flugzeug in den Irak, während auf einem Luftwaffenstützpunkt bei Bagdad stationierte iranische Drohnen bereits die Kampfgebiete observieren sollen.

Zwischen den USA, die ebenfalls 300 Militärberater nach Bagdad abkommandiert haben, und dem Iran herrscht großes Mißtrauen über die Absichten der jeweils anderen Seite im Irak. John Kerry hat den mehrheitlich schiitischen Iran vor einer Militärintervention im Zweistromland gewarnt, weil dies angeblich die sektiererische Gewalt weiter anheizen könnte. Die Führung in Teheran dagegen verdächtigt die Amerikaner, den Irak allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz aufspalten zu wollen, um den Nahen Osten komplett neu ordnen zu können. Im Iran stößt die Behauptung John Kerrys, wonach "niemand" in Washington die jüngste Entwicklung im Irak "erwartet" hätte, auf tiefe Skepsis.

Das Unbehagen der Iraner ist nicht unbegründet. Schließlich gehört die radikalislamische ISIS-Miliz zu denjenigen "terroristischen" Kräften, welche die USA und Saudi-Arabien seit drei Jahren im Kampf gegen das "Regime" Baschar Al Assads in Syrien finanziell, nachrichtentechnisch und militärisch unterstützen. Seit 2012 werden sunnitische Extremisten im jordanischen Safawi, nahe der Grenze zum Irak, von Mitarbeitern der CIA, den jordanischen und türkischen Geheimdiensten sowie Angehörigen der US-Spezialstreitkräfte für den Krieg in Syrien ausgebildet. Wie die konservative britische Zeitung Daily Telegraph vor zwei Tagen berichtete, wußten die amerikanischen Geheimdienste schon vor Monaten von dem geplanten ISIS-Vorstoß von Falludscha und Ramadi nach Mossul.

Bereits Ende 2006 berichtete Seymour Hersh in einem Artikel für die Zeitschrift New Yorker mit dem Titel "The Redirection" von einem teuflischen Plan von US-Präsident Dick Cheney und Prinz Bandar bin Sultan, damals nationaler Sicherheitsberater Saudi-Arabiens, mit Hilfe einer Armee von salafistisch-sunnitischen Hasardeuren das Assad-"Regime" in Damaskus zu stürzen, um den "schiitischen Bogen", der vom Iran über Syrien bis in den Libanon reicht, zu zerschlagen. Cheneys und Bandars Initiative soll eine Reaktion auf den Libanonkrieg wenige Monate zuvor gewesen sein, bei dem sich die schiitisch-libanesische Hisb-Allah-Miliz den massiven Artillerie- und Luftangriffen der israelischen Streitkräfte erfolgreich widersetzt hatte. Noch während israelische Bomben und Raketen über Beirut und andere Teile des Libanons niedergingen, hatte die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice von den "Geburtswehen eines Neuen Nahen Ostens" schwadroniert. Das gemeinsame Projekt der US-Nekonservativen und der israelischen Hardliner wurde damals jedoch zur Todgeburt. Angesichts der jüngsten Ereignisse in Syrien und im Irak - Angriffe der syrischen Luftwaffe auf ISIS-Stellungen im Irak, tödlicher Überfall auf iranische Grenzsoldaten u. v. m. - sieht es ganz danach aus, als wären Riad, Tel Aviv und Washington noch dabei ihr abenteuerliches Vorhaben doch noch zu verwirklichen.

26. Juni 2014