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BERICHT/127: Kapitalismus final - Schuld und Sühne (SB)


Tomasz Konicz - "Der Kapitalismus ein Schuldenjunkie?"

Veranstaltung am 25. September 2012 in Hamburg-Wilhelmsburg


Folie der Veranstalter - Foto 2012 by Schattenblick

Foto: 2012 by Schattenblick

Schulden gehören in einem Wirtschaftssystem, in dem Kapital vorgeschossen wird, um sich den Mehrwert menschlicher Arbeit anzueignen, zum allgemeinen Geschäftsbetrieb. Die krisenhafte Entgrenzung der üblichen Schuldenwirtschaft ist in diesem Verhältnis von Kapital und Arbeit angelegt, lautet die schlechte Nachricht für all diejenigen, die die herrschende Verwertungsordnung im Sinne einer gesellschaftlichen Reproduktion, die allen Menschen ein angemessenes Auskommen beschert, für prinzipiell möglich halten. Soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung des gesamtgesellschaftlichen Produkts von oben nach unten lautet die sozialdemokratische Hoffnung auf einen reformierbaren Kapitalismus, die gerade dann, wenn die krisenhafte Entwicklung den Beweis der Haltlosigkeit dieses Glaubens antritt, besonders bunte Blüten zu treiben scheint.

Der polnische Autor und Historiker Tomasz Konicz hält dem eine Analyse entgegen, die an der systemischen Ursache der Schuldenkrise ansetzt und sich dabei eng an die Theorie der wertkritischen Schule nach dem kürzlich verstorbenen marxistischen Philosophen Robert Kurz anlehnt. Gleich zu Beginn des Vortrags, den Konicz im Rahmen der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] im Bürgerhaus Wilhelmsburg hielt, macht er klar, daß er damit auch der massenmedial propagierten Personalisierung der Krisenursache den Zahn ihres faschistoiden Bezichtigungsschemas ziehen will. Die Schuld an der Krise an faule Südländer, gierige Banker oder sozialschmarotzende Arbeitslose zu adressieren entspreche allemal der Logik, die sie treibenden Verhältnisse gerade dadurch unüberwindlich zu machen. Die von Konicz favorisierte Ansicht, auch die davon profitierenden Personen seien letztlich eingebunden in ein Korsett aus systemischen Sachzwängen und Handlungsdispositiven, die sie zu Rädchen im Getriebe einer übergreifenden Krisendynamik machen - was sie nicht von jeglicher Schuld freispricht, eine kausale Verortung des Geschehens bei Kapitaleignern, Bankern und Investoren dennoch als unzweckmäßig erscheinen läßt -, sollte im weiteren Verlauf des Abends noch Stoff für Diskussionen bieten.

Um gegen die verbreitete Neigung anzutreten, kapitalistische Verwertung als naturwüchsige Voraussetzung menschlicher Lebensbewältigung zu ideologisieren und sich auf die Suche nach Schuldigen zu begeben, die gegen diese als alternativlos erachteten Regeln verstoßen, greift Konicz mehrere Jahrzehnte zurück in die Geschichte des aktuellen Krisenzyklus. Für den Referenten stellen private wie staatliche Verschuldung in zunehmendem Maße die Voraussetzung des kapitalistischen Normalbetriebs dar, was er im Detail anhand der Krisendynamik in EU wie der Weltwirtschaftskrise im globalen Rahmen ausführt.

Für die Entwicklung in der EU ist die wirtschaftliche Dominanz der BRD und ihr daraus abgeleiteter Führungsanspruch von besonderem Belang. Die in der Bundesrepublik erwirtschafteten Handelsüberschüsse gegenüber dem Rest der Staaten der Eurozone sind einer Exportoffensive der deutschen Industrie geschuldet, die die EU längst in eine Transferunion zugunsten des deutschen Exportkapitals verwandelt hat. Der Leistungsbilanzüberschuß gegenüber der Eurozone ist, wie Konicz anhand von Grafiken belegt, seit der Einführung des Euro 2002 auf den Betrag von 850 Milliarden Euro angewachsenen. Im Nullsummenspiel gegeneinander gerechneter Handelsverhältnisse steht dem Überschuß exportstarker Volkswirtschaften das Defizit der Zielländer dieser Waren- und Dienstleistungsströme diametral gegenüber.

Die aus diesem Defizit resultierende Verschuldung betrifft insbesondere südeuropäische Staaten der Eurozone, denen die Möglichkeit der Abwertung im gemeinsamen Währungsverbund nicht mehr gegeben ist. Solange die Schuldenaufnahme für die Importe aus der Bundesrepublik mit einem verträglichen Zinsniveau finanziert werden konnte, waren die deutschen Handelsüberschüsse kein Thema wirtschaftspolitischer Debatten. Dies wurden sie erst mit der in Griechenland, Portugal, Spanien und Italien anwachsenden Schuldenblase. Daß man dort lange von der Bonität des Euro profitierte, wird den Regierungen dieser Länder heute zum Vorwurf gemacht, obgleich dies durchaus im Sinn der deutschen Kapitaleliten und damit auch der Bundesregierung war.

Noch heute brüstet sich der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder damit, daß die von der rotgrünen Koalition durchgesetzte Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau und die Disziplinierung der Lohnabhängigen durch mehr Fordern als Fördern Deutschland zum Krisenprofiteur gemacht habe. Der zur Senkung der Lohnstückkosten betriebene Ausbau des größten europäischen Niedriglohnsektors erfolgte auf dem Rücken der Erwerbslosen, da der notdürftige Hartz IV-Regelsatz den realen Mindestlohn markiert. Um die Stärke der deutschen Exportwirtschaft aufrechtzuerhalten, werden die Zielländer dazu genötigt, die nicht mehr mögliche Abwertung der Währung durch die Senkung der Sozialtransfers zu ersetzen. Diese soziale Abwertung erzeugt massenhaftes Elend und findet in allen EU-Gesellschaften statt, so daß im Ergebnis alle Lohnabhängigen unabhängig davon, wo sie in der nationalen Rangfolge der Verelendung stehen, verloren haben.

Für den Referenten fußt diese Krisendynamik auf einem durch kreditfinanzierte Nachfrage erwirtschafteten Konjunkturaufschwung, was er in dem Begriff der "Defizitkonjunktur" zusammenfaßt. Auch Britannien und Irland hatten ihre hohen Wachstumsraten Defizitkonjunkturen zu verdanken, die meist auf spekulativer Blasenbildung im Immobiliensektor basierten. Finanziert wurden diese Entwicklungen nicht zuletzt durch deutsche Banken, die mit großzügiger Kreditvergabe am jahrelang währenden Boom teilhatten. Eben dies führte dazu, daß die Banken angeblich gerettet werden mußten, um den ökonomischen Zusammenbruch der gesamten EU zu verhindern und den Defizitkreislauf fortzusetzen. Diesen schilderte Konicz am Beispiel von Deutschland ausgehender Warenströme, für die im Gegenzug griechische, spanische und portugiesische Wertpapiere in die Tresore deutscher und französischer Finanzinstitute wanderten.

Die damit erfolgte Aufspaltung der Eurozone in Gewinner und Verlierer soll nun mithilfe starker Regulative wie Fiskalpakt und Schuldenbremse bei Aussetzung der nationalen Souveränität in Budgetfragen zugunsten derjenigen Regierungen institutionalisiert werden, die wie die deutsche noch am meisten dafür in Frage kommen, die Schuldenwirtschaft als Gläubiger letzter Instanz zu garantieren. Ökonomisches Krisenmanagement wird in das Hegemonialstreben derjenigen übersetzt, die von der vermeintlich auf gegenseitigem Nutzen basierenden Währungsunion am meisten profitieren. Diese Entwicklung wäre ohne das zu Lasten der subalternen Klassen gehende Zwecksbündnis zwischen den jeweiligen Nationalbourgoisien nicht möglich gewesen wäre. Daß das Gefälle zwischen dem hochproduktiven Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Benelux und der durch ihren Schuldenstand zu Expansionszonen dieser Kapitalfraktionen degradierten Peripherie Süd- und Osteuropas immer steiler wird, entspricht dem länderübergreifenden Klassenantagonismus, der sozialen Achse dieses Gewaltverhältnisses.

Die These des Referenten, daß die langfristige Krisendynamik die europäische Einigung beflügelt habe, erhält mit der Durchsetzung regelrechter Diktate, mit Hilfe derer über die Haushaltspolitik der Schuldnerländer befunden wird, die bittere Pointe, daß der deutsche Imperialismus auf leisen Sohlen erreicht hat, was noch 1990 als übertriebene Befürchtung der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs erschien. Zwar signalisieren abfallende Wachstumsraten auch hierzulande, daß die globale Defizitkonjunktur auch die deutsche Wirtschaft nicht verschonen wird. Der von Konicz geschilderte drastische Zusammenbruch der Industrieproduktion in Südeuropa legt dennoch die Vermutung nahe, daß das Kerneuropa, das die Unionspolitiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers vor fast 20 Jahren vordachten, das sozialökonomische Ergebnis der von deutschen Regierungspolitikern zur Krisenbewältigung propagierten Stärkung EU-administrativer Strukturen bestimmen wird.

So geht Konicz davon aus, daß der Wirtschaftseinbruch in Südeuropa nicht durch einen späteren Aufschwung abgelöst werden wird, sondern daß ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Abstieg in der EU-Peripherie stattfindet. Die Bundesrepublik indes habe von der Verstaatlichung der Defizitkonjunkturen durch die Refinanzierung der Banken und das Auflegen von Konjunkturpaketen besonders profitiert. Ob sich das in Deutschland angesiedelte Kapital nun, da die staatlichen Programme zur Stimulierung der Wirtschaft auslaufen und eine konjunkturelle Flaute nach sich ziehen, von diesem Niedergang abkoppeln kann, ist eher nicht zu vermuten. Der Versuch, die von Konicz im Sinne der Wertkritik beschriebene innere Schranke der Kapitalverwertung durch die Schaffung neuer Instanzen administrativer Verfügungsgewalt auf EU-Ebene zu überwinden, stellt eine Qualifikation autoritären Regierungshandelns in Aussicht, die die massenhafte Verelendung mit repressiven Mitteln flankiert.

A new way to pay the national-debt / design'd by Helagabalis, executed by Sejanus. Pubd. by Willm. Holland, 1786 April 21. - Foto: James Gillray [Public domain], via Wikimedia Commons

Kreditwürdig ist, wer die Eigentumsordnung durchsetzt
Foto: James Gillray [Public domain], via Wikimedia Commons

Die weiteren Ausführungen des Referenten zur globalen Krisendynamik haben vor allem die Defizitkonjunktur der USA zum Gegenstand. Mit einem Handelsdefizit von jährlich rund 800 Milliarden Dollar wirkten die Vereinigten Staaten wie das schwarze Loch der Weltwirtschaft, das das kapitalistische Weltsystem durch die Aufnahme der Überschußproduktion anderer Länder sicherte. Der unter dem Begriff "Chimerica" bekannte Defizitkreislauf zwischen China und den USA ist ein exemplarisches Beispiel dafür, daß nicht das Ausmaß der Verschuldung für die Kreditwürdigkeit eines Landes entscheidend ist. Was für Konicz eine symbiotische Beziehung darstellt, die der Volksrepublik über Jahre erhebliches Wirtschaftswachstum und eine stürmische Industrialisierung beschert hat, während die dort produzierten Waren vor allem in der EU und den USA verkonsumiert wurden, hat allerdings Formen der Ausbeutung durch Arbeit in China hervorgebracht, die die davon Betroffenen schwerlich als Vorteil im Sinne der ursprünglich angestrebten sozialistischen Entwicklung des Landes bezeichnen dürften.

Der große Bogen der Krisenentwicklung nahm für Konicz in den 1970er Jahren seinen Anfang, als sich die Expansion des fordistischen, auf massenhafter und hocheffizienter Verwertung von Arbeitskraft in der Industrie basierenden Wirtschaftsmodells erschöpfte. Die Sättigung der Märkte insbesondere im Leitsektor der Automobilproduktion und die Rationalisierung der Betriebskosten durch innovative automatisierte Fertigungsformen verhinderten, daß der Wechsel der Produktionsweise wie bisher in der Geschichte des Industriekapitalismus auch genügend Arbeitskräfte zur gesellschaftlichen Reproduktion aufnahm.

Mit Beginn der 1980er Jahre setzte die Ära der Massenarbeitslosigkeit ein. Die dauerhafte Stagnation der Löhne, die durch den neoliberalen Strukturwandel bewirkte Verschärfung marktwirtschaftlicher Konkurrenz und neue Formen finanzkapitalistischer Reproduktion sollten die angeschlagenen Profitraten sichern. Die Produktivität stieg durch Neuerungen in den Fertigungsweisen und den Ausbau der internationalen Arbeitsteilung weiter an, ohne daß dies auf die Lohnabhängigen übertragen wurde. Der dadurch ausfallende Konsum wäre in eine Überproduktionskrise gemündet, wenn diese nicht durch die ausufernde Verschuldung bis 2008 vertagt worden wäre.

Dieser über Jahrzehnte kulminierende Krisenprozeß und seine akute Zuspitzung seit fünf Jahren stellt für Konicz eine historisch einmalige Entwicklung in der 500jährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems dar. Der Kapitalismus ist für die ihm eigene Verwertungslogik zu produktiv geworden. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung bewirken, daß immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können, was durch die Rationalisierungspotentiale der Mikroelektronik und Informationstechnik beschleunigt wird. Es werden weniger für die Reproduktion durch Lohnarbeit taugliche Arbeitsplätze geschaffen, als durch die Effizenzsteigerung in der Produktion beseitigt werden.

Damit stoßen die hochproduktiven Gesellschaften Westeuropas, Nordamerikas und Japans auf den fundamentalen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise, auf Mehrwertproduktion durch Lohnarbeit zu basieren und deren Grundlagen gleichzeitig zu vernichten. Bei Marx ist von einem "prozessierenden Widerspruch" die Rede, dessen zerstörerische Wirkung nur durch die fortlaufende Erschließung neuer Verwertungsfelder der Warenproduktion zu kompensieren sei. Seit dem 18. Jahrhundert habe der Wechsel der industriellen Leitsektoren an der massenhaften Verwertung von Lohnarbeit nichts geändert. Dies sei nun nicht mehr der Fall, da die Lohnarbeit sich aufgrund der Rationalisierungschübe der mikroelektronischen Revolution innerhalb der Warenproduktion verflüchtigte, so Konicz.

Zwei Möglichkeiten haben sich etabliert, die dadurch bedingte Überproduktionskrise zu bewältigen. Verschuldung zur Ausbildung einer Defizitkonjunktur wie in Griechenland, Spanien, Irland und den USA, oder der Versuch, die eskalierende Widerspruchslage zu exportieren, wie es Deutschland, China, Südkorea und Japan tun. Es sei der objektive Krisenprozeß der kapitalistischen Warenproduktion, der die Klassenwidersprüche in einzelnen kapitalistischen Staaten zuspitzt, die in historischen Kämpfen erstrittenen sozialen Errungenschaften vernichtet und die zwischenstaatliche Konkurrenz in Europa verschärft.

30 bis 40 Jahre dauert diese Krise schon an, so der Referent in einer abschließenden Bilanzierung seiner Ausführungen. Die Finanzmärkte hätten die warenproduzierende Industrie nicht in den Abgrund gerissen, sondern diese durch spekulative Nachfrage überhaupt am Leben gehalten. Letztlich handle es sich um eine Krise der Lohnarbeit, die dem Kapitalismus abhanden kommt, so daß die Ausbildung eines gigantischen Finanzsektors und des mit ihm korrespondierenden Schuldenbergs als Reaktion auf einen nicht mehr erfolgreich stattfindenden Strukturwandel in den Industrieländern aufgefaßt werden müsse. Die Produktivkräfte sprengten gerade die Fesseln der Produktionsverhältnisse, so Konicz frei nach Marx zum Abschluß einer Darstellung der globalen Krisendynamik, die, auf 45 Minuten verdichtet, den Zuhörern einiges abverlangte.

Seine These, die Entstehung des finanzgetriebenen Kapitalismus sei nicht etwa die Ursache der krisenhaften Entwicklung der güterproduzierenden und Dienstleistungen anbietenden Realwirtschaft, sondern habe deren Zusammenbruch durch die kompensatorische Verlagerung der Wertschöpfung in die Sphäre fiktiver Kapitalakkumulation hinausgezögert, lenkt den analytischen Blick auf das größere Ganze einer Krisendynamik. Die verbreitete Theorie eines den realwirtschaftlichen Niedergang bedingenden finanzkapitalistischen Akkumulationsinteresses hingegen unterstellte einen in seiner Reproduktion prinzipiell funktionierenden Kapitalismus. Den Frieden mit der sozialen Marktwirtschaft oder Regulationsmodellen aus dem Werkzeugkasten keynesianischen Deficit Spendings zu machen, heißt den konstitutiven Mangel, ohne den ökonomisches Denken keinen Sinn machte, festzuschreiben. Hunger, Not und Krieg andernorts zu ignorieren, um die kapitalistische Reichtumsproduktion in der eigenen Metropolengesellschaft zu genießen, ist der Regelfall reformkapitalistischer Lösungen. Wirkliche Veränderung lasse sich nur jenseits dessen vollziehen, bestätigt der Referent auf eine Frage aus dem Publikum und unterstreicht damit die Bedeutsamkeit einer Theoriearbeit, die dem politischen Kampf Inhalt und Richtung gibt.

Grafik auf Laptop 'Kapitalismus in der Krise' - Foto: 2012 by Schattenblick

Hamburger Veranstaltungsreihe für eine Debatte auf der Höhe drängender Widersprüche
Foto: 2012 by Schattenblick

Feindbildproduktion und Klassenantagonismus

Aufgegriffen in der Fragerunde und Diskussion wird noch einmal die zu Beginn des Vortrags artikulierte Absicht, die Sündenbockfunktion nicht nur "fauler Griechen", sondern auch "gieriger Banker" zugunsten der Analyse der die Krisendynamik treibenden Verwertungslogik aufzuheben. Auf die Ansicht des Referenten, die Dämonisierung des Finanzkapitals sei zwar nicht immer antisemitisch, biete aber Anknüpfungspunkte für antisemitische Argumentationsmuster, wandte eine Zuhörerin ein, daß sie es für eine Nivellierung der Klassenkonstellation halte, wenn man Griechen und Banker in diesem Zusammenhang in einem Atemzug nenne. Für sie sei es nachvollziehbar, wenn die Millionen Menschen, die in der Krise ihre Existenz verloren haben, einen gesunden Klassenhaß entwickelten, den sie den Bankern entgegenschreien. Zugleich warf sie die Frage auf, ob die Identifizierung von Bankern und Juden nicht ihrerseits projektiven Charakters sei. Wer Banker anschreit, der schreit Banker an. Wenn ihm jemand unterstellt, daß er damit Juden meine, dann frage sie sich, woher der Vorwurf stamme, Juden mit Bankern zu assoziieren. Jenseits der von ihr ebenfalls abgelehnten Sündenbockfunktion komme der im Raum stehende Antisemitismusverdacht einem Abwehrmechanismus gegen Kapitalismuskritik gleich. Wie sonst könnte antikapitalistische Praxis aussehen, wenn sich der Aufstand nicht auch gegen Personen richte? Wo bleibe das handelnde Subjekt, wenn die dargestellte Logik der Krisendynamik einer kybernetischen Maschine gleiche?

Herrschaft im Kapitalismus sei für ihn subjektlos, hielt Tomasz Konicz dieser Kritik entgegen. Es gebe niemanden, der hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält und die Puppen tanzen läßt, was allerdings nicht bedeute, daß die maßgeblichen Akteure keine Schuld auf sich lüden. Dies zu tun sei im Rahmen der Systemimperative gewollt, selbst ein Ackermann könne nicht anders, als die Rendite während einer Blasenbildung ins Maximum zu treiben, sonst würde er von seinen Aktionären in die Wüste geschickt. Damit wolle er nicht einer Entschuldigung das Wort reden, die sich auf Sachzwänge beruft. Wer überhaupt in solche Positionen gelangt, bringt auch die Bereitschaft dazu mit, konzediert der Referent, ohne den Widerspruch zwischen subjektiver Beteiligung an der Objektivität eines vermeintlich selbstregulativen Systems auflösen zu können.

Gegen derartige Feindbilder vorzugehen, sei nicht radikal genug, denn es gehe nicht darum, die Menschen in diesen Positionen auszutauschen, sondern darum, die Strukturen zu überwinden, die das System konstitutieren. "Gesunder Klassenhaß" liefe bestenfalls darauf hinaus, die Regierungsmacht zu übernehmen, doch sei das staatskapitalistische Experiment auch nicht das Wahre. Ihm gehe es darum, das systemische Moment ins Zentrum der Analyse und Argumentation zu stellen. Zudem sei der Antisemitismus keine Projektion, da die Verknüpfung zum Finanzkapital ein zentrales Element des deutschen Faschismus gewesen sei, was stark nachwirke. Man trage historische Verantwortung und müsse vorsichtig damit umgehen.

Tatsächlich sehe er in der aktuellen Phase der Entwicklung sehr viel mehr Möglichkeiten zu subjektivem Widerstand als bei früheren Aufbrüchen wie dem der 68er, die als Modernisierungsschub des Systems geendet hätten. Nun gelte es, Grabenkämpfe hintenanstellen und in der linken Bewegung so weit wie möglich zusammenzuarbeiten, mahnte der Referent in Anbetracht dieses eklatanten Widerspruchs, der die linke Opposition seit Jahren auseinanderdividiert.

Japanese_wartime_national_debt - Foto: 2006 by Misogi via Wikimedia Commons

In kriegerische Expansion investieren - Anleihe beim Nationalkollektiv
Foto: 2006 by Misogi via Wikimedia Commons

Ohne Schuldner keine Schuldherren

In der Bewertung, daß beim langen Marsch durch die Institutionen die ursprüngliche Absicht nicht nur vergessen, sondern gegen sich selbst gekehrt wurde, sollte in der 40 Jahre später verbliebenen Linken ebenso Einigkeit bestehen wie in der Vergeblichkeit einer ausschließlich an bestimmte Personen adressierten Schuld für einen Kapitalismus, der nicht nur in seinem krisenhaften Niedergang, sondern dem normalen Vollzug überwindenswert ist. Mit moralischen Attributen einer Eigentumsordnung zu Leibe zu rücken, der die Ungleichheit der materiellen Verhältnisse zwingende Voraussetzung ist, weil es ansonsten keines Eigentums bedürfte, läuft bestenfalls auf deren Befestigung hinaus. Die herrschende Moral ist die Moral der Herrschenden, gerade weil sie zentraler Bestandteil einer Widerspruchsregulation ist, deren herrschaftstechnische Effizienz in der Vermeidung der Konfrontation mit den materiellen Grundlagen des sozialen Konflikts durch die Verkehrung ihrer nominellen Wertansprüche besteht.

Faulheit zu brandmarken, um eine gesellschaftliche Notlage, das Schwinden angemessen bezahlter Lohnarbeit, auf Menschen abzuwälzen, denen in ihrer Ohnmacht nichts anderes zu bleiben scheint als sich dem Diktat einer zu Zwangsmitteln greifenden Arbeitsgesellschaft zu unterwerfen, ist ein Beispiel für die Anwendung dieser Moral. Keineswegs wird danach gefragt, was Erwerbslose an Arbeit verrichten, die nicht als Ware in Erscheinung tritt, weil sie als reproduktive Tätigkeit unbezahlt bleibt oder in ökonomischen Kategorien nicht faßbar ist. So läßt sich die Befreiung von der Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht wertförmig bestimmen, da sie den Wert als solchen bestreitet. Selbstorganisierte Arbeit, die sich den Agenturen staatlicher Kontrolle und der Ratio betriebswirtschaftlicher Effizienz entzieht, um ihre gebrauchswertorientierte Qualität nicht am Tauschwertprimat maximalen Outputs zerschellen zu lassen, widersetzt sich ihrer kapitalistischen Vergesellschaftung und damit der von der Bundesagentur für Arbeit (BA) propagierten Moral, "gut" sei nur, wer sich den Interessen des Kapitals verfügbar macht. [2]

Gier zu verurteilen, ignoriert die jeden Menschen betreffende biologische Konstitution, auf die Verstoffwechselung organischen Lebens angewiesen zu sein und dieses anderen in der sozialdarwinistischen Konkurrenz vorzuenthalten. Es kann nicht die Rede davon sein, daß die dabei angewendete Gewalt im zivilisatorischen Prozeß überwunden wäre, ganz im Gegenteil. Der Entzug menschlicher Lebensressourcen durch eine Kommodifizierung, die ihren Gebrauch auf bezahlbare Nachfrage begrenzt, die Zerstörung ökologischer Lebensvoraussetzungen durch die Externalisierung von Produktionskosten, die Aneignung menschlicher Arbeit durch eine Mehrwertabschöpfung, die die Reproduktion der ausgebeuteten Arbeitskraft immer mehr in Frage stellt, bestimmen die materiellen Überlebensnöte im spätkapitalistischen Weltsystem. Die Urheber der Vernichtung individueller Lebenschancen zur Verantwortung zu ziehen ist der dialektischen Überwindung herrschender Verhältnisse allemal gemäß. Um eine Vergesellschaftung zu überwinden, die alle sozialen Verhältnisse den Interessen der Kapitalakkumulation unterwirft, reicht die Adressierung von Schuld nicht aus.

Um Schuld zu postulieren, wird ein Guthaben vorausgesetzt, über dessen Zustandekommen in den von Überlebensinteresse betriebenen Wechselverhältnissen zuallererst Klarheit zu schaffen wäre. Die über das Tauschäquivalent Geld vermittelten Verhältnisse setzen auf bereits vollzogene Formen der Aneignung fremder Arbeit auf, deren Warencharakter von ihrem Gebrauchswert abstrahiert, um universal verfügbar zu sein. Die Kategorie des im kapitalistischen Produktionsprozesses geschaffenen Wertes läßt sich ausschließlich im Tausch realisieren und bestimmt damit ein soziales, von gewalt- und rechtsförmigen Eigentumsansprüchen bestimmtes Verhältnis zwischen Menschen. Dessen Bedeutung für die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft basiert auf der Vergleichbarkeit nicht nur der Arbeit und ihrer Produkte, sondern des Menschen als gesellschaftliches Wesen. Wer sich in seinen Lebensbedürfnissen und -aktivitäten nicht zählbar und damit für die Interessen Dritter verfügbar macht, wer also nicht vergesellschaftbar ist, der unterliegt auch nicht der Herrschaft des Eigentums über den Gebrauchswert. Diese wird nicht über das Postulat gerechter Verteilung gebrochen, das an den konstitutiven Bedingungen kapitalistischer Herrschaft nicht rühren will, sondern durch den Widerstand gegen die abstrakte Arbeit, gegen ihre Verfügbarkeit für den Tausch von Lebensressourcen, derer jeder Mensch bedarf, was nichts anderes heißt, als daß der Mangel Voraussetzung jeglicher Wertbildung ist.

Der Einwand, daß die Eroberung der Kommandozentralen ihrerseits eine Herrschaft etablieren kann, in der der Wert über den Menschen gebietet, anstatt ihn im solidarischen Miteinander gegenstandslos zu machen, ist allemal ernstzunehmen, wenn die historisch fast programmatische Verkehrung revolutionärer Aufbrüche in konterrevolutionäre Restauration zugunsten eines unumkehrbaren Fortschritts aufgehoben werden soll. Die Frage des subjektiven Anliegens der Befreiung, also die Verwirklichung des Kommunismus in der alltäglichen sozialen Praxis und nicht in einem fernen Utopia, ist daher nicht minder relevant als die Frage nach den jeweiligen Organisations- und Kampfformen.

Den Wert als bestehende Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse prozessierendes Agens in seinem systemischen Wirken zu analysieren, muß ohne die Machtfrage unvollständig bleiben. Die Negation eines Systems zu vollziehen, das sich im wertkritischen Sinne automatisch und subjektlos reproduzieren soll, wirft die Frage nach der eigenen Teilhaberschaft an ihm auf. Um diese dialektisch zu überwinden, ist es nicht damit getan, sich in der Reflexion bestehender Verhältnisse zu ergehen und damit eine Objektivität zu postulieren, die der Subjektivität des Streites äußerlich bleibt. Um diesen Widerspruch zu überwinden, bedarf es einer Einseitigkeit, deren kritisches Potential nichts ausläßt, was die eigene Handlungsfähigkeit korrumpieren könnte. Das betrifft auch eine Ideologiekritik, die bürgerlicher Herrschaft zuarbeitet, indem sie das antikapitalistische Anliegen verobjektiviert und von den materiellen Grundlagen des Klassenantagonismus abstrahiert. Wenn der Rückfall hinter die Ausgangsposition unumkehrbarer Gesellschaftsveränderung ausgeschlossen werden soll, dann sind auch die erkenntnistheoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen dieses Prozesses in aller Radikalität zu überprüfen.

Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/prop1460.html

Gebäude mit Regenbogen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Veranstaltungsort Bürgerhaus Wilhelmsburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

26. Oktober 2012