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BERICHT/132: Kapitalismus final - Goldrausch urban (SB)


Krise der neoliberalen Stadt

Veranstaltung am 1. November 2012 im Hamburger Gängeviertel

Graffiti in Düsseldorf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Offene Frage für Nichteigentümer
Foto: © 2012 by Schattenblick

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt inzwischen in Städten. Diese können ganz unterschiedlicher Art sein, so daß der Begriff über die Abgrenzung zum dörflichen Leben näher zu bestimmen wäre. Zwischen Marktflecken und Kreisstädten im ländlichen Raum, globalen Finanzzentren wie London und New York, Handelsmetropolen wie Hamburg oder Rotterdam, von Massenelend gezeichneten Megacities wie Mumbai oder Mexico City, am Reißbrett entworfenen Stadtexperimenten wie Brasilia, Astana oder Dubai, zur Verdichtung von Rationalisierungseffekten konstruierten Clustern wie der Autostadt Wolfsburg oder der Digital Media City in Seoul als auch die Produktivität ganzer Volkswirtschaften bündelnden Agglomerationen wie Zhèngzhou oder Shenzhen herrschen nicht nur große Unterschiede in der äußeren Form. Die administrative und repräsentative Funktion für die Staaten und Regionen, in denen Städte angesiedelt sind, das Einzugsgebiet, mit dem sie arbeits-, versorgungs- und wohntechnisch interagieren, ihre Bedeutung als Achsenpunkte für internationale Wertschöpfungsketten, Handelsströme und Migrationsbewegungen, aber auch der Versuch, die Stadt im Rahmen urbaner Standortpolitik mit dem Marketingjargon der PR-Branche als Produkt oder Marke zu bewerben, haben dazu geführt, daß in der kritischen Auseinandersetzung mit Städten als Orten gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion häufig zu industriellen Metaphern wie "Fabrik" oder "Maschine" gegriffen wird.

Das sich darin spiegelnde Bild eines nach eigenen Gesetzen funktionierenden, produktiven Zwecken verpflichteten und im Verhältnis zum einzelnen Menschen übermächtigen Systems oder Apparats deutet äquivalent zum Kampf gegen Ausbeutung durch Lohnarbeit in der Hochzeit des industriellen Kapitalismus an, daß es sich um ein zentrales Feld sozialer Auseinandersetzung handelt. Seine große Bedeutung für Sozialkämpfe gegen hohe Mieten und innerstädtische Selektions- und Ausgrenzungsprozesse wurde auch in der Hamburger Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" [1] gewürdigt. Eingeladen von der linksjugend ['solid] war mit Prof. Dr. Bernd Belina ein marxistischer Kritiker dieser Entwicklung, der am Institut für Humangeographie in Frankfurt a. M. forscht und lehrt und im AK Kritische Geographie aktiv ist. Dem Thema "Krise der neoliberalen Stadt" sehr angemessen traf man sich im Gängeviertel, einem Fokus der Recht-auf-Stadt-Bewegung in Hamburg, um den Herausforderungen und Widersprüchen neoliberaler Raum- und Stadtpolitik auf den Grund zu gehen.

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Bernd Belina
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ausgehend vom klassischen Paradigma politischer Herrschaft in der Trias Staat, Nation und Territorium führte der Referent das Publikum in den Ansatz der kritischen Geographie ein, einst klar in diesem Sinne umgrenzte Entwicklungen anhand der Verschiebung der relevanten räumlichen Maßstabsebenen zu untersuchen. Unter Verweis auf den kapitalismuskritischen US-Geographen David Harvey erklärte Belina den Prozess des Rescaling als das nationale Territorium übergreifende und neu segmentierende Form gesellschaftlicher Widerspruchsregulation. Mit der Krise der industriellen Wertschöpfung des Fordismus wurden neue Anlage- und Investitionssphären erschlossen, indem das Kapital verstärkt auf globaler Ebene versuchte, durch den Abbau von Handelsschranken, die Erweiterung der internationalen Arbeitsteilung und die Erschließung neuer Märkte renditeträchtige Kostensenkungseffekte und Absatzmöglichkeiten zu erzielen. Was Harvey als "spatial fix", also die räumliche Reparatur von Krisenerscheinungen bezeichnet, beschrieb der Referent als den Versuch, Krisen regelrecht zu exportieren, um die Zentren kapitalistischer Wertschöpfung von den negativen Folgen der im Rahmen industrieller Güterproduktion nicht mehr gewährleisteten Profitrate zu verschonen.

Diese seit den 1970er Jahren verfolgte Strategie zeitigte denn auch diverse regionale Wirtschaftskrisen, wuchs sich jedoch mit dem jüngsten, 2007 beginnenden Krisenzyklus zu einer weltweiten, durch weitere synchron verlaufende Entwicklungen wie der des Klimawandels, des Nahrungsmittelmangels und der Verknappung fossiler Energie verschärfte Krise der herrschenden Verwertungsordnung aus. Belina betonte, daß all dies politisch hergestellt werde, es sich also keineswegs um schicksalshafte Phänomene handle, denen der Mensch ohnmächtig ausgeliefert sei.

Dabei sei der Bedeutungsgewinn der städtischen, regionalen und metropolitanen Ebene, Stichwort "Glokalisierung", unter anderem der Möglichkeit geschuldet, daß sich das hochmobile Investivkapital darauf verlege, auch kleine räumliche Unterschiede in den Produktionsbedingungen, der Organisation der Arbeit, der jeweiligen Lohnhöhe und ordnungspolitischer Standortbedingungen für die Profitmaximierung auszunutzen. Als Beispiel nannte Belina die Verlagerung von Unternehmenszentralen von Frankfurt in das nahegelegene Eschborn dank eines dort vergleichsweise niedrigeren Gewerbesteuersatzes. Wie fatal sich die regionale Ausdifferenzierung des Kapitaleinsatzes auf die Lohnforderungen der Arbeiterklasse auswirkt, schilderte der Referent am Beispiel der Gewerkschaften, die mit ihrem Engagement für eine krisenmoderierende Regionalpolitik wie etwa im Ruhrgebiet geradezu zu Spezialisten für sozialverträglichen Beschäftigungsabbau wurden. Es wäre eine zentrale Leistung des Rescaling, daß die Konzentration auf kleinere räumliche Strukturen den Gewerkschaften Anlaß gab, mehr im Sinne der Region als im Sinne aller Lohnabhängigen zu agieren.

So dient auch die politische Entscheidung, Regionen auf Ebene der EU wie im nationalen Rahmen als zentrale Parameter bei der Untersuchung sozioökonomischer und infrastruktureller Entwicklungen einzusetzen, vor allem dazu, den Standortwettbewerb zwischen den Subjekten neustrukturierter Territorialität anzuheizen. Im Wettbewerb der Regionen um niedrigere Steuersätze für das Kapital, um die Verfügbarkeit einer gut ausgebildeten wie billigen Workforce, um sozialen Frieden, kurze Ver- und Entsorgungswege wie um kulturelle Attraktivität manifestiert sich die Hegemonie des Neoliberalismus nicht minder als in den Angriffen auf den Länderfinanzausgleich wie andere Formen sozial nivellierender Transferleistungen. Eine Regionalpolitik ist immer gegen eine andere Region gerichtet, erklärt Belina den Grundsatz der mit politischen Mitteln entfachten Standortkonkurrenz, die zum Beispiel zur stärkeren Belastung der Kommunen mit sozialpolitischen Pflichtaufgaben bei geringeren Zuweisungen aus den Steuereinnahmen des Staates führt.

Während die Schuldenbremse die Kommunalpolitik mit permanentem Haushaltsnotstand belastet und in der Sozial- und Kulturpolitik gekürzt wird, herrscht an öffentlichen Mitteln und Steuervergünstigungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Städte und Regionen kein Mangel. In dieser auf Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung abonnierten Standortpolitik bleibt kaum noch Raum für die Erfüllung sozialer Forderungen, die nicht in einem direkten Zusammenhang zur Steigerung der Attraktivität für das nach Anlagemöglichkeiten suchende Investivkapital stehen. Der Staat soll wie ein Markt funktionieren, so Belina zur Präzisierung des Neoliberalismus, der mit der programmatischen Staatsferne des klassischen Liberalismus nicht zu verwechseln sei.

Hier erfüllten auch die bekannten Städte-Rankings ihren Zweck. Sie seien zwar methodisch irrelevant, weil jeder wisse, daß ihre Resultate in den angelegten Parametern vorgegeben seien, doch darum gehe es nicht. Wichtig sei einfach nur die Befeuerung des Wettbewerbs und des Einflusses der Rankings auf die politischen Entscheidungsträger. Dabei sei auch die Bemessung sozialer Indikatoren wie Kreativität und Toleranz von Belang, wie jeder weiß, der sich in der Debatte um Gentrifizierungsprozesse mit der These Richard Floridas vertraut gemacht hat, laut dem die "kreative Klasse" Schrittmacher für die Ansiedlung von Konzernen und die Aufwertung urbanen Wohnraums sei.

Der Wandel zur neoliberalen Stadt wurde bereits im New York des Jahres 1975 manifest. Dort wurden infolge einer Finanzkrise, in die die Ostküstenmetropole durch Prozesse der Deindustrialisierung und Suburbanisierung geriet, und die Weigerung des Zentralstaats, der Stadt aus der Klemme zu helfen, innovative Formen des die Kosten der Arbeit senkenden Strukturwandels und der finanziellen Austerität ausprobiert. Sie liefen im Kern darauf hinaus, die Staatsmacht in Dienst des Finanzkapitals zu stellen. Entschieden wurde darüber in einem Emergency Financial Control Board, also einer Art Notstandskomitee, das keiner demokratischen Legitimation verpflichtet war und in dem vor allem Vertreter des Kapitals ihre Stimme erhoben. Die Strukturanpassungsprogramme der Bretton-Woods- Organisationen, mit denen die Kreditvergabe in die Länder des Südens konditioniert wurden, um diese für das ausländische Kapital zu öffnen, sollen sich an diesen Neuerungen ein Beispiel genommen haben.

In Hamburg wurde die neoliberale Stadtpolitik bereits 1984 unter dem sozialdemokratischen Bürgermeister Klaus von Dohnanyi mit einer Rede im Überseeklub initiiert, in der er unter dem Titel "Unternehmen Hamburg" ein Loblied auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Hamburg sang:

"Der Einfluss von Wissenschaft und Technik auf die wirtschaftliche Entwicklung wird in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen. Er wird sich beschleunigen. Und diejenigen Standorte werden in Zukunft die größten Chancen haben, die nicht nur im Bereich von Wissenschaft und Technik überlegen sind, sondern die auch durch Wohnqualität, Freizeitwert und Kultur die größte Anziehungskraft auf diejenigen Menschen ausüben, die Schöpfer der neuen Industrien und Dienstleistungen sind. Denn der Kopf bringt seinen Standort mit." [2]

Der Aufruf zur Schaffung einer attraktiven Umgebung für Unternehmer, Investoren und andere sogenannte Leistungsträger hat in der Hansestadt zur Errichtung der Hafencity geführt. In diesem Megaprojekt einer neuen Stadt inmitten Hamburgs, deren Quartiere die merkantilen Ambitionen der Handelsmetropole in Wort und Stein meißeln, leben renommierte Architekten ihre postmodernen Phantasien aus, während ein besonders zahlungsfähiges Publikum angelockt wird, in exklusiver Lage Wohnungen zu erwerben und Büroetagen zu beziehen. Bis zu 500 Millionen öffentliche Gelder sollen in das Wahrzeichen der Hafencity, die Elbphilharmonie fließen, während der SPD-Senat Kürzungen im Sozialbudget der Stadt durchsetzt. Der Neofeudalismus einer Kapitalverwertung, die sich mit ihren Anlageobjekten eigene Denkmäler setzt, kann heute fast auf der ganzen Länge der östlichen Hafenrandzone bestaunt werden. Dort tritt ein an alte Bautraditionen anknüpfendes, in seinem artifiziellen Charakter um so epigonenhafteres Backsteinbiedermeier mit den Glas-und-Stahl-Palästen der Firmensitze und Unternehmenszentralen in Konkurrenz um ein Stadtbild, das mit Reichtum protzt, als ob das dadurch herausgeforderte Proletariat eine unbefristete Kapitulation unterschrieben hätte.

Gebäude in Hamburger Hafencity - Foto: © 2012 by Schattenblick Gebäude in Hamburger Hafencity - Foto: © 2012 by Schattenblick Gebäude in Hamburger Hafencity - Foto: © 2012 by Schattenblick Gebäude in Hamburger Hafencity - Foto: © 2012 by Schattenblick

Postmoderne Stadtlandschaften in unwirtlicher Hafencity
Foto: © 2012 by Schattenblick

Da für die Finanzierung gigantischer Bauprojekte wie etwa die Hafencity erhebliche Kredite erforderlich sind, übt die Finanzwirtschaft großen Einfluß auf Gestalt und Nutzung der "gebauten Umwelt", wie Belina die urbane Lebenswelt unter Verweis auf David Harvey zusammenfaßte, aus. Dies wäre ohne politische Weichenstellungen, die eine Stadt wie Hamburg als "Unternehmen" oder auch als "Marke" inszenieren, nicht möglich. Die Auseinandersetzung mit der Kommodifizierung der Stadt zur Ware hat dort breiten Widerstand hervorgerufen, der sich unter anderem in dem auch nach drei Jahren noch lesenswerten, weil unverändert gültigen Manifest "Not In Our Name, Marke Hamburg!" [3] artikuliert hat.

Gebaute Umwelt basiert in ihrem Warencharakter auf dem Privateigentum an Grund und Boden. Das in dieser Investitionssphäre vorhandene fixe Kapital schlägt nur langsam um und wird damit traditionell als Anlagemöglichkeit betrachtet, deren Sachwert Sicherheit gegen Wertverfall bieten kann. Um Immobilien im Verhältnis zu Investitionen, die in der Industrie oder auf dem Finanzmarkt weit höhere Renditen abwerfen, attraktiv zu machen, entwickelte man im Zuge der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte neue Formen der Immobilienfinanzierung. Fonds- und Private-Equity-Gesellschaften entwarfen gewinnträchtige Anlagestrategien, Finanzprodukte wie Asset Backed Securities und andere Derivate, in denen Schuldentitel gebündelt wurden, erfreuten sich bei den großen institutionellen Investoren großer Beliebtheit. Die erhöhte Umlaufgeschwindigkeit von Schuldverschreibungen, denen Immobilienkredite mit hohem Ausfallrisiko zugrundelagen, führte denn auch zu jener Blasenbildung auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt, deren Implosion als Initialzündung für die aktuelle Krisenentwicklung 2007 gilt.

Als staatliche Infrastruktur sichert gebaute Umwelt die Voraussetzungen kapitalistischer Produktion, Zirkulation und Konsumption, ohne notwendigerweise einen allgemeinen Nutzen zu haben, der über die Aufwertung des Standortes hinausgeht. Der allgemeine Nutzen, der mit der staatlichen Bereitstellung privatwirtschaftlich genutzter Produktionsvoraussetzungen unterstellt wird, entspringt dem Glauben an ein Wachstum, das allen Menschen zu mehr Wohlstand verhilft. Dies hat sich nicht nur mit der realen Lohnsenkung der 2000er Jahre als Legende erwiesen, sondern wird auch durch den Verzicht des Staates darauf, eigenständig erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, widerlegt. Statt dessen machen neoliberale Politik und kapitalistische Finanzwirtschaft das bürgerliche Gemeinwesen selbst zum Investitionsobjekt mit allen bekannten negativen Folgen für seine Subjekte.

Das in einer lebenswerten Gesellschaft im Mittelpunkt stehende Interesse des Menschen an Wohnmöglichkeiten mit angemessenem Komfort in einem Umfeld, das seinen sozialen und kulturellen Interessen entspricht, wird unter diesen Umständen in sein Gegenteil verkehrt. So gibt es für eine Politik des sozialen Wohnungsbaus unter den auf Kapitalinteressen verpflichteten Parteien keine Lobby, während der Mangel an erschwinglichem Wohnraum alle ausschließt, die die verlangten hohen Mieten nicht bezahlen können. Mietsteigerungen im umfassend regulierten Wohnungsmarkt wurden, wie Belina erklärte, unter anderem dadurch möglich gemacht, daß der ortsüblichen Vergleichsmiete heute nicht mehr der Durchschnitt aller Mieten in der Gegend zugrundegelegt wird, sondern nur noch der Durchschnitt aller Neuvermietungen. Da der Preis von Neuvermietungen überall dort, wo Mangel an Wohnraum herrscht, höher ist als der von Bestandsmieten, wurde mit dieser Gesetzesänderung dem Interesse der Eigner von Wohnraum zugearbeitet.

Die Vermietern gesetzlich zugesicherte Möglichkeit, bauliche Verbesserungen ihres Wohnraums durch Mieterhöhungen zu kompensieren, führt zu der Zwangslage, daß Mieter sich mit Händen und Füßen gegen eine ihnen eigentlich zugute kommende qualitative Aufwertung ihres Wohnraums wehren müssen, weil sie die daraus resultierenden Mieterhöhungen nicht bezahlen können. Zwar werden im hochgradig regulierten Wohnungsmarkt durchaus Mietobergrenzen in Sanierungsgebieten und Beschränkungen von Mieterhöhungen in laufenden Verträgen bestimmt, doch wird dem Interesse der Mieter keineswegs so weit entgegengekommen, daß etwa eine systematische Senkung von Durchschnittsmieten politisches Programm wäre. Viel mehr wird versucht, denjenigen Teil des Verdienstes von Lohnabhängigen, der auf die Wohnkosten entfällt, zu vergrößern und auf diese Weise in großem Stile umzuverteilen, was nach der Abschöpfung des Mehrwerts vom Lohn der Arbeit geblieben ist.

Systematisch erzeugter Leerstand und das Verrottenlassen von preiswertem Wohnraum ist eine weitere Möglichkeit, dem Immobilienkapital mit Hilfe politischer Entscheidungen zuzuarbeiten, wie der Aktivist im Berliner "Mietenstopp"-Bündnis und Geograph Kris Jan Maschewsky in seiner Staatsexamensarbeit erklärt:

"Zwischen 2002 und 2009 wurde mit dem Ziel der Aufwertung der Abriss von rund 350.000 Wohnungen aus Steuermitteln finanziert, was zu einer künstlichen Verknappung des Wohnungsangebotes und damit zum sukzessiven Anstieg der Miet- und Immobilienpreise führte. Die Bürger zahlen also mit ihren Steuermitteln für die Erhöhung ihrer Mieten. In diesem Sinne lässt sich sogar davon sprechen, dass die Gentrifizierung ganzer Städte zu einer bewussten Strategie der Politik avanciert ist." [4]

Belina ging auch auf die Krisenentwicklung in der EU ein, indem er am Beispiel Deutschlands und Spaniens ausführte, wie sich unterschiedliche Akkumulationsmodelle auswirken können. So hatte Spanien bis zum Krisenbeginn einen höheren Zuwachs des BIP als Deutschland, wurde jedoch aufgrund dessen, daß dieser vor allem auf extensiver, kreditfinanzierter Bautätigkeit beruhte, weit stärker von der allgemeinen Kreditklemme betroffen. Die Implosion der Immobilienblase führte in Spanien zu extrem hoher Arbeitslosigkeit und aufgrund des Einspringens des Staates für die Refinanzierung der Banken zu einer Aufblähung der Staatsschulden, die die Krisendynamik massiv verschärfte.

So existieren in Spanien Zehntausende von Wohnungen und Gebäuden, die leer stehen, obwohl Bedarf an Wohnraum besteht. In diesem Fall haben sich die Investitionen weder für die Bauherren und Kreditgeber ausgezahlt, da der Tauschwert der Bauobjekte aufgrund der nicht mehr in Aussicht stehenden Rückzahlung der dazu aufgenommenen Kredite verfallen ist, noch bieten sie Wohnungssuchenden ein Dach über dem Kopf, weil diese ebensowenig solvent sind. So wurden unter hohem Einsatz an menschlicher Arbeit Gebrauchswerte geschaffen, die über keinen Tauschwert mehr verfügen, also nicht in Gebrauch genommen werden können. In den USA müssen aus ihren Häusern vertriebene Familien in Zelten leben, obwohl ihre früheren Wohnungen leerstehen, weil sich die Renditeerwartungen des eingesetzten Kapitals nicht erfüllt haben.

Das ist um so dramatischer für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, weil der langfristige Charakter dieser Investitionen laut David Harvey einen sekundären Kapitalkreislauf geschaffen hat, der umfangreiche Geldmengen bindet. Während die daraus erwachsenen Renditeansprüche Wohnraum immer teurer machen, erhöht die Finanzialisierung der in gebaute Umwelt investierten Kredite die Zinsen und steigert das Risiko des Verfalls dieses Anlagemarktes. Wohnen wird teurer, weil massiv in diesen Sektor investiert wird, ohne daß diese Form der Kapitalakkumulation mehr Nutzen für das Gemeinwesen erbrächte, als das Risiko seiner Zerstörung zu erhöhen.

Dem wird mit dem Verkauf kommunaler Wohnungsbestände auch in der Bundesrepublik zugearbeitet. Die Privatisierung großer Wohnungsbestände in öffentlicher Hand wurde politisch vorangetrieben, um Kapitalinvestoren aller Art anzulocken. So entwickelte sich die neoliberale Stadt zu einer Investitionssphäre, die die Verwertbarkeit des eingesetzten Kapitals zum zentralen Kriterium für menschliche Belange essentieller Art machte. Wohnen gehört wie die Ernährung oder die medizinische Versorgung zu den Primärerfordernissen menschlicher Versorgung, so daß es aus kapitalistischer Sicht allemal Sinn macht, die Verknappung verfügbarer Güter und Dienstleistungen gerade dort zum Programm zu erheben.

Bernd Belina - Foto: © 2012 by Schattenblick

Eine Frage, die weiterführen kann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Abschließend erinnerte der Referent daran, daß der Kampf gegen die Neoliberalisierung nicht nur auf städtischer Ebene stattfindet, sondern alle möglichen Bereiche und Maßstabsebenen betrifft. Da das Privateigentum an Grund und Boden die Voraussetzung dafür ist, Wohnen durch Aufwertung und Verknappung immer teurer zu machen, richtet sich die grundlegende Veränderung dieses Sachverhalts immer auch gegen die kapitalistische Eigentumsordnung selbst.

Doch auch unterhalb eines solchen Anspruchs könnten sinnvolle Aktivitäten etwa im Kampf gegen die Veräußerung öffentlichen Eigentums an private Investoren oder die Einflußname auf die Gesetzgebung zur Regulierung des Wohnungsmarktes entfaltet werden, wie der Referent anhand eines Beispiels aus Frankfurt schilderte. Der marxistische Soziologe Henri Lefebvre, Vordenker der Recht-auf-Stadt-Bewegung, habe mit dem Begriff des Rechts nicht auf gesetzliche Durchsetzung abgehoben, sondern verlangt, Anspruch auf ein urbanes Leben zu erheben, das von Zentralität, Differenz und Mitbestimmung geprägt ist. Friedrich Engels schließlich habe die Lösung der Wohnungsfrage ohne Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse für unmöglich erachtet, gab Belina in der anschließenden Diskussion zu bedenken, in der auch über den Widerstand gegen die Neoliberalisierung der Stadt debattiert wurde.

Grafitti 'Leerstand zu Wohnraum' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Hamburger Gängeviertel vollzogen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wohnen in der kapitalistischen Eigentumsordnung

Wie sehr das hier nur angerissene Thema der neoliberalen Stadt ein Projekt der Herrschenden ist, belegt die Parallelität der Gentrifizierungsprozesse in fast allen westlichen Metropolengesellschaften, für deren Kapitalmacht und Funktionseliten der Begriff Gentrifizierung keineswegs ein Mißklang ist. So werden die unter diesem Etikett zusammengefaßten Strategien der Wertsteigerung bislang für diesen Zweck unerschlossener urbaner Räume und einer sozialen und funktionellen Segmentierung der Städte systematischer und subtil durchgesetzt. Mit Hilfe des städtischen Quartiermanagements, der durch staatliche Kulturförderung oder privates Kultursponsoring betriebenen Festivalisierung zentraler Merkpunkte urbaner Identität oder angesagter Szeneviertel als auch der Einschränkung administrativ zu unabhängiger Formen der Sozialen Arbeit in sogenannten Problemvierteln werden Strukturen der Kontrolle und Kooptierung etabliert, die ihre Wirksamkeit aus einem scheinbar menschenfreundlichen Anspruch beziehen.

Weniger schwer zu durchschauen, dafür aber um so bedrohlicher ist der Ausbau polizeilicher Sicherheitsarchitekturen wie militärischer Potentiale der Aufstandsbekämpfung. Urban Warfare nimmt in der Streitkräftedoktrin der US-Regierung eine zentrale Stellung ein und wird demnächst im neuen Gefechtsübungszentrum der Bundeswehr, die jüngst die verfassungsgerichtliche Lizenz zum bewaffneten Inlandeinsatz erhielt, auch hierzulande geübt. In Britannien hat sich der öffentliche Raum zu einem großen Soziallabor entwickelt, in dem das Verhalten der Menschen durch permanente Video- als auch Audioüberwachung, strafbewehrte Bewegungseinschränkungen und präventive Disziplinarmaßnahmen unterhalb der Schwelle nachzuweisender Rechtsbrüche strikt observiert und reguliert wird. Was sich in den Riots im Sommer 2011 explosiv entlud, war zu einem Gutteil dem Aufbegehren gegen harsche und rassistische Repression der Polizei geschuldet und fungiert nun um so mehr als Anlaß, dem Subproletariat mit staatsautoritären und sozialtechnokratischen Mitteln zu Leibe zu rücken.

Wo in den Expansionszonen des Immobilienkapitals teuer gestaltete Lebenswelten für die zahlungskräftige Klientel entstehen, weichen die dort zuvor lebenden Menschen in die Brachen postindustrieller Landschaften und die Unwirtlichkeit suburbaner Ghettos aus. Gehobenen Wohnareale für das arrivierte Publikum stellen insbesondere in den USA den demokratischen Anspruch des öffentlichen Raumes in Frage, indem die Gated Communities durch expansive Sicherheitsmaßnahmen den Charakter raumgreifender Festungen annehmen. Das Elendsproletariat verbleibt zu einem Gutteil an den Stadträndern, wo es schon durch die räumliche Entfernung und die hohen Fahrpreise öffentlicher Verkehrsmittel davon abgehalten wird, den Betrieb der auf Umsatz und Konsum ausgerichteten Citys zu stören.

Die um sich greifende Gentrifizierung der Städte ist kein Trend- oder Modethema. Die Verdrängung alteingesessener Wohnbevölkerungen aus Stadtteilen, die mit Aufwertungsprozessen überzogen werden, kann nicht nur eine drastische Minderung der Qualität des Wohnens mit sich bringen, sondern entreißt die Betroffenen mitunter über Jahrzehnte gewachsenen Sozialbiotopen. Dies kann insbesondere für ältere Menschen, die ihr ganzes Leben in einem Stadtteil verbracht haben, fatale Folgen des Verfalls und Sterbens zeitigen. Die völlige Mißachtung autochthoner sozialer Lebenswelten, ihr nach den Kriterien einer erwünschten Job- und Unterhaltungskultur vollzogener Umbau zu Habitaten für flexibilisierte Profis, die postmoderne Gesichtslosigkeit der globalisierten Distributions- und Konsumptionsadressen und die soziale Entmischung der Stadt nicht zuletzt zum Zweck der Kontrolle potentiell widerständiger Gruppen der Bevölkerung sprechen die Sprache einer Verwertungsordnung, der nicht allein an der Front des urbanen Strukturwandels entgegengetreten werden kann.

Wie an dem Abend im Gängeviertel deutlich wurde und wie in der Hamburger Veranstaltungsreihe programmatisch vorgegeben war, ist die neoliberale Stadt Ausdruck der kapitalistischen Organisation einer Gesellschaft, die sich durch die Abschöpfung des Mehrwerts bei der Lohnarbeit reproduziert und deren Eigentumsordnung konstitutiv für ihren zentralen Konflikt, den Klassenantagonismus, ist. Die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum richtet sich an eine Politik, die ihre Entscheidungen damit legitimiert, das ökonomische Produkt dieser Gesellschaft in globaler Konkurrenz gegen die Kapitale anderer Nationalstaaten zu verteidigen und dafür der Sicherung der Profitrate auch durch die Wertsteigerung von Grund und Boden den Vorzug vor anderen Interessen zu geben. In dieser marktkonformen Sachzwanglogik ist kein Platz für einen Anspruch auf Lebensverhältnisse, die allen Menschen ein angemessenes Auskommen garantieren.

Das Kriterium der Bezahlbarkeit der Mieten ist letztlich am Niveau der Lohnentwicklung im Verhältnis zur erforderlichen Reproduktion der Arbeitskraft orientiert. Dem Versuch von Staat und Kapital, die Minderung der Mehrwertmasse durch den verstärkten Einsatz von Automatisierungs- und Rationalisierungsprozessen in der Produktion mit Hilfe der weiteren Kommodifizierung der Reproduktionsgüter und -dienstleistungen zu kompensieren, wäre demnach durch den Kampf gegen den Primat der Arbeitsgesellschaft entgegenzutreten [6]. Die Forderung nach sozialfreundlichen Bedingungen der Reproduktion läuft bestenfalls auf eine Teillösung hinaus und wird, wie das Beispiel der Neoliberalisierung der Gewerkschaften zeigt, selbst von den traditionellen Vertretungen der Arbeiterklasse nicht zum Zwecke ihrer Befreiung erhoben.

Im schlimmeren Fall machen sich Bewegungen, die das Arrangement mit dem neoliberalen Staat suchen, zum Steigbügelhalter der durch ihn repräsentierten Kapitalmacht. Zweifellos gibt es eine Schnittmenge zwischen den Forderungen nach erschwinglichem Wohnraum und der Aufgabe des Staates, die lohnarbeitende und steuerzahlende Bevölkerung als flexibel einsetzbare Workforce vorzuhalten, ihr also auch zuträgliche Wohnmöglichkeiten bereitzustellen. In diesem Rahmen werden dann Formen der Vermittlung und des Co-Managements möglich, die die Radikalität antikapitalistischer Hausbesetzungen in der Harmlosigkeit selbstverwalteter Nischen des kapitalistischen Normalvollzugs verpuffen lassen. Hier sind Übergänge und Zwischenschritte aller Art möglich, deren Veränderungspotential jedoch mit der Bereitschaft des Staates, zugestandene Freiräume zu billigen oder sie in Anbetracht für seine Interessen nicht mehr akzeptabler Widerständigkeit zu schließen, steht und fällt. Wenn schließlich linksalternative Baugruppen, wie in Berlin geschehen [5], in direkte Konfrontation mit Besetzerinnen und Besetzer geraten, dann zeigt sich schon, daß eine antikapitalistische Positionierung im Kern nicht verhandelbar ist.

Hausfronten im Gängeviertel - Foto: © 2012 by Schattenblick Hausfronten im Gängeviertel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hamburger Gängeviertel in Citylage
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/

[2] http://www.der-uebersee-club.de/vortrag/vortrag-1983-11-29.pdf

[3] http://nionhh.wordpress.com/about/

[4] http://www.quartiersforschung.de/download/Staatsexamensarbeit_Maschewski.pdf

[5] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0004.html

[6] http://lesci.blogsport.eu/files/2012/08/LesCI_Circular_No1_Web.pdf

23. November 2012