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USA/1242: Petraeus löst McChrystal als Afghanistan-Kommandeur ab (SB)


Petraeus löst McChrystal als Afghanistan-Kommandeur ab

Obama nimmt Amerikas größten derzeitigen Kriegshelden in die Pflicht


Mit Spannung richtete sich am 23. Juni der Blick aller Politikinteressierten in den USA auf das Weiße Haus. Dort sollte sich kurz vor Mittag Ortszeit Stanley McChrystal, Präsident Barack Obamas oberster Militär in Afghanistan, zum Rapport melden, um jenen, am Tag davor veröffentlichten Artikel der Zeitschrift Rolling Stone zu erklären, in dem der Vier-Sterne-General und seine engsten Mitarbeiter mit zahlreichen beleidigenden und herablassenden Bemerkungen über führende Mitglieder der zivilen Führung, darunter den Vizepräsidenten Joseph Biden, den Nationalen Sicherheitsberater General a. D. James Jones, den US-Botschafter in Kabul, Generalleutnant a. D. Karl Eikenberry, und den Af-Pak-Sondergesandten Richard Holbrooke zitiert wurden. Es stellten sich alle die Frage, ob Obama McChrystal in die Wüste schicken oder auf seinem Posten belassen würde. Nach der Ankunft im Weißen Haus blieb McChrystal nicht lange - eine halbe Stunde höchstens - bevor er, ohne gegenüber den wartenden Journalisten eine Erklärung abzugeben, wieder davongefahren wurde.

Erst am Nachmittag erfuhr die Öffentlichkeit das Ergebnis der kurzen Unterredung Obamas und McChrystals im Oval Office. Der Präsident hatte sich die Entschuldigung des gefeierten ehemaligen Führungsoffiziers der US-Spezialstreitkräfte für den Rolling-Stone-Artikel angehört, dessen vorbereitetes Rücktrittsgesuch angenommen, sich für die Zusammenarbeit bedankt und den General in die Frühpensionierung entlassen. Danach gab es ohne McChrystal die allwöchentliche Afghanistan-Konferenz der Regierung, bei welcher Gelegenheit Obama Presseberichten zufolge in scharfen Tönen von seinem Kabinettskollegen und den sie beratenen Generälen ein Ende des "Gezänks" über den richtigen Kurs am Hindukusch verlangte.

Gegen zwei Uhr nachmittags kam es im Rosengarten des Weißen Hauses zu einer Pressekonferenz, bei der ein sehr ernst in die Kameras blickender Obama in Beisein von Vizepräsident Biden, Verteidigungsminister Robert Gates und Generalstabschef Admiral Michael Mullen den Rücktritt McChrystals bekanntgab und der Öffentlichkeit den neuen US-Oberbefehlshaber in Afghanistan präsentierte. Es handelt sich um keinen geringeren als General David Petraeus, der bis dahin McChrystals Vorgesetzter als CENTCOM-Chef mit Verantwortung für sämtliche US-Militäroperationen in der Region zwischen Afghanistan und dem Horn von Afrika war. Unter den Umständen hat Obama mit dieser Personalie den in mehrfacher Hinsicht besten Ausweg aus der schwierigen Position gefunden, in die ihn McChrystals Killertruppe mit ihren Macho-Man-Flapsigkeiten gebracht hatte.

Obama mußte McChrystal entlassen, sonst wäre seine Autorität als Präsident und Oberkommandierender der Streitkräfte untergraben worden. Bereits letztes Jahr hatte Obama zweimal McChrystals Eigenmächtigkeiten durchgehen lassen: einmal im Sommer, als der West-Point-Absolvent seinen für das Kriegskabinett in Washington erstellten Bericht über die Lage in Afghanistan der Presse zuspielte, um seiner Forderung nach einer Truppenaufstockung von 40.000 Mann in Afghanistan Nachdruck zu verleihen, und einmal im Herbst als er bei einem Auftritt auf einer Sicherheitskonferenz in London den Gegenentwurf Bidens, den größtmöglichen Abzug aller US-Streitkräfte aus Afghanistan bei erhöhtem Einsatz von Drohnenangriffen und Spezialstreitkräften im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, um Taliban und Al Kaida in Schach zu halten, als "kurzsichtig" und verfehlt abtat.

Doch gleichzeitig droht die Entlassung McChrystals negative Aspekte für den Demokraten Obama mit sich zu bringen. Sie könnte von der republikanischen Opposition als Wankelmütigkeit und mangelnde Zuversicht ob des Kriegskurses in Afghanistan ausgelegt werden, hatte doch Obama vor etwas mehr als einem Jahr, kurz nachdem er das Präsidentenamt übernommen hatte, auf Anraten von Verteidigungsminister Gates und Generalstabchef Mullen den damaligen Oberkommandierenden in Afghanistan, General David McKiernan, gegen McChrystal ausgetauscht, der 2003 bis 2008, während der Ära von George W. Bush, die geheimen, und, wie gemunkelt wird, schmutzigen Operationen der US-Spezialstreitkräfte im Irak geleitet hatte. Die Abberufung McKiernans war spektakulär, weil dieser eigentlich nichts getan hatte, was einen derart drastischen Schritt verdient hätte - begründet wurde das Ganze von Gates recht oberflächlich mit dem vermeintlichen Bedarf an "frischen Ideen" -, sondern weil es das erste Mal war, seit Harry Truman 1951 Douglas MacArthur aus Korea abzog, nachdem der Held des Zweiten Weltkrieges auf einen Atomschlag gegen die Volksrepublik China gedrängt hatte, daß ein US-Präsident einen Oberbefehlshaber von der Kriegsfront abzog. Nun hat Obama zweimal innerhalb von nur dreizehn Monaten zu dieser Maßnahme ergriffen.

Das läßt zwangsläufig Fragen hinsichtlich der Lage in Afghanistan aufkommen. Die Antworten klingen für Obama gar nicht gut. Dieser hat McChrystal dorthin geschickt, ihm statt die geforderten 40.000, immerhin 30.000 Mann zusätzlich zur Verfügung gestellt und trotzdem läuft alles schief. Zwar hat McChrystal durch die Einführung restriktiverer Gefechtsregeln dafür gesorgt, daß weniger Zivilisten durch NATO-Luftangriffe ums Leben kommen, trotzdem steigt aufgrund der verstärkten westlichen Militärpräsenz die Zahl der getöteten ausländischer Soldaten, afghanischer Polizisten, Armeeangehörigen, Aufständischen und Zivilisten unaufhörlich. Im Juni hat nicht nur die Zahl der in Afghanistan gefallenen US-Soldaten erstmals die Marke 1000 überschritten, der Konflikt wurde zudem offiziell zum längsten Krieg der amerikanischen Geschichte. Am Tag der Entlassung McChrystals kamen in Afghanistan acht US-Soldaten ums Leben, was den Juni 2010 für die NATO bereits jetzt zum blutigsten Monat seit dem Einmarsch im Oktober 2001 macht. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Associated Press starben in den ersten 23 Tagen des Juni 76 alliierte Soldaten, darunter 46 Amerikaner. Der bisher verlustreichste Monat für die NATO war der Juli 2009, als 75 Soldaten bei Gefechten oder durch Taliban-Minen ums Leben kamen.

McChrystal hatte sich ursprünglich zwölf Monate gegeben, um das Momentum der Taliban zu stoppen und den Kriegsverlauf zugunsten der NATO zu wenden. Daran ist er gescheitert, auch wenn es aus seinem Fankreis lautet, unter ihm hätten die Spezialstreitkräfte bei ihren nächtlichen Razzien mehr ranghohe Mitglieder des Aufstands liquidiert als je zuvor. Die von McChrystal großangekündigte Operation Moshtarak, die im Februar begann und in Rahmen derer 15.000 Soldaten die Region um Mardschah in der Provinz von den Taliban "säubern", sie "halten" und "wiederaufbauen" wollten, um dort eine Insel der Sicherheit zu schaffen, ist grandios mißlungen. Von Mardschah sind bis heute die Taliban immer noch nicht vertrieben, vielmehr greifen sie die Stellungen und Patrouillen der NATO-Truppe regelmäßig an und beherrschen die Gegend nachts. Nicht umsonst mußte McChrystal Anfang Juni die geplante Großoffensive, mit der im Sommer die Taliban aus ihrer traditionellen Hochburg Kandahar, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, gejagt werden sollten, auf frühestens September verschieben.

Diese Entscheidung hat nicht nur in Washington Zweifel aufkommen lassen, ob Obamas erklärtes Ziel, im Juli 2011 - und damit rechtzeitig vor dem Auftakt zum einjährigen Kampf um die US-Präsidentenwahl im November 2012 - mit dem Abzug der amerikanischen Streitkräfte zu beginnen, eingehalten werden kann. Im Rolling-Stone-Artikel hatte Reporter Michael Hastings - ohne McChrystal beim Namen zu nennen - geschrieben, das erklärte Ziel des Weißen Hauses hinderte "die Befürworter der Aufstandsbekämpfung nicht daran, große Träume zu hegen", nämlich von einer "deutlichen Aufstockung" des US-Militäreinsatzes am Hindukusch im kommenden Jahr. Man kann sich gut vorstellen, daß zu den Wunschträumen von McChrystal und Co. auch die Erlaubnis, mit US-Spezialstreitkräften auf Al-Kaida-Jagd in Pakistan zu gehen, gehörte.

Von Obama war es auf jedem Fall ein geschickter Schachzug, Petraeus als Oberkommandierenden nach Kabul zu entsenden. Der Vier-Sterne-General ist ein Liebling der republikanischen Partei und der konservativen Medien und wird sogar als potentieller Präsidentschaftskandidat der Grand Ol' Party (GOP) gehandelt. Petraeus gilt als Aufstandsbekämpfungskoryphäe der USA schlechthin, seit es ihm 2007/2008 gelungen ist, für ein Abflauen des Irakkrieges zu sorgen. Die Tatsache, daß Petraeus dies weniger mit den zusätzlichen Zehntausenden Soldaten, die ihm George W. Bush zur Verfügung stellte, als vielmehr durch informelle, mit Geld, Ausrüstung und politischer Anerkennung erkaufte Waffenstillstände mit den sunnitischen und schiitischen Milizen erzielte, wird häufig dabei übersehen. Also hat sich Obama Petraeus' gleich als potentiellen Wahlkampfgegner entledigt, indem er ihn nach Afghanistan an die Front schickte. Dort soll der Armeegeneral wie damals unter Bush für irgendeine Wendung zum Positiven sorgen, die man der kriegsmüden US-Bevölkerung als "Sieg mit Ehre" verkaufen kann, um bald darauf mit dem versprochenen Abzug der Truppen zu beginnen. Dafür werden vermutlich Gespräche mit der Talibanführung erforderlich sein, doch um die Kontaktaufnahme bemüht sich bereits Afghanistans Präsident Hamid Karsai. Und sollte der Krieg in Afghanistan doch noch verlustreicher werden und sich weiter in die Länge ziehen, wird Obama immerhin auf Petraeus zeigen und behaupten können, die US-Regierung habe ihren besten Mann geschickt und selbst er habe dort nichts ausrichten können.

24. Juni 2010