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BERICHT/121: Die Linke - Eurokrise im Gespräch (SB)


"Wohin steuert Europa? EU-Krisenpolitik auf Katastrophenkurs!"

Podiumsdiskussion im Hamburger Rathaus am 15. September 2012

Podium der Veranstaltung - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christiane Schneider, Maria Syrakou, Sabine Wils
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Bezichtigung Griechenlands als eine Nation, deren Bewohner über ihre Verhältnisse lebten und die Pleite deshalb allein zu verantworten hätten, befördert einen doppelten Zweck. Sie blendet den Klassencharakter der griechischen Gesellschaft ebenso aus wie die ökonomische und politische Zurichtung des peripheren EU-Landes durch die hochentwickelten europäischen Industriestaaten, allen voran Deutschland. Das haltlose Versprechen, Griechenland werde von der in Aussicht gestellten Stärke des Euroraums im Verhältnis zu Nichtmitgliedern des Währungsverbunds profitieren, ist längst der bitteren Lektion gewichen, daß die produktiv unterlegenen Länder durch die Gemeinschaftswährung in Ketten gelegt wurden. Der Möglichkeit beraubt, ihren ökonomischen Nachteil durch Abwertung ihrer Währung abzumildern, sind sie der Exportoffensive der wirtschaftlich dominierenden Volkswirtschaften ausgeliefert.

Zu der ökonomischen Zwangsläufigkeit, mit der die griechische Wirtschaft unter diesen Umständen in die Knie gezwungen wurde, gesellt sich die politische Absicht, ein Exempel zu statuieren. Griechenland über die Klinge der Ratingagenturen springen zu lassen zwingt die kollaborierende Regierung in Athen, die eigene Bevölkerung in bislang ungekanntem Maße auszupressen und das Land de facto als Protektorat den Gläubigern und europäischen Führungsmächten zu überantworten. Die in die Verelendung getriebene griechische Bevölkerung ist zugleich eine Drohung an die Adresse der Spanier und Portugiesen, Iren und Italiener, jedwede Einschränkung ihrer Lebensverhältnisse widerspruchslos hinzunehmen, wollen sie nicht das Schicksal der Griechen teilen.

Der deutschen Bevölkerung, die sich ungeachtet der auch hierzulande um sich greifenden Verarmung bislang mehrheitlich glücklich schätzen darf, ihr Dasein auf vergleichsweise höherem Niveau zu fristen, setzt man die Narrenkappe kulturalistischen Hochmuts auf. Im Trommelfeuer der Hetzkampagne gegen die "Pleitegriechen" geht die Warnung unter, daß die Leiden der griechischen Bevölkerung ihre Fortsetzung in den anderen südlichen Ländern und schließlich auch in Deutschland finden werden. Der forcierten Ausplünderung und Entwürdigung Einhalt zu gebieten, ist ein Gebot der Humanität. Indessen entschlüsselt erst die ökonomische und politische Analyse der Offensive kapitalistischer Verwertung im Euroraum den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem relativen Wohlstand der bundesdeutschen Gesellschaft und der Drangsalierung der griechischen.

Internationale Solidarität erfordert daher über mitmenschlichen Altruismus hinaus eine grundsätzliche Positionierung. Solange man das eigene Wohlergehen zum Maß aller Dinge macht, sitzt es sich allemal bequem auf dem Rücken der Griechen und Portugiesen, Spanier, Iren und Italiener. Selbst das Kalkül, daß man besser heute die Stimme erhebt, bevor es einen morgen selber trifft, ist durchsetzt von korrumpierbaren Vorteilserwägungen. So wird der Schulterschluß gegen Ausbeutung und Unterdrückung zwangsläufig scheitern, sollte er andere Gründe zu Rate ziehen als die uneingeschränkte Negation jeden Stiefels im Nacken, gleich ob sein Besitzer Uniform oder Nadelstreifen trägt, deutsch oder griechisch spricht.

Inzwischen hat das Hohelied deutscher Tüchtigkeit, die sich von Schmarotzern nicht die wohlverdiente Butter vom Brot nehmen läßt, ihren Zweck erfüllt. Die Lage in Griechenland steht nicht länger im Fokus hiesigen Medieninteresses, das sich an der verbalen Prügelorgie gegen griechische Ansprüche auf ein Leben in Würde abgearbeitet hat. Gegen den Strom wetterwendischer Journaille zu schwimmen ist folglich geradezu ein Gebot der Stunde, soll die Auspressung aller schwächeren Länder der Eurozone von deutscher Hand nicht in Vergessenheit geraten.

Sitzungssaal im Hamburger Rathaus - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ungewöhnliches Treffen im Zentrum merkantilen Reichtums
Foto: © 2012 by Schattenblick

Am 15. September lud die Bürgerschaftsfraktion der Partei Die Linke zu einer Veranstaltung ins Hamburger Rathaus ein. Unter dem Thema "Wohin steuert Europa? EU-Krisenpolitik auf Katastrophenkurs!" sprachen Christiane Schneider von der Hamburger Linksfraktion und die Europaabgeordnete Sabine Wils zur Sparpolitik in der Hansestadt und zum Charakter der aktuellen Krise. Als Gäste berichteten Maria Syrakou von Synaspismos Athen und Francisco Alves von El Bloco Portugal über die Situation in ihren Ländern. Ziel dieser Vortrags- und Diskussionsveranstaltung war es, die Auswirkungen der bislang betriebenen Politik auf das tägliche Leben zu erörtern, die wesentlichen Fehler dieser Strategie herauszuarbeiten, die Rolle Deutschlands offenzulegen und mögliche Alternativen ins Auge zu fassen.

Zur Einführung warf Christiane Schneider ein Schlaglicht auf die sozialen Verhältnisse Hamburgs, das als eine der reichsten Städte Europas Probleme wälzt, die aus Sicht einer übergroßen Mehrheit der Bevölkerung Griechenlands oder Portugals wie Luxussorgen anmuten mögen. Dies vorausgesetzt dürfe man dennoch nicht ignorieren, daß sich selbst insgesamt reiche Regionen auf einer gefährlichen Rutschbahn in die Zerstörung von Sozialsystemen und die völlige Spaltung der Gesellschaft befänden. Die Hamburger Haushaltsberatungen und Finanzplanungen stehen unter dem Diktat der Schuldenbremse, die katastrophale Folgen für die Hansestadt zeitige. Schon seien 230.000 Menschen direkt von Armut betroffen, wobei sich ihre Haushalte in bestimmten Stadtteilen konzentrierten, die dadurch mit vielen sozialen Problemen beladen seien. Während diese Menschen und Stadtteile besonderer Unterstützung bedürften, werde diese nicht geleistet und in den nächsten Jahren fast vollständig weggekürzt.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christiane Schneider, Maria Syrakou
Foto: © 2012 by Schattenblic

Zu den Hauptopfern gehörten Kinder und Jugendliche, zahlreiche Projekte, die den Zusammenhalt in den betreffenden Stadtteilen fördern, seien akut gefährdet. Zudem werde jeder Anspruch auf eine aktive Beschäftigungspolitik aufgegeben. Da zugleich die Bezahlung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst begrenzt und dort zahlreiche Stellen gestrichen werden sollen, verschlechtere sich die Qualität der dringend erforderlichen Dienstleistungen. Bei der öffentlichen Infrastruktur herrsche ein Sanierungsstau, der sich künftig weiter verschärfen wird. Komme dieser Kürzungsschub zum Zuge, richte er in Hamburg regelrechte Verwüstungen an. Abschließend rief Christiane Schneider zur Teilnahme an einem bundesweiten Aktionstag "UmFairteilen - Reichtum besteuern" am 29. September auf, an dem es ein Zeichen gegen die Kürzungspolitik zu setzen gelte.

Sabine Wils stellte in ihrem Vortrag den Versuch, die Eurokrise auf die Finanzkrise zu reduzieren, als eine unzulässige Verkürzung dar. Sie verwies auf das wachsende wirtschaftlichen Ungleichgewicht im Euroraum und bezeichnete den Neoliberalismus als Ursache der Krise. Der Vertrag von Lissabon schreibe das kapitalistische Wirtschaftssystem der Europäischen Union fest, während die Agenda 2010 die Umverteilung von unten nach oben forciere. So wurden die Lohnstückkosten in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern gesenkt, wodurch Deutschland seine Exportchancen verbessert und sich Wettbewerbsvorteile im europäischen Binnenmarkt habe. Die Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs wie auch der Dienstleistungen in der EU werde durch die Währungsunion mit einer Klammer versehen, die die Länder der Peripherie unter massiven Druck setzt. Aufgrund schwindender Kaufkraft der Bevölkerung sinken die Gewinnmöglichkeiten der sogenannten realen Wirtschaft, so daß spekulative Anlagenfelder eröffnet werden. Die Finanzkrise führe zu einer Neubewertung der Anlagen der Finanzkreise, viele Euro-Länder würden als überschuldet bewertet und gerieten als Spekulationsobjekte ins Visier.

Die Referentin stellte einen Katalog von Forderungen vor, die von einer Regulierung des Finanzmarkts über das Verbot bestimmter Spekulationen bis hin zu einer Vergesellschaftung der Banken reichten. Man müsse ein Hauptaugenmerk auf Lohnerhöhungen in Deutschland legen und zugleich einen Länderfinanzausgleich in der EU herbeiführen. Unternehmen müßten stärker besteuert und zur Finanzierung der Sozialsysteme herangezogen werden. Auch in Deutschland gelte es, die die Reichen zur Kasse zu bitten. Breche der Euro zusammen, könnten deutsche Unternehmen ihre Produkte nicht länger in Süd- und Südosteuropa absetzen. Bekäme Deutschland wieder eine eigene Währung, wäre diese um 30 Prozent aufgewertet und damit auch gegenüber Ländern außerhalb der EU nicht mehr konkurrenzfähig. Da 50 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts auf dem Export beruhen, geriete Deutschland in eine tiefe Wirtschaftskrise mit katastrophalen Folgen auch für andere Staaten, warnte Sabine Wils.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Francisco Alves
Foto: © 2012 by Schattenblick

Francisco Alves zeichnete ein düsteres Bild der sozialen Verwerfungen in Portugal, die längst dem aus Griechenland bekannten Szenario auf erschreckende Weise gleichen. Die Regierung in Lissabon unterwirft sich den ihr auferlegten Sparzwängen und bürdet unter dem Damoklesschwert der Herabstufung ihrer Kreditwürdigkeit der Bevölkerung immer neue Lasten auf. Auf diese Weise entfalte das in Athen statuierte Exempel seine verheerende Folgewirkung auch in seinem Land, so der Referent. Mit der propagandistischen Faustformel, griechische Verhältnisse abwenden zu wollen, führe man nahezu identische soziale Verwerfungen herbei. So werde das Lohnniveau gesenkt, die Arbeitsbelastung gesteigert und der Rechtsbestand ausgehebelt, während zugleich massenhaft Arbeitsplätze verloren gingen und immer mehr Menschen über keine angemessenen Einkünfte mehr verfügten. Insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit nehme epidemische Ausmaße an und habe längst einen Stand erreicht, daß man von einer Generation ohne Hoffnung sprechen könne. Während somit der Bedarf an staatlicher Unterstützung dramatisch wachse, werde diese rigoros beschnitten. Grassierende Armut bis hin zur Unterernährung, Krankheiten, zerstörte berufliche Karrieren, soziale Ausgrenzung und der Verlust von Lebensperspektiven kennzeichneten weite Teile der portugiesischen Gesellschaft. Indessen formiere sich Widerstand, der im März dieses Jahres in einen Generalstreik gegen die Bereitschaft der Regierung mündete, sich dem Diktat der Troika zu beugen. Am 15. und 16. September brachten Hunderttausende Menschen ihre Wut auf die Straßen, der Rücktritt der Regierung Coelho wurde ebenso gefordert wie der Troika beschieden wurde, sie möge sich zum Teufel scheren.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Maria Syrakou
Foto: © 2012 by Schattenblick

Maria Syrakou hob in ihrem Vortrag das Interesse der griechischen Linken hervor, sich in Europa zu vernetzen. Die Probleme in Deutschland seien zweifellos Teil eines gesamteuropäischen Konflikts, weshalb eine Zusammenarbeit unverzichtbar sei, die von den Interessen der Menschen und nicht der Märkte ausgehen müsse. Der Kampf in Griechenland, Portugal, Spanien oder Italien werde nicht allein für die jeweiligen Länder, sondern für ganz Europa geführt. Alles, was heute in Griechenland von EU und Troika praktiziert werde, hätten künftig auch die anderen europäischen Länder zu erwarten. Damit drohe allen europäischen Arbeitern der vollständige Verlust ihrer verbliebenen Würde und Rechte. Es sei daher für alle wichtig, für Rechte nicht nur im eigenen Land, sondern für alle Arbeiter innerhalb wie außerhalb der EU zu kämpfen.

In Portugal habe die Regierung damit geworben, dem griechischen Beispiel zu folgen und sich im Ausland Arbeit zu suchen. Hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und kaum noch vorhandene Rechte drückten die Lebensverhältnisse. Das hegemoniale Dogma innerhalb der EU ziele darauf ab, neoliberale Politik in ganz Europa durchzusetzen. Weder zufällig noch überraschend arbeiteten EU, EZB und IWF zusammen, um einen sogenannten Hilfsmechanismus für die am stärksten betroffenen Krisenländer in Stellung zu bringen. Statt in die Lebensverhältnisse der Menschen zu investieren, würden die Profite des Kapitals geschützt und in die Zukunft fortgeschrieben. Wir müssen uns über unsere Interessen klar werden, mahnte die Referentin: Unterstützen wir ein Programm, das das Überleben des Kapitals zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit sichert, oder bringen wir ein Programm auf den Weg, das zu nachhaltigem Wachstum in allen Ländern führt?

Die Probleme Griechenlands seien ökonomischer wie politischer Natur. Jeder Schritt der Regierung in Athen bedürfe einer Zustimmung der Troika. Demokratie, Freiheit und Souveränität stünden auf dem Spiel. Eine tiefgreifende Deregulierung der Industrie gehe mit einer Demontage des Sozialstaats einher und löse so eine verheerende soziale Krise aus. Die Auflagen der Troika erzwängen den Abbau des Sozialstaats und die Privatisierung des öffentlichen Sektors. So würden unter anderem die Eisenbahn, die Busbetriebe und das Gesundheitswesen privatisiert, dessen Qualität und Versorgungsleistungen dramatisch gesunken seien. Da zahllose Menschen unter der hohen Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen litten, könnten sie sich die Kosten des Gesundheitswesens nicht mehr leisten. Beispielsweise werde die Versorgung älterer Menschen ebenso eingeschränkt wie die notwendigen Maßnahmen wie Impfungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Ausländern sei der Zugang zu Krankenhäusern nahezu verwehrt, so daß die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung bis hin zur Bekämpfung drohender Epidemien drastisch eingeschränkt sei. So brach erstmals seit 80 Jahren wieder Gelbfieber in Griechenland aus, und im August weigerten sich die Apotheken, Medikamente auszugeben, weil die Regierung angesichts der ihr auferlegten Sparzwänge die Kosten nicht mehr erstattete.

Die Auflagen der Troika verhindern, daß nach wie vor vorhandene staatliche Einkünfte für das Sozialwesen verwendet werden, so die Referentin. Den Schuldendienst zu bedienen habe absoluten Vorrang vor allen anderen Verwendungszwecken. Erst kürzlich verlangte die Troika, die vorgeschriebenen Ruhezeiten bei Schichtarbeitern aufzuheben und den Mindestlohn ungeachtet der hohen Preise für Lebensmittel und andere grundlegende Konsumgüter zu beschneiden. Auch das Bildungssystem werde massiven Einschnitten unterworfen. Die Ausbildung an Schulen und Universitäten leide unter Sparauflagen, deren Folgen überfüllte Klassen, fehlende Unterrichtsmittel, soziale Konflikte unter den Schülern bis hin zu hungernden Kindern seien. Man könne den Eindruck gewinnen, über ein Drittweltland und nicht einen europäischen Staat zu sprechen.

Um diese Verelendung zu beenden, sei ein grundsätzlicher Paradigmenwechseln erforderlich. Es dürfe nicht länger darum gehen, den Bankensektor um jeden Preis zu retten und dabei immer weitere soziale Verwerfungen zu produzieren. Die Bedürfnisse der Menschen sollten in ganz Europa an erster Stelle stehen. Banken müßten unter öffentliche Kontrolle gestellt und mit anderen Aufgaben als ihrer Profitmaximierung betraut werden. Gerade in Zeiten der Krise fordere die Linke eine Stärkung des Sozialstaats, um soziale Katastrophen in der Gesellschaft zu verhindern. Man könne die Anhäufung von Reichtum in Händen weniger nicht hinnehmen und fordere für Griechenland eine angemessene Frist zur Begleichung der Schulden. Zuerst müßten die notwendigen Einkünfte generiert werden, ohne daß dabei der Sozialstaat liquidiert werde. Wachstum und nachhaltige Entwicklung seien auch in Griechenland möglich, sofern die Produktion reorganisiert werde. Das aber sei zuallererst eine Frage von Demokratie und politischer Freiheit.

In der anschließenden Diskussion ging Francisco Alves auf die gesammelten Fragen unter anderem mit dem Erklärungsansatz ein, man habe es bei der Krise mit einer Okkupation von Politik und Gesellschaft durch dominierende Kapitalinteressen zu tun. Mächtige Konzerne namentlich des Finanzsektors diktierten, was zu tun und zu lassen sei, wobei sie selbst führende politische Akteure wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu ihren Handlangern machten.

Maria Syrakou schlug hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der südlichen EU-Länder vor, daß man zunächst ihre Produktivität untersuchen sollte. Griechenland verfüge aufgrund fehlender Rohstoffe über keine Schwerindustrie wie sie in Deutschland anzutreffen ist. Vorrangig gelte es die Frage zu stellen, welches Wirtschaftssystem man favorisiere. Sie sei der Auffassung, daß dies nicht eine Ökonomie nach vorherrschenden Modell sein dürfe, dem zufolge man eine Exportindustrie aufbauen müsse, um daraus Einkünfte zu generieren. Statt dessen gelte es eine interne Wirtschaft aufzubauen, die vor allem die Selbstversorgung der Gesellschaft gewährleiste. Noch vor zwei Jahren sei Griechenland der zweitgrößte Investor nach Deutschland in den Balkanländern sowohl im Finanzwesen als auch in der Realwirtschaft gewesen. In Griechenland selbst wurden unterdessen einheimische Industriezweige von ausländischen Investoren in die Enge gedrängt und gezwungen, entweder ihre Tätigkeit einzustellen oder ihrerseits ins Ausland abzuwandern. Diese Entwicklung trug maßgeblich zum Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft bei. Man erteile einem unablässig wachsenden Kapitalismus eine Absage und strebe eine Ökonomie an, die die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedige.

Gefragt nach Bewegungen und Veränderungen in ihrem Land, die Anlaß zu Hoffnung gäben, berichtete Maria Syrakou, daß der sozialdemokratische Gewerkschaftsdachverband Generalstreiks abgelehnt habe. Als die massive Deregulierung einsetzte, sei es die Basis der Einzelgewerkschaften gewesen, die zur Verteidigung der Arbeiterrechte aufrief und die Gewerkschaftsführung zum Widerstand drängte. Inzwischen existiere ein Netzwerk, in dem die Basis der verschiedenen Gewerkschaften zusammenarbeitet und gemeinsam zu Aktionen und zum Streik aufruft. Neben linken Gewerkschaftern seien es vor allem Basisorganisationen in verschiedenen Städten, in denen sich beispielsweise Arbeitslose zusammenschließen und Druck auf die örtliche Administration ausüben. So sei es wiederholt gelungen, Gesundheitszentren dazu zu bewegen, alle Patienten zu versorgen, auch wenn diese nicht versichert waren. Auch wenn es sich zumeist um kleine Erfolge auf lokaler Ebene handle, sei deren Übergreifen auf breitere Kreise der Bevölkerung nicht auszuschließen. Als die frühere PASOK-Regierung weitere Sparmaßnahmen durchsetzen wollte, hätten sich eine halbe Million Menschen bei einer Protestkundgebung in Athen versammelt.

Jene 17 Prozent der Wählerschaft, die SYRIZA ihre Stimme gegeben haben, seien keineswegs alle Linke oder auch nur einig in radikalen Forderungen. Sie seien jedoch überzeugt, über einen alternativen Lösungsansatz zu verfügen. Zweifellos wachse der Zorn zahlloser Menschen, was mindestens zehn größere Streiks, darunter fünf Generalstreiks binnen zweier Jahre belegten. Dies habe die Regierung sogar in einem Fall veranlaßt, neuen Sparauflagen zunächst die Zustimmung zu verweigern. PASOK, die 20 Jahre lang in der Regierung saß, ist nun auf 8 Prozent gesunken. Man kämpfe Tag für Tag und Schritt um Schritt, die herrschende Situation zu verändern. Fänden die Griechen in den Medien anderer europäischer Länder Positionen, die der dominierenden Meinung widersprechen, sei das für sie eine Ermutigung, die wiederum Rückwirkung auf andere Länder habe. Sie teile nicht die Auffassung ihres portugiesischen Genossen, der vom Vorrang der Ökonomie gesprochen habe, die die Politik dominiere. Letzten Endes seien es politische Entscheidungen, wer unterstützt und wer niedergeworfen wird. Die Interessen des Kapitals und nicht die der Bevölkerung zu unterstützen, sei eine politische Entscheidung.

Sabine Wils, Maria Syrakou, Francisco Alves - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schulterschluß der europäischen Linken
Foto: © 2012 by Schattenblick

In ihrem Schlußwort unterstrich Sabine Wils, daß ihre Partei einen Neustart der Europäischen Union fordere, die demokratisch, sozial-ökologisch und friedlich gestaltet werden sollte. Die Linke müsse ihres Erachtens einen EU-kritischen Wahlkampf führen, zumal ihre Stimme andernfalls nicht gehört werde. Die heutige Veranstaltung habe ein Zeichen unverzichtbarer internationaler Solidarität gesetzt, an dem man anknüpfen könne und werde.

Nur etwa 40 Interessierte hatten den Weg in einen Sitzungssaal des Hamburger Rathauses gefunden, dessen gediegenes Ambiente so gar nicht zu den katastrophalen Entwicklungen passen wollte, denen entgegenzutreten Sinn und Zweck des Treffens war. Ob der Zulauf in einem weniger bourgeoisen Ambiente größer gewesen wäre, kann man in Anbetracht des generell geringen Interesses der Bundesbürger an den sozialen Folgen deutschen Hegemonialstrebens nicht wissen. Dennoch dürfte denjenigen, die hierzulande bereits auf dem harten Boden der Gesellschaft aufgekommen sind, der Schritt zu einer Solidaritätsveranstaltung nicht eben leichter fallen, wenn er sie ins administrative Zentrum einer Handelsmetropole führt.

Der Aktionstag am 29. September, zu dem das Bündnis "UmFAIRteilen - Reichtum besteuern!" aufruft und für den auch in der Veranstaltung mobilisiert wurde, wird überschattet nicht durch die Anwesenheit des SYRIZA-Chefs Alexis Tsipras, sondern durch die ablehnenden Reaktionen sozialdemokratischer und grüner Politiker auf dessen angekündigte Rede. Deren Unterstellung, die von ihm zu erwartende Kritik an der Europapolitik der Bundesregierung könne vom eigentlichen Ziel der Demonstration ablenken, dokumentiert das ganze Elend des Versuchs, in dieser Sache mit politischen Kräften zusammenzuarbeiten, die mit der Zustimmung zur Agenda 2010 zu einem Gutteil für die Vormachtstellung der deutschen Exportindustrie in Europa und die dadurch verschärften sozialen Probleme der Bevölkerung in der EU-Peripherie verantwortlich zeichnen. Will man hierzulande eine Kampfkraft des sozialen Widerstands auf Höhe des herrschenden Klassenantagonismus zustandebringen, dann sind derartige Bündnisse der Sache ausschließlich abträglich.

Veranstaltungsort von außen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hamburger Rathaus
Foto: © 2012 by Schattenblick

28. September 2012