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NAHOST/1478: Libyen-Untersuchung belastet David Cameron schwer (SB)


Libyen-Untersuchung belastet David Cameron schwer

Hifter und das HoR bringen Libyens Ölreserven unter ihre Kontrolle


Völlig überraschend hat am 12. September David Cameron mit sofortiger Wirkung sein Mandat als Abgeordneter der britischen Conservative Party im Londoner Unterhaus niedergelegt. In einer knappen Presseerklärung begründete der Ex-Tory-Chef den Schritt mit dem Wunsch, seiner Nachfolgerin als Premierministerin Therese May den nötigen Freiraum für die Bewältigung des Brexit-Fiaskos, sprich der Folgen des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union, das er durch die Abhaltung einer umstrittenen Volksbefragung am 23. Juni angerichtet hatte, zu verschaffen. Doch es gibt einen naheliegenderen Grund, warum Cameron mit nur 49 Jahren die politische Bühne fluchtartig verläßt. Am 13. September hat ein Sonderausschuß des britischen Parlaments das Ergebnis seiner Untersuchung über die Hintergründe und Auswirkungen des Libyen-Kriegs 2011 vorgelegt. Der Bericht ist für Cameron, dem die Autoren einen beträchtlichen Teil der Verantwortung für das Chaos in dem nordafrikanischen Land anlasten, absolut niederschmetternd.

Im Februar 2011 war es in der Islamisten-Hochburg Benghazi zu Protesten gegen das "Regime" Muammar Gaddhafis gekommen. Während der selbsternannte Revolutionsführer in den Teilnehmern der Proteste sunnitische Umstürzler sah, drängten Cameron, Nicola Sarkozy, seinerzeit Präsident Frankreichs, und Hillary Clinton, damals Außenministerin der Regierung von US-Präsident Barack Obama, auf eine gemeinsame Militäraktion, um ein angeblich drohendes Blutbad unter der Zivilbevölkerung zu verhindern. Daraus wurde recht schnell eine großangelegte, monatelange Operation, in deren Verlauf westliche Kampfjets und Spezialstreitkräfte am Boden den libyschen Rebellen zum "Regimewechsel" in Tripolis sowie zur Ermordung Gaddhafis verhalfen. Dazu heißt es im Bericht:

... eine begrenzte Intervention zum Schutz von Zivilisten verwandelte sich in eine opportunistische Strategie des Regimewechsels mit militärischen Mitteln.

(...)

Uns liegen keine Beweise vor, daß die Regierung des Vereinigten Königreichs eine angemessene Analyse der Art des Aufstands in Libyen durchgeführt hat. ... Sie konnte die tatsächliche Bedrohung, die vom Gaddhafi-Regime ausging, nicht verifizieren; sie hat Aspekte der Rhetorik Muammar Gaddhafis für bare Münze genommen; und sie hat es versäumt, die Rolle militant-extremistischer Islamisten beim Aufstand zu identifizieren. Die Strategie Großbritanniens basierte auf Fehlannahmen und einer unvollständigen Interpretation der vorliegenden Informationen.

(...)

Die Möglichkeit, daß militante Extremistengruppen versuchen würden, Profit aus dem Aufstand zu schlagen, hätte nicht nicht erst im Rückblick zu erkennen gewesen sein dürfen. Libysche Verbindungen zu transnationalen, militanten Extremistengruppen waren vor 2011 bekannt, denn viele Libyer hatten mit Al Kaida am Aufstand im Irak und in Afghanistan teilgenommen.

Im Bericht wird das Ergebnis der damaligen NATO-Einmischung in Libyen mit drastischen Worten beschrieben:

... politischer und wirtschaftlicher Kollaps, Bürgerkrieg unter den zahlreichen Milizen und Stämmen, eine humanitäre Krise mit zahlreichen Flüchtlingen, weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen, die Verbreitung der Waffen des Gaddhafi-Regimes in der Region und das Aufkommen des Islamischen Staats (IS) in Nordafrika.

(...)

Durch seine Entscheidungen im Nationalen Sicherheitsrat trägt Ex-Premierminister David Cameron die Hauptverantworung für das Versagen, keine kohärente Libyen-Strategie entwickelt zu haben.

Cameron, der sich unter Verweis auf den "Druck des Terminkalenders" als Premierminister geweigert hatte, während der achtmonatigen Libyen-Anhörungen des House of Commons Foreign Affairs Committee (FAC) vor diesem aufzutreten, schweigt nun zum Untersuchungsbericht. Dies überrascht wenig. Denn wie der konservative Kommentator Peter Oborne am 14. September in der Onlinezeitung Middle East Eye treffend angemerkt hat: "Sehr wenige politische Sterne, nicht einmal derjenige Tony Blairs, sind so tief und so schnell gefallen, wie der von David Cameron."

Währenddessen schlagen sich die einfachen Libyer mit den Folgen des von Cameron, Sarkozy und Clinton angerichteten Chaos herum. Derzeit versuchen Milizionäre aus Misurata, die Luftunterstützung der USA sowie Hilfe von britischen und amerikanischen Militärberatern am Boden erhalten und die im Auftrag der von den Vereinten Nationen anerkannten neuen Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Agreement - GNA) operieren, die letzten IS-Kämpfer aus der Stadt Sirte zu vertreiben. Die Rückeroberung Sirtes, die ursprünglich in wenigen Tagen beendet sein sollte, dauert bereits mehr als drei Monate und hat Hunderte von Menschen das Leben gekostet. Gleichzeitig versuchen vor der Küste die Besatzungen zahlreicher NATO-Schiffe, des nicht abreißenden Flüchtlingsstroms Herr zu werden.

Ende August hat sich das 2014 vom Volk gewählte, aus Angst vor Islamisten im selben Jahr von Tripolis ins östliche Tobruk geflohene Repräsentantenhaus (House of Representatives) geweigert, die mit Hilfe der "internationalen Gemeinschaft" erfolgte Einsetzung der GNA anzuerkennen. Statt dessen hat in den letzten fünf Tagen die libysche Nationalarmee, die für das HoR kämpft und vom einstigen Vertrauten Gaddhafis und mutmaßlichen CIA-Verbindungsmann General Khalifa Hifter geführt wird, in einer Blitzaktion die vier wichtigsten Ölverladehäfen Libyens am Mittelmeer - Brega, Ras Lanuf, Sidra and Zuwaytina - unter ihre Kontrolle gebracht. Berichten zufolge sind Hifters Männer dabei auf keinen nennenswerten Widerstand seitens der Petroleum Facilities Guard (PFG), die den Ölexport die letzten drei Jahre lang blockiert hatte, gestoßen.

Über den jüngsten Erfolg Hifters und des HoR ist der UN-Sondergesandte für Libyen, Martin Kobler, der sich Ende August mit dem umstrittenen PFG-Chef Ibrahim Jodran traf, um ihn zur Kooperation mit der GNA zu bewegen, nicht besonders glücklich. Laut Resolution 2259 des UN-Sicherheitsrats darf nur die GNA libysches Öl auf den Weltmarkt bringen, so Kobler. Daß sich die Verantwortlichen in Tobruk, die nicht nur von Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten, sondern auch von Frankreich und Italien Unterstützung erfahren, von den Ermahnung des deutschen Diplomaten beeindrucken lassen, darf bezweifelt werden. Einige Beobachter sehen in dem Vorstoß sogar den ersten gravierenden Schritt zur politischen Trennung Libyens in einen östlichen Teil mit Tripolis und einen westlichen Nachfolgerstaat mit Tobruk als Hauptstadt.

15. September 2016


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