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NAHOST/1471: Libysche IS-Hochburg Sirte dank NATO-Hilfe gefallen (SB)


Libysche IS-Hochburg Sirte dank NATO-Hilfe gefallen

Ausländische Militärintervention läßt Libyen nicht zur Ruhe kommen


Aus Libyen meldet die NATO den ersten Erfolg im Kampf gegen die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS). Milizionäre aus Misurata haben mit Unterstützung westlicher Streitkräfte die Stadt Sirte, von wo aus seit Anfang 2015 der IS den mittleren Abschnitt der libyschen Küste kontrolliert hatte, weitgehend erobert. Am Hafen harren nur noch einige IS-Scharfschützen aus, die offenbar den Märtyrertod der Aufgabe vorziehen. Leider ist jedoch zu erwarten, daß sich die Vertreibung des IS aus Sirte als Pyrrhussieg erweisen und Libyen auf Jahre hinaus ein Ort des Chaos und der Instabilität bleiben wird.

Offiziell begann die jüngste Militärintervention der USA in Libyen auf Bitten der neuen Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord - GNA) in Tripolis am 1. August, als Kampfjets, die von einem US-Flugzeugträger im Mittelmeer aus gestartet waren, und aus Jordanien kommende Drohnen Bomben und Raketen auf IS-Ziele in Sirte abwarfen. Die Luftangriffe, die in den Tagen danach verstärkt wurden, sollten den Misuratern zum Durchbruch verhelfen, die seit Anfang Juni die IS-Kräfte in Sirte in die Zange genommen hatten, ohne sie jedoch bezwingen zu können. Inoffiziell laufen die Vorbereitungen des Pentagons für den Einstieg in den libyschen Bürgerkrieg, der praktisch seit dem gewaltsamen Sturz und der Ermordung Muammar Gaddhafis herrscht, bereits seit 2014. Dies geht aus den Angaben des zuständigen Afrika-Kommandos des US-Verteidigungsministeriums (AFRICOM) hervor, die Joseph Trevithick am 10. August auf dem Blog War is Boring unter der Überschrift "The Pentagon's Timeline of Its Latest Libya Intervention Just Doesn't Line Up - Planning and strikes predate recent requests" analysiert hat.

Die GNA, deren Autorität weder von dem von Islamisten dominierten Allgemeinen Nationalkongreß (General National Congress - GNC) in Tripolis noch von dem aus allgemeinen Wahlen 2014 hervorgegangenen, in Tobruk sitzenden Repräsentantenhaus (House of Representatives - HoR) anerkannt wird, ist aus Gesprächen führender libyscher Persönlichkeiten unter der Leitung des deutschen UN-Sondervermittlers Martin Kobler in Marokko und Tunesien zur Jahreswende 2015/2016 entstanden. Ihre Hauptfunktion hat sie erfüllt, als sie sich Ende Juli an die "internationalen Gemeinschaft" um militärische Unterstützung bei den länger als erwartet andauernden Kämpfen um Sirte gewandt hat. Für die USA und die anderen NATO-Mächte gab dies formell grünes Licht aus Libyen, was in deren Plänen längst vorgesehen war und irgendwann kommen mußte.

Seit die GNA Anfang März per Schiff aus Tunis kam, sich auf einem Marinestützpunkt nahe Tripolis einquartierte und mit Hilfe bewaffneter Söldner die wichtigsten Ministerien der Hauptstadt besetzen ließ, verliert sie an Rückhalt unter der einheimischen Bevölkerung. Viele Libyer halten die GNA für ein trojanisches Pferd des Westens. Als Mitte Juli durch den Abschuß eines Hubschraubers und den Tod mehrerer französischer Elitesoldaten bekannt wurde, daß die NATO-Mächte Verbindungsoffiziere nicht nur in Misurata, sondern auch in Tripolis hatten, um die "nationale Armee" des CIA-Vertrauensmanns Khalifah Hifter im Kampf gegen die Ansar Al Scharia zu unterstützen, sah sich die GNA aufgrund spontaner Demonstrationen in mehreren Städten genötigt, den französischen Botschafter einzubestellen und eine Protestnote an Paris zu richten.

Bei einem Fernsehauftritt am 4. August hat der libysche Großmufti Sadek Al Ghariani, der dem GNC nahesteht, die US-Luftangriffe auf IS-Stellungen in Sirte als "illegale" und "inakzeptable" Einmischung in einen innermuslimischen Streit bezeichnet. Die Kritik Al Gharianis läßt aus Sicht der NATO die Gefahr erkennen, daß GNC und IS gemeinsame Sache gegen die ausländischen Eindringlinge machen könnten. In einem Interview, das am 12. August bei der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist, schlug der UN-Sondergesandte Kobler Alarm. Die Unterstützung der Bevölkerung für die GNA um Premierminister Fayiz Al Sarradsch breche zusehends zusammen, weil sie keine Verbesserung der Lebensverhältnisse herbeigeführt habe; vor drei Monaten hätten die Menschen in Tripolis 20 Stunden am Tag Strom gehabt, heute hingegen nur noch zwölf; darüber hinaus sei der Umtauschwert des Dinars von 3,5 für den Dollar auf 5 gefallen, so Kobler.

Der deutsche Spitzendiplomat ist an der negativen Entwicklung in Libyen nicht ganz unschuldig. Seine Bemühungen, den Ölexport wieder in Gang zu bringen, sind auf scharfe Kritik gestoßen. Kobler hat sich vor kurzem mit Ibrahim Jodran getroffen, dem Chef der Petroleum Facilities Guard (PFG), welche die wichtigsten Ölraffinerien und -verladehäfen Libyens schützen soll, sie jedoch seit drei Jahren wegen eines Streits um die eigenen Einnahmen aus den Verkaufserlösen quasi geschlossen hält. Mustafa Sanalla, Leiter der Libyan National Oil Corporation, hat Kobler bezichtigt, Jodran und die PFG, deren erpresserische Aktivitäten das Land in den letzten Jahren um Einnahmen in Höhe von 100 Milliarden Dollar gebracht haben sollen, auf unzulässige Weise aufgewertet zu haben. Der "Präzedenzfall" Koblers werde bei anderen bewaffneten Gruppen Schule machen, so Sanalla.

Auch wenn demnächst der Ölexport aus Libyen wieder anlaufen sollte, ist mit einer Wiederherstellung der staatlichen Einheit, wie sie zuletzt unter Gaddhafi existiert hat, noch lange nicht - wenn überhaupt - zu rechnen. Das Land bleibt vorerst ein Flickenteppich konkurrierender Stammesgruppen. Das Engagement ausländischer Militärs dürfte diese Entwicklung eher fördern als zurückdrängen. Dafür sprechen interessante Zahlen, die Nick Turse am 3. August in einem Artikel unter der Überschrift "U. S. Military Pivots to Africa and the News is Grim" bei TomDispatch über die drastisch zunehmenden Aktivitäten von US-Spezialstreitkräften in Afrika und deren Folgen präsentiert hat: 2007, als AFRICOM quasi gegründet wurde, kam es zu weniger als 400 "Terroranschlägen" auf dem afrikanischen Kontinent; 2015 gab es dagegen fast 2000. Zwischen 2010 und 2015 ist die Anzahl der in Afrika tätigen, länderübergreifenden und daher aus Sicht Washingtons zu bekämpfenden "Terrormilizen" von einer auf 43 gestiegen.

16. August 2016


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