Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1411: Syrien und der Irak gehen am Dauerkrieg zugrunde (SB)


Syrien und der Irak gehen am Dauerkrieg zugrunde

Religiös-ethnische Differenzen begraben den arabischen Nationalismus


Langsam aber sicher gehen die einstigen säkularen Staaten Syrien und der Irak am Dauerkrieg, den die USA und Großbritannien 2003 mit ihrem völkerrechtlich illegalen Anti-Saddam-Hussein-Feldzug losgetreten haben, zugrunde. Millionen Syrer und Iraker sind vor der mörderischen Gewalt auf der Flucht. Während sich im Irak wegen der maroden Infrastruktur die Cholera immer mehr ausbreitet, sprengen sunnitische Fanatiker des Islamischen Staats (IS) in Palmyra kostbare antike Kulturstätten in die Luft, die als Zeugnisse der "Vielgötterei" und des "Unglaubens" angesehen werden. Als Reaktion auf die Ende September begonnene Intervention der russischen Luftwaffe auf Seiten der Syrischen Arabischen Armee (SAA) wollen Saudi-Arabien und Katar ihrerseits die Dschihadisten stärker unterstützen. Ein Ende der Eskalationsspirale ist nicht in Sicht.

Als IS-Freiwillige im Frühsommer 2014 die zweitgrößte irakische Stadt Mossul fast kampflos eroberten und ihr Anführer, Abu Bakr Al Baghdadi, das Kalifat ausrief, wurde zudem ein Teil der Grenzanlage zwischen Irak und Syrien mit Räumfahrzeugen dem Erdboden gleichgemacht und die während des Ersten Weltkriegs zwischen London und Paris im Sykes-Picot-Abkommen vereinbarte Territorialaufteilung des Nahen Ostens für ungültig erklärt. Inzwischen mehren sich die Anzeichen dafür, daß die bisherigen Staatsgrenzen in der Region zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean ihre Gültigkeit definitiv verloren haben und eine geographische Neuaufteilung nach religiösen und ethnischen Gesichtspunkten nicht mehr aufzuhalten ist.

Wie groß die militärische Unterstützung für das "Regime" um Baschar Al Assad aus Rußland und dem Iran auch sein mag, eine Wiederherstellung des Gewaltmonopols der syrischen Zentralregierung in Damaskus ist nicht mehr vorstellbar. Deswegen besteht die Vermutung, daß mit Moskaus Waffenhilfe zumindest der Westen Syriens, allen voran das Gebiet zwischen der Mittelmeerprovinz Latakia und Damaskus, als eine Art Rumpfstaat für Alewiten, Schiiten, Christen und Atheisten erhalten werden soll. Der landschaftlich karge und bevölkerungsarme Osten Syriens, wo derzeit der IS das Sagen hat, dürfte bis auf weiteres unter irgendeiner Art sunnitischer Herrschaft bleiben, während sich die kurdischen Gebiete im Norden politisch immer stärker an der Autonomieregion Kurdistan im Nordirak orientieren werden.

Die südlichen Golan-Höhen, die Israel seit dem Sechstagekrieg 1967 besetzt hält, sind für Syrien verloren. Dort plant Naftali Bennett, Minister der konservativen israelischen Regierung, innerhalb der nächsten fünf Jahre weitere 100.000 jüdische Bürger anzusiedeln. Die Israelis hoffen, daß das Ausland, allen voran die USA, angesichts des Chaos in Syrien ihre 1981 proklamierte Annektierung der Golan-Höhen anerkennen werden. Sie könnten sogar in Versuchung geraten, unter dem Vorwand der "Terrorbekämpfung" gegen die derzeit den syrischen Restteil der Golanhöhen kontrollierende Al-Nusra-Front militärisch vorzugehen, um sich auf die Weise neuen Siedlungsraum zu verschaffen.

Ende September kam es in den Ausläufern der libanesischen Berge im Westen Syriens zu einem ersten "regulären" Austausch von Bevölkerungsgruppen. Im Rahmen eines auf sechs Monate befristeten Waffenstillstands zwischen der SAA und der Rebellenformation Ahrar Al Sham wurden die schiitischen Dörfer Foua and Kefraya in der Provinz Idlib geräumt. Etwa 10.000 Menschen wurden in die zwischen Damaskus und der libanesischen Grenze liegende Stadt Zabadani umgesiedelt. Sunnitische Rebellen, die Zabadani seit 2012 besetzt gehalten und sich dort heftige Kämpfe mit der schiitischen Hisb-Allah-Miliz geliefert hatten, erhielten samt Familien freies Geleit nach Idlib. Ausgehandelt wurde der Deal Medienberichten zufolge von Vertretern des Irans und Ahrar Al Sham. Zabadani ist für die syrische Regierung, Teheran und die Hisb Allah von strategischer Bedeutung, weil man von dort aus die Hauptverbindungsstraße zwischen Damaskus und Beirut kontrollieren kann.

Im Irak haben sich die religiösen Fronten infolge des jahrelangen gegenseitigen Abschlachtens von Sunniten und Schiiten extrem verhärtet. Mit einer großangelegten Offensive gegen den IS ist weder in Ramadi, der Hauptstadt der Provinz Anbar, noch in Mossul zu rechnen, erstens weil es dafür nicht genügend sunnitische Soldaten unter den staatlichen Streitkräften gibt, und zweitens, weil die schiitischen Milizionäre die Region nördlich und westlich von Bagdad aufgegeben haben und sich mit der Kontrolle über Bagdad sowie Gebiete östlich und südlich der Hauptstadt begnügen. In einem aufschlußreichen Artikel, der am 4. Oktober in der New York Times unter der Überschrift "Billions From U.S. Fail to Sustain Foreign Forces" erschienen ist, wurde Vali Nasr, derzeit Dekan der School of Advanced International Studies an der Johns Hopkins University und ein ehemaliger Berater im US-Außenministerium, dahingehend zitiert, daß es im Irak längst Konsens sei, daß es sich beim IS um "ein sunnitisches und kein schiitisches Problem" handele. Unter den Schiiten herrsche inzwischen die Ansicht, daß die "Rettung Anbars nicht das Blut unserer Kinder wert" sei, so Nasr.

Wie sehr im Irak die Idee eines einheitlichen Staates an Kraft verloren hat, zeigt folgendes Zitat aus demselben NYT-Bericht:

Es gehen sogar Karten herum, die das Territorium zeigen, das den schiitischen Milizen und ihren Gönnern im Iran wichtig ist. Eine Linie erstreckt sich von der iranischen Grenze im Osten bis südlich vor Kirkuk; um Samarra bis zur Stadtgrenze von Bagdad; und dann über Anbar, südlich von Falludscha in Richtung jordanischer Grenze. Sajad Jiyad, ein irakischer Analytiker, der in London und Bagdad tätig ist und das irakische Verteidigungsministerium beraten hat, sah eine der Karten und meinte, das wären "die Linien, die sie [Teheran und Iraks Schiiten] aufzugeben nicht bereit sind".

Es ist nicht zu erwarten, daß sich Saudi-Arabien und die anderen sunnitischen Autokratien am Persischen Golf allzu bald damit abfinden werden, daß Bagdad und der irakische Süden und Osten endgültig in die Einflußsphäre des schiitischen Irans fallen. Angeblich haben die Saudis und ihre Verbündeten in Reaktion auf die russische Militärintervention in Syrien inzwischen damit begonnen, ihre Waffenhilfe für die sunnitischen Rebellengruppen dort und im Irak - IS inbegriffen - erheblich zu verstärken. Wie der Nachrichtensender Al Arabiya berichtete, haben 53 hohe sunnitische Geistliche Saudi-Arabiens eine Erklärung unterzeichnet, in der sie alle "Gläubigen" zum "heiligen Krieg" gegen die orthodox-christlichen Russen, die schiitischen Iraner und die Alewiten gerufen haben.

Der wahhabitische Ruf zu den Waffen wird seine blutige Wirkung sicherlich nicht verfehlen. Am 5. Oktober, demselben Tag, an dem die Dschihad-Erklärung aus Saudi-Arabien publik wurde, kamen im Irak mindestens 63 Menschen bei Bombenanschlägen um Leben - mindestens 40 von ihnen in der mehrheitlich von Schiiten bewohnten Stadt Khalis in der östlichen Provinz Diyala und mindestens 10 weitere in der Stadt Al Zubair, die nur 15 Kilometer von der südlichen Hafenstadt Basra entfernt liegt. Per Twitter hat sich der IS zu dem Anschlag in Al Zubair und damit zu der ersten derartigen Aktion der Gruppe in der schiitischen Provinz Basra bekannt.

6. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang