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USA/1259: Ahmadinedschad rührt mit UN-Rede an den Tabus um 9/11 (SB)


Ahmadinedschad rührt mit UN-Rede an den Tabus um 9/11

Zur Schau gestellte Empörung soll von unangenehmen Fragen abschrecken


Mit seiner Rede am 24. September vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in deren Hauptquartier am Ufer des East River in New York hat Mahmud Ahmadinedschad weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Die Art, wie der iranische Präsident das Thema der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 behandelte, hat den Vertretern des Westens offenbar nicht geschmeckt. Noch bevor Ahmadinedschad seine Rede beendete hatte, verließ aus Protest die Delegation der USA den Saal, gefolgt von denen Australiens, Costa Ricas, Israels, Kanadas, Neuseelands sowie aller 27 Länder der Europäischen Union (die der restlichen 159 UN-Mitgliedsländer blieben sitzen).

In einer Stellungnahme verurteilte Kanadas konservativer Außenminister Lawrence Cannon die 9/11-Ausführungen Ahmadinedschads als "einen krassen Verstoß gegen internationale Standards und gegen den eigentlichen Geist der UN" aufs Schärfste, während Mark Kornblau, der Sprecher der US-Delegation bei den Vereinten Nationen, dem iranischen Präsidenten vorwarf, "abscheuliche Verschwörungstheorien und antisemitische Verleumdungen auszustoßen, die ebenso widerwärtig und wahnwitzig wie vorhersagbar" seien. Mit der unhinterfragten Übernahme solcher Stichworte berichtete die westliche Presse über den Eklat. Der linksliberale Londoner Guardian, eine der renommiertesten Zeitungen überhaupt, behauptete in seiner Überschrift, Ahmadinedschad habe die USA bezichtigt, die 9/11-Operation selbst durchgeführt zu haben, und im eigentlichen Text schrieb der Korrespondent Ed Pilkington aus New York, der iranische Präsident habe sich bei seiner Rede entschieden, "mehrere alte Verschwörungstheorien in Bezug auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu wiederholen".

Die empörte Reaktion der westlichen Politiker auf Ahmadinedschads Aufgreifen des 11. September und die ihnen gefällige Berichterstattung der Presse in ihren Ländern weist auf die Empfindlichkeit des Themas hin. Der Vorwurf, der iranische Präsident habe "mehrere alte Verschwörungstheorien" aufgegriffen, richtet sich an die falsche Adresse. Es gibt zum Thema 11. September nur Verschwörungstheorien. Als nach den Anschlägen die NATO auf Bitten der Regierung George W. Bushs den Verteidigungsfall ausrief, hatte der damalige US-Außenminister General a. D. Colin Powell behauptet, Washington sei im Besitz von Beweisen für die Verantwortung des Al-Kaida-"Netzwerks" Osama Bin Ladens und würde diese später den entsprechenden Stellen präsentieren. Bis heute ist dies nicht geschehen.

Ebenso hat es bis heute keine vernünftige Erklärung gegeben, warum die US-Luftwaffe die entführten Passagierflugzeuge trotz rechtzeitiger Alarmmeldung nicht vor den Angriffen auf das Pentagon in Arlington und das New Yorker World Trade Center abfing. An der Verläßlichkeit des Inhalts des 2004 veröffentlichen Berichts der zwei Jahre zuvor von Bush jun. eingerichteten, "unabhängigen" Untersuchungskommission herrschen erhebliche Zweifel, nicht zuletzt seit 2006 die beiden Vorsitzenden, der ehemalige republikanische Gouverneur von New Jersey, Thomas Keane, und der ehemalige demokratische Senator aus Indiana, Lee Hamilton, bekanntmachten, daß sie bei ihrer Ermittlungsarbeit von den Verantwortlichen beim NORAD, dem Oberkommando für den Luftraum über dem nordamerikanischen Kontinent, über die Abläufe an jenem historischen Vormittag regelrecht belogen wurden.

Folglich hat Ahmadinedschad keine "alten" Verschwörungstheorien verbreitet, sondern lediglich die drei gängigsten aufgelistet: erstens, eine "mächtige und komplexe Terroristengruppe" hätte den gigantischen Sicherheitsapparat der USA überlistet und die Schreckenstat allein durchgeführt; zweitens "Elemente der US-Regierung" hätten den Anschlag "orchestriert", um Amerika vor dem wirtschaftlichen Untergang zur retten, die Kontrolle Washingtons über den Nahen Osten zu bewahren und dem "zionistischen Regime" in Israel zur Hilfe zu kommen; und drittens, daß eine "terroristische Gruppe" den Anschlag durchgeführt hätte, während Washington sie hätte gewähren lassen und "sich Vorteil aus der Situation verschafft". Der iranische Präsident mag übertrieben haben, als er erklärte, die meisten Amerikaner glaubten an die zweite der drei Theorien, doch Tatsache ist, daß ein großer Teil der Menschen in den USA und nicht nur dort, aufgrund der zahlreichen Widersprüche und Ungereimtheiten in der offiziellen Version von einer Verwicklung Washingtons in die Anschläge - ob passiv oder aktiv, sei dahingestellt - ausgeht.

Der Hauptvorwurf Ahmadinedschads, so schlimm und bedauerlich die 3000 Toten der Flugzeuganschläge sein mögen, sie könnten niemals die Überfälle der USA und ihrer Verbündeten auf Afghanistan und Irak rechtfertigen, wo Hunderttausende Menschen inzwischen gewaltsam ums Leben gekommen sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Anfangs begründete Bush jun. den Einmarsch in Afghanistan mit der Jagd auf Osama Bin Laden, den angeblichen Drahtzieher der Anschläge. Der Al-Kaida-Chef würde "tot oder lebendig" zur Strecke gebracht bzw. "aus seiner Höhle ausgeräuchert" werden, versprach Bush. Wenige Jahre später - Bin Laden war immer noch nicht gefaßt und die US-Streitkräfte richteten sich auf einem dauerhaftem Verbleib am Hindukusch ein - reagierte der selbsternannte "Kriegspräsident" Bush barsch auf die Frage eines Reporters nach dem Stand der Jagd auf Bin Laden mit der Zurechtweisung, bei der Afghanistan-Mission gehe es um mehr als nur einen Mann.

Derselbe Bush war es auch, der zusammen mit seinen Kabinettskollegen Dick Cheney, Colin Powell, Donald Rumsfeld und Condoleezza Rice und seinem britischen Verbündeten, dem Premierminister Tony Blair, gezielt durch wiederholte Äußerungen den Eindruck erweckte, Saddam Hussein könnte in die Flugzeuganschläge verwickelt gewesen sein, man müsse ihn und seine Regierung stürzen, bevor sie Al Kaida mit "Massenvernichtungswaffen" austatteten und großes Unheil über die Welt brächten. Über deren Verbrechen empört sich kein westlicher Politiker. Im Gegenteil wurde Blair, der sich dieser Tage anläßlich der Veröffentlichung seiner Memoiren für einen Krieg gegen den Iran als letzte Option zur Lösung des sogenannten "Atomstreits" stark macht, am 13. September in Philadelphia mit der Liberty Medal des National Constitution Center geehrt. Die Medaille wurde ihm höchstpersönlich vom ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton überreicht. Die Empörung spart man für unzivilisierte Barbaren wie Ahmadinedschad auf, welche die Dreistigkeit haben, in aller Öffentlichkeit auf die Heuchelei des Westens hinzuweisen.

24. September 2010