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NAHOST/1455: Muktada Al Sadr demonstriert in Bagdad seine Macht (SB)


Muktada Al Sadr demonstriert in Bagdad seine Macht

Spektakuläre Besetzung der Grünen Zone soll als Warnung dienen


In Bagdad haben sich am vergangenen Wochenende erstaunliche Szenen abgespielt, die durch die Live-Ausstrahlung im irakischen Fernsehen für einen Nachhall sorgen dürften. Abertausende Anhänger Muktada Al Sadrs haben die schwerbewachte und für Normalsterbliche völlig unzugängliche Grüne Zone, in der sich die wichtigsten Regierungsgebäude des Iraks sowie die meisten ausländischen Botschaften befinden, gestürmt und das Gelände rund 24 Stunden lang besetzt. Die Demonstranten, die wie eine Vielzahl ihrer Mitbürger seit Jahren nur begrenzt Zugang zu sauberem Wasser haben und unter Strommangel leiden, waren von den luxuriösen Zuständen auf dem zehn Quadratkilometer großen Areal am Tigris-Ufer, wo lange Jahre Saddam Hussein residierte, tief beeindruckt.

Für sie war es ein Ausflug in eine andere Welt, weshalb viele von ihnen mit ihren Mobiltelefonen Selfies vor und in den bekanntesten Prachtgebäuden schossen und an die Familienangehörigen daheim schickten. Die staatlichen Sicherheitskräfte haben zwar den Ausnahmezustand über die Hauptstadt ausgerufen, gegen den Ansturm der Massen, die irakische Fahnen schwenkten und ein Ende der Korruption forderten, waren sie jedoch machtlos. Acht Jahre nach der Auflösung seiner Mahdi-Armee scheint die Stunde des einstigen "Radikalpredigers" Al Sadr als neuer starker Mann im Irak gekommen zu sein.

Noch im März hatte Al Sadr selbst zwei Wochen lang innerhalb der Grünen Zone kampiert, um seiner Forderung nach Einsetzung einer Technokratenregierung Nachdruck zu verleihen. Seitdem versucht Premierminister Haider Al Abadi die bisherigen Minister, allesamt altgediente Funktionäre der verschiedenen kurdischen, sunnitischen und schiitischen Parteien, durch unabhängige Experten zu ersetzen. Die parlamentarischen Fraktionen, die nach dem bisherigen Quotensystem die staatlichen Pfründe unter sich aufteilten, wehren sich jedoch mit Händen und Füßen gegen das Reformvorhaben. In den letzten Wochen ist es im Parlament mehrmals zu Handgreiflichkeiten gekommen, in denen Abadi auch mit Flaschen beworfen wurde.

Als sich am 30. April im Bagdader Parlament kein Quorum für eine Abstimmung über die Regierungsumbildung fand, war Al Sadrs Geduld am Ende. Noch am Nachmittag berief er in der schiitischen Pilgerstadt Nadschaf, in der auch das 87jährige geistliche Oberhaupt der irakischen Schiiten, Ali Sistani, lebt, eine Pressekonferenz ein, auf der er die Blockade der Kabinettsumbildung durch "korrupte Politiker" beklagte und an den "großen Volksaufstand" appellierte, um dem ein Ende zu setzen. Kaum daß die Anhänger Al Sadrs, die seit Wochen vor den Toren der Grünen Zone demonstrierten, die Worte ihrer Ikone über Fernsehen und Radio vernommen hatten, stürmte die aufgebrachte Menschenmenge die Mauern und brach in das Gelände im Zentrum der Hauptstadt ein.

Zwar verhielten sich die Protestler weitgehend friedlich, doch einige haben Politiker, die sich dem Sadr-Kurs widersetzen, körperlich drangsaliert. Die meisten Parlamentarier konnten rechtzeitig in ihren teuren Geländewagen vor der aufgebrachten Menge fliehen. Die Tatsache, daß alle Demonstranten auf Anweisung Al Sadrs gleich am nächsten Tag die Grüne Zone wieder verließen, zeugt von dessen Macht. Der Umstand, daß der Sproß der Al-Sadr-Dynastie den ganzen Trubel in Bagdad von Nadschaf aus dirigierte, untermauert dessen bislang unausgesprochenen Anspruch, nach dem Ableben des alternden Al Sistani an dessen Stelle zu treten.

Für Premierminister Al Abadi sieht die Entwicklung weniger erfreulich aus. Fernsehbilder haben ihn in den fraglichen Stunden gezeigt, wie er unbehelligt von Irakfahnen schwenkenden Demonstranten allein und verlassen über das Gelände der Grünen Zone ging. Nach der Wiederaufnahme des regulären politischen Betriebs hat Al Abadi angeordnet, daß diejenigen Personen, die während der kurzen Besetzung Politiker attackiert, geplündert oder Sachbeschädigung begangen hatten, verhaftet werden sollten. Die Untätigkeit der Polizei bzw. ihre bisherige Unfähigkeit, den Befehl auszuführen, deutet darauf hin, daß Al Abadis Tage als Premierminister gezählt sind.

In einem aufschlußreichen Artikel, der am 22. April auf der Website des arabischen Fernsehsenders Al Jazeera unter der Überschrift "Sadr's challenge to Iraq's sectarian politics" erschienen war, hatte Ibrahim Al-Marashi erklärt, es sei Al Sadr mit seiner Forderung nach Reformen und einem Ende der politischen Klüngelei in der Grünen Zone gelungen, die beiden wichtigsten politischen Gruppierungen innerhalb des schiitischen Lagers, die Dawa-Partei von Abadi und Ex-Premierminister Nuri Al Maliki und den Obersten Islamischen Rat im Irak (Islamic Supreme Council of Iraq - ISCI) um Ammar Al Hakim, gegeneinander auszuspielen. Während sich Al Maliki, der wie kein zweiter die Mißwirtschaft und den politischen Niedergang der letzten zehn Jahre verkörpert, den Reformforderungen gegenüber taub zeigt und weiterhin gegen Parteikollegen Abadis intrigiert, hat Al Hakim offenbar die Zeichen der Zeit erkannt. In einer Stellungnahme vor einigen Tagen hat Al Hakim, dessen ISCI der mächtigen Miliz namens Badr-Brigade nahesteht, verlangt, daß sämtliche irakischen Minister einschließlich Regierungschef Abadi abtreten und durch Technokraten ersetzt werden sollen.

Beim Abzug aus der Grünen Zone haben die Sadristen im Namen der sogenannten Irakischen Nationalinitiative für den Fall, daß das Parlament die von ihnen anvisierte Kabinettsumbildung in den kommenden Tagen nicht durchbringt, die Entlassung von Abadi, des kurdischen Präsidenten des Iraks, Fuad Masum, sowie des sunnitischen Parlamentssprechers Salim Al Dschaburi und Neuwahlen gefordert. Sie haben auch damit gedroht, der Grünen Zone am kommenden Wochenende einen erneuten Besuch abzustatten, sollte sich bis dahin nichts verändert haben. Wie Nahost-Korrespondent Martin Chulov am 2. Mai in der britischen Tageszeitung Guardian berichtete, soll Ajatollah Al Sistani offenbar die aktuelle politische Krise in Bagdad für die letzte Gelegenheit halten, die Einheit des irakischen Staats vor dem inneren Zerfall zu retten. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob sich die nationalistischen Kräfte um Al Sadr und die letzten sunnitischen Gruppen im Parlament gegen die kurdischen Separatisten, die sunnitischen Gotteskrieger von der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) und dem Iran nahestehende schiitische Politiker wie Al Maliki durchsetzen können.

3. Mai 2016


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