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USA/1292: Krise des Kapitalismus - Triumph sozialer Grausamkeiten (SB)


Ehemals erzkonservative Positionen heute politischer Standard


So sehr sich die kapitalistische Systemkrise jeder theoretischen und praktischen Erklärung oder Handhabung seitens der Protagonisten dieser Verwertungsordnung entzieht, so zielsicher betreiben sie die Nutzung der unabsehbaren Verwerfungen zu Lasten der Opfer dieser Raubstruktur. In der aktuellen Schuldenkrise der US-Wirtschaft kulminiert eine jahrzehntelang in Reaktion auf die sich zuspitzenden Widersprüche vorangetriebene gesellschaftliche Umverteilung von unten nach oben, die mit immer neuen Bürden für die verarmenden Teile der Bevölkerung die bestehenden Verhältnisse in die Zukunft fortzuschreiben sucht.

Im erbitterten Ringen der beiden staatstragenden Lager um parteipolitischen Zugewinn kann von einem Kompromiß kaum die Rede sein. Es gelang den Republikanern, sich auf breiter Front durchzusetzen, da ihnen das Weiße Haus im Streben nach systemerhaltender Kompetenz geradezu den Rang ablief. Die Beteiligung der amerikanischen Oberschicht an den Krisenkosten wurde verhindert, nachdem selbst das von den Demokraten ursprünglich geforderte Stopfen von Steuerschlupflöchern unter den Tisch fiel. Die jüngst verlängerten Steuervergünstigungen für die Reichen aus der Bush-Ära geben den Standard vor, hinter den die Eliten nicht mehr zurückweichen. Die mit der Erhöhung der Verschuldungsgrenze einhergehenden Haushaltskürzungen von bis zu vier Billionen Dollar im Laufe der nächsten zehn Jahre zerstören die ohnehin fragmentierten Sozialsysteme und treiben die Verelendung immer größerer Bevölkerungsteile in der am stärksten polarisierten Gesellschaft der westlichen Welt voran.

Getrieben vom rechten Flügel der Republikaner wurde der politische Diskurs auf den Schuldenstreit und mithin den Abbau staatlicher Leistungen eingeengt. So reaktionär die Tea-Party-Bewegung auch sein mag, verdankt sich ihr Erfolg wie der ähnlich gelagerter Fraktionen in Europa doch in erster Linie ihrer Korrespondenz mit dem von den gesellschaftlichen Eliten und dem politischen Establishment favorisierten Ausbeutungszwang und der herrschaftssichernden Bezichtigung. Indem die Bringschuld den schwächeren Bevölkerungsteilen zugewiesen wird, verewigt man deren Abhängigkeit und Zurichtung.

In Washington debattiert man nicht mehr darüber, in welchem Ausmaß die Steuern angehoben werden sollen, da dies selbst für die reichsten Bevölkerungsschichten in den Rang eines Tabus gesetzt worden ist. Ebensowenig steht zur Diskussion, ob die Staatsausgaben gekürzt werden, sondern ausschließlich, in welchem Ausmaß das zu geschehen hat. Die Vereinigten Staaten führen derzeit drei Kriege gleichzeitig, setzen auf Kernkraft, pfeifen auf den Umweltschutz, schotten sich gegen Migranten ab. Wie die Gesellschaft der meisten europäischen Staaten driftet auch die US-amerikanische immer weiter nach rechts, wobei sich diese Tendenz nicht in dem klassischen Spektrum erfassen läßt, als handle es sich um eine Pendelbewegung oder einen zyklischen Verlauf. Vielmehr sind ehemals konservative Positionen zur Basis der politischen Mitte geworden, die das Lehen befristeter Teilhabe an Wohlstand, Existenzsicherung und liberal konnotierter Gesinnung allenthalben storniert.

Als Barry Goldwater, der als Gründervater der modernen konservativen Bewegung gilt, 1964 für das Präsidentenamt kandidierte, hielt man seine Auffassungen für derart extrem, daß er eine herbe Niederlage einstecken mußte. Verglichen mit den republikanischen Bewerbern von heute würde er indessen beinahe schon als gemäßigt eingestuft. Sein Pochen auf nationale Stärke, niedrige Steuern und milde Regulation sind längst zum Repertoire beider großen Parteien geworden und seine Position beispielsweise in der Abtreibungsfrage gälte heutzutage vielen Landsleuten als linksliberal. Im Jahr 1996 wurde er im Gespräch mit seinem Parteikollegen Bob Dole mit den Worten zitiert: "Wir sind die neuen Liberalen der Republikanischen Partei. Kannst du dir das vorstellen?" [1]

Franklin Roosevelt hatte den New Deal geschmiedet, Lyndon Johnson die Great Society ausgerufen, die Medicare, Medicaid und eine Reihe weiterer Sozialprogramme etablierte. Richard Nixon und Gerald Ford weiteten einige von ihnen aus. Damit endete der moderate Ausbau des US-amerikanischen Sozialstaats, denn mit Ronald Reagan, der Jimmy Carter aus dem Weißen Haus vertrieb, setzte eine massive Gegenbewegung ein, die nicht mehr enden sollte. Unter Reagan wurde der Spitzensatz der Steuern von zuvor 70 Prozent drastisch um die Hälfte gesenkt und das sogenannte soziale Netz zerfetzt. Das änderte sich auch nicht in der Amtszeit des demokratischen Präsidenten Bill Clinton, der das Ende "der Wohlfahrt, wie wir sie kennen", ausrief. Er trieb eine wirtschaftsfreundliche Handelspolitik voran, die eine Verlagerung vieler Produktionszweige ins Ausland beschleunigte und die Gewerkschaftsarbeit in den USA ruinierte.

Daß die Staatsverschuldung in der Vergangenheit keine Bürde, sondern im Gegenteil das Lebenselixier der Vereinigten Staaten war, unterstrich die Bush-Administration mit ihrer eskalierenden Kriegsführung, die Hunderte Milliarden Dollar verschlang und unter Barack Obama ihre Fortsetzung fand. Unterdessen wurden die Lebensverhältnisse für die Mehrzahl der US-Amerikaner zunehmend prekär, da die Löhne sanken, Arbeitslosigkeit um sich griff und zugleich die Sozialleistungen gekürzt wurden.

In den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts näherten sich die Einkünfte der armen und reichen Bevölkerungsschichten einander tendentiell an, in den Fünfzigern und Sechzigern blieb das Verhältnis relativ konstant. In den siebziger Jahren kehrte sich der Trend um, worauf die soziale Spaltung der Gesellschaft immer weiter aufklaffte. Konnten 1976 die reichsten 1 Prozent der Amerikaner 9 Prozent des Nationaleinkommens auf sich vereinen, so fließen heute bereits 24 Prozent in ihre Taschen. Der Kapitalismus zahlt sich folglich nach wie vor aus - wenngleich natürlich nicht für alle.

Fußnote:

[1] http://www.csmonitor.com/USA/Politics/2011/0731/America-s-big-shift-right

2. August 2011