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NAHOST/1449: Krise in Bagdad - Irak wird zum gescheiterten Staat (SB)


Krise in Bagdad - Irak wird zum gescheiterten Staat

Politiker streiten um ihre Pfründe während Irak vor die Hunde geht


In Bagdad verschlimmert sich das politische Chaos mit jedem Tag. Wegen des Widerstands im Parlament kommt Premierminister Haider Al Abadi mit seinem Vorhaben, das bisherige Kabinett gegen eine Regierung aus unabhängigen Experten auszutauschen, um die weit verbreitete Korruption im Land zu bekämpfen, nicht voran. Die politischen Parteien des Iraks, die seit Jahren die verschiedenen Ministerien unter sich aufteilen, wollen auf ihre Möglichkeiten, Posten zu vergeben, Ressourcen zu verteilen und die eigene Wählerschaft zu bedienen, partout nicht verzichten. Währenddessen geht der Staat Irak langsam aber sicher zugrunde, denn nicht zuletzt ist es die Vetternwirtschaft die dazu beiträgt, daß die irakische Armee es nicht schafft, den Krieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu gewinnen und für Frieden im eigenen Land zu sorgen. Iraks Parlamentarier benehmen sich wie Erster-Klasse-Passagiere auf der Titanic, die eifrig um die letzten Plätze auf dem Hinterdeck kämpfen und dabei den eigenen Untergang ausblenden.

Hauptantreiber der Initiative zur Einsetzung eines Kabinetts aus parteiunabhängigen Technokraten ist überraschenderweise der einst als "Radikalprediger" verschriene Muktada Al Sadr. Der ehemalige Anführer der sogenannten Mahdi-Armee, die nach dem Sturz Saddam Husseins die US-Streitkräfte im Irak jahrelang bekämpfte, hatte sich 2008 zum Zwecke religiöser Studien, um sich mit dem Titel eines Ajatollah schmücken zu können, in den Iran abgesetzt. 2011 kehrte der Sproß der berühmten Al-Sadr-Predigerdynastie in den Irak zurück, wo er von Millionen armer Schiiten verehrt wird. Im Juli 2014, nachdem der IS die Stadt Mossul erobert und die irakischen Streitkräfte in die Flucht geschlagen hatte, rief Al Sadr die früheren Mitglieder seiner aufgelösten Mahdi-Armee erneut zu den Waffen. Zusammen mit Hunderttausenden anderen Freiwilligen bildeten sie jene Volksmobilisierungskräfte, die den drohenden Sturm des IS auf Bagdad verhindert haben und seitdem die Gegenoffensive der Armee unterstützen.

Höchste geistliche Instanz der irakischen Schiiten ist der 85jährige Großajatollah Ali Al Sistani, der zurückgezogen in der Pilgerstadt Nadschaf lebt. Seit langem bereitet sich der heute 42jährige Al Sadr darauf vor, nach dem Tod Al Sistanis an dessen Stelle zu treten. Im irakischen Parlament gibt es sogar eine Al-Sadr-Fraktion, die sich im Vergleich zum größeren schiitischen Block um Ex-Premierminister Nuri Al Maliki stets um Ausgleich mit den Sunniten im Lande bemüht. Während Al Sadrs Mahdi-Armee früher mit sunnitischen Aufständischen gegen die ausländischen Truppen gemeinsame Sache machte, wurde Al Maliki auf Betreiben Al Sistanis und der USA 2014 deshalb gestürzt, weil er als Premierminister die konfessionellen Spannungen geschürt hatte, statt zu ihrem Abbau beizutragen.

Die erhoffte Wende zum Besseren nach der Einsetzung Al Abadis ist jedoch nicht eingetreten. Der neue Premierminister konnte seine Reformvorhaben gegen den Willen der Parteien im Parlament und deren Vertreter in den Ministerien nicht durchsetzen. Wegen des fehlenden Fortschritts ist es in den beiden letzten Jahren immer wieder zu Massenprotesten gekommen. Vor zwei Wochen hat Al Sadr völlig überraschend ein Zelt in der sogenannten Grünen Zone, dem streng abgeriegelten Regierungsviertel im Herzen Bagdads, aufgeschlagen. Er kündigte an, solange zu bleiben, bis Al Abadi bereit sei, eine unabhängige Expertenregierung einzuberufen. Zugleich droht er indirekt damit, das schwer bewachte Areal von seinen Anhängern erstürmen zu lassen.

Auf Druck Al Sadrs hat Al Abadi schließlich eine neue Kabinettsliste vorgelegt. Doch die Parteien im Parlament weigern sich, die bisherigen Minister zu entlassen und Al Abadis Technokraten im Amt zu bestätigen. Wegen des Disputs um die Regierungsumbildung ist rd am 13. April im Parlament zu Handgreiflichkeiten gekommen. Am 14. April hat eine Mehrheit der Abgeordneten Parlamentssprecher Salim Al Dschaburi, den höchsten Sunniten im Staat, entlassen. Hinter der provokanten Aktion wird Ex-Premierminister Al Maliki vermutet, der sich bis heute nicht mit der eigenen Absetzung abgefunden hat und seit zwei Jahren am Stuhl seines Nachfolgers Al Abadi sägt. Allmählich bahnt sich im schiitischen Lager eine Entscheidungsschlacht zwischen dem nationalistisch gesinnten Al Sadr und dem schiitischen Chauvinisten Al Maliki an. Nur wenn sich Al Sadr durchsetzt, kann der Irak als einheitlicher Staat gerettet und der konfessionelle Graben zwischen schiitischer Mehrheit und sunnitischer Minderheit wieder zugeschüttet werden.

Unterdessen laufen die Vorbereitungen der USA auf die Vertreibung des IS aus Mossul auf Hochtouren. Bei einem unangemeldeten Besuch bei Al Abadi am 8. April in Bagdad erklärte US-Außenminister John Kerry, die Rückeroberung der Hauptstadt der irakischen Provinz Ninawa habe "oberste Priorität". Das Pentagon verlegte in diesem Zusammenhang am 9. April erstmals seit 1991 wieder strategische Bomber des Typs B-52 in die Region um den Persischen Golf, genauer gesagt nach Katar. Anläßlich eines US-Flottenbesuchs im indischen Goa am 11. April erklärte Barack Obamas Verteidigungsminister Ashton Carter, das Pentagon wolle die Militäroffensive gegen den IS "so rasch wie möglich beschleunigen" und werde auf das Parteiengerangel in Bagdad keine Rücksicht nehmen. Nach Meinung von General a. D. Ray Odierno, der von 2008 bis 2010 das Oberkommando der US-Streitkräfte im Irak innehatte, wird eine 50.000 Mann starke Bodentruppe für die Rückeroberung Mossuls erforderlich sein. Dies erklärte Odierno bei einer Diskussion zum Thema Irak, die der Nachrichtensender Fox News am 13. April in der neokonservativen Washingtoner Foundation for Defense of Democracies (FDD) veranstaltet hat.

Das Postengeschacher in der Grünen Zone und die Hegemonialbestrebungen der Amerikaner gehen an der Lebenswirklichkeit der meisten Iraker einfach vorbei. Dies verdeutlicht ein erschreckender Bericht, den die Minority Rights Group International und das Ceasefire Centre for Civilian Rights am 13. April veröffentlichten. Den beiden Nichtregierungsorganisationen zufolge sind aktuell 10 Millionen Iraker - Tendenz steigend - auf humanitäre Hilfe zum Überleben angewiesen; 3,4 Millionen von ihnen sind Binnenflüchtlinge, die entweder aufgrund des IS-Vormarsches im Jahr 2014 oder wegen früherer interkonfessioneller Gewaltexzesse unter Schiiten, Sunniten und Kurden die Heimat verlassen mußten. Das traurige Fazit der Studie lautet: "Vor dem Hintergrund begrenzter Regierungsfähigkeit und anhaltender Unsicherheit wird die Gelegenheit, welche die Rückeroberung von Territorien unter IS-Herrschaft ergibt, verspielt. ... Wenn man nicht endlich eine kohärente Strategie der Rückkehr und der Versöhnung ergreift, wird es innerhalb der nächsten Jahre mit der Möglichkeit eines demokratischen, multikulturellen Iraks vorbei sein".

15. April 2016


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