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BERICHT/144: Fortschritt und Reformbedarf - Gespaltener Blick auf Indien und China (SB)


China und Indien: Globaler Aufstieg ohne soziale Gerechtigkeit?"

GIGA Forum am 20. Februar 2013 in Hamburg

Wenn die Dinge verderben, entwickeln sich Insekten
(Xi Jingpings, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas)


Am 20. Februar sind in Indien rund 100 Millionen Arbeiter in einen zweitägigen Generalstreik getreten. Sie protestierten damit unter anderem gegen den gravierenden Sozialabbau, die Verteuerung der Lebenserhaltungskosten und die Steuergeschenke an die Reichen. Für das GIGA - German Institute of Global and Area Studies hätte es wohl kaum ein geeigneteres Datum für ihr regelmäßig stattfindendes öffentliches "Forum" finden können, trug es doch diesmal den Titel "China und Indien: Globaler Aufstieg ohne soziale Gerechtigkeit?"

Moderatorin und Referenten sitzend hinter Tisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

GIGA-Expertise zu Indien und China
Foto: © 2013 by Schattenblick

Als Referenten hatte das GIGA drei hauseigene Experten eingeladen: Prof. Joachim Betz, Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Asien-Studien mit dem Forschungsschwerpunkt politische und soziale Entwicklung in Indien; Dr. Daniel Neff, wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Asien-Studien mit dem Forschungsschwerpunkt Sozialentwicklung in Indien; und Dr. Günter Schucher, wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Asien-Studien mit dem Forschungsschwerpunkt Sozialentwicklung in China. Alle drei hielten Vorträge von jeweils 15 bis 20 Minuten, in denen teilweise bereits auf Fragen aus dem gut besuchten Forum eingegangen wurde, bevor sich die eigentliche Diskussionsrunde unter Beteiligung des zahlreich versammelten Publikums anschloß.

Zunächst führte die wissenschaftliche Koordinatorin beim GIGA und China-Expertin Dr. Margot Schüller in das Thema dieses frühen Abends, das bereits in der Fragestellung der Veranstaltung treffend zum Ausdruck gebracht wurde, ein und stellte dazu den grundsätzlichen Standpunkt des Instituts vor, wie er anschließend auch von ihren Kollegen vertreten werden sollte: Die Globalisierung hat China und Indien die Chance geboten, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren, und diese haben sie genutzt. Der Erfolg läßt sich an Faktoren wie der höheren Exportquote, dem Wirtschaftswachstum und einem höheren Einkommensniveau ablesen. Zugleich entstanden viele soziale Konflikte und eine starke Einkommensdifferenzierung. Das Wachstum sei "nicht sozial ausgeglichen", was sich unter Umständen destabilisierend auswirke.

Bereits an dieser frühen Stelle der Veranstaltung hätte man nachfragen können, ob nicht Wachstum geradezu die Unausgeglichenheit voraussetzt. Vollständig ausgeglichene Verhältnisse, so es sie überhaupt vorstellbar sind, wären folgerichtig nur als absolut erstarrt anzunehmen. In ihnen könnte kein Wachstum entstehen. Wovon Biologen selbstverständlich ausgehen, wird in der Politikwissenschaft mit dem unscharfen Begriff Ungleichheit verschleiert, da er sein Gegenstück, die Gleichheit, voraussetzt. In den an die Eröffnungsmoderation anschließenden Vorträgen wurde jedenfalls deutlich, daß es auch in Gesellschaften, in denen angeblich keine zu große Ungleichheit herrscht, Verlierer gibt.

In Anlehnung an den OECD-Bericht "Ein Mangel an sozialer Kohäsion" aus dem Jahr 2011 sagte Schüller, eine Gesellschaft habe soziale Kohäsion erreicht, wenn sie an das Wohlergehen aller Mitglieder denkt, keine Marginalisierung zuläßt, das Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt, Vertrauen in die Gesellschaft erzeugt sowie die soziale Mobilität und den sozialen Aufstieg fördert.

Der Gini-Koeffizient, der den Grad der Ungleichheit der Einkommensverteilung in einem Land wiedergibt, sei für China und Indien durchaus besorgniserregend groß, sagte Schüller und gab mit diesen kritischen Einlassungen das Wort an den ersten Referenten weiter.

Referent hinter Stehpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Prof. Joachim Betz
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Wirtschaftswachstum Indiens liegt heute bei etwas über fünf Prozent, hat aber lange Zeit bei acht bis neun Prozent gelegen, berichtete Prof. Betz. Da solle man doch meinen, daß das genüge, um die Früchte dieses Wachstums weiter zu verteilen und relativ große Schichten der Bevölkerung aus der absoluten Armut - definiert als ein Einkommen unter 1,25 Dollar pro Tag und Person - zu holen. Tatsächlich sei der Wohlstand nicht an den Armen vorbeigegangen, doch gebe es eine starke Diskrepanz zwischen dem, was man angesichts eines so hohen Wachstums hätte erwarten können, und den Erfolgen. Die regierende Kongreß-Partei hat jedenfalls die soziale Inklusivität zu ihrer Parole gemacht. Nach dem großen Anstoß von Reformen im Jahr 2004 nahm die absolute Armut ab, die Unterschiede von Stadt zu Land sind indes noch gewachsen.

Die Darstellung und Erörterung der möglichen Gründe für dieses Phänomen war ein Schwerpunkt dieses Vortrags. Betz führte sie näher aus: Indiens Wachstum fand regional ungleich statt. Zu einem geringeren Wachstum kam es in den sowieso schon ärmeren, zentral gelegenen Unionsstaaten wie Uttar Pradesh, Bihar und Orissa.

Die Masse der Armen lebt im ländlichen Bereich. Die Landwirtschaft wurde "sektoral abgehängt". Die indische Regierung hat zwar den binnenwirtschaftlichen Sektor reformiert, wovon der Handel und das Finanzsystem profitierten, nicht jedoch die Landwirtschaft. Diese stagniert in der Produktivitätsentwicklung, was nach Ansicht des Referenten auch mit der weitreichenden staatlichen Reglementierung zu tun hat.

Das Bild von Indien als ein Land, das nur Jute und Tee verkauft, ist Betz zufolge schon lange veraltet. Es gibt eine starke Konzentration auf die kapitalintensive Schwerindustrie, was auch für ausländische Investoren gilt. Im industriellen Sektor wurde viel "beschäftigungsarmes Wachstum" - jobless growth - produziert, oder, um es in der Sprache der Ökonomen auszudrücken, so Betz, "die Beschäftigungselastizität der Nachfrage" ist ziemlich gering. Für jede Steigerung des Wachstums in der Industrie um ein Prozent werden nur 0,15 Prozent mehr Beschäftigung erzeugt. Das Wachstum müßte jedoch höher liegen, damit die zusätzlich auf den Markt drängenden Arbeitskräfte a) versorgt werden können und b) die zunehmende Produktivität aufgefangen werden kann.

Die industrielle Produktivität steigt mit einer Rate von etwa 2 Prozent jährlich. Indien bräuchte ein Wachstum von 8 Prozent, um alle zusätzlich auf den Arbeitsmarkt Drängenden problemlos unterbringen zu können. Selbst die IT-Branche, für die das Land berühmt ist - sein Weltmarktanteil beim Data Outsourcing liegt bei ungefähr 45 Prozent - umfaßt nur 3,5 Millionen Beschäftige. Das sei bei einer Masse von 600 Millionen Arbeitnehmern in Indien zu wenig, so Betz.

Zu dem Problem des beschäftigungsarmen Wachstums kam es nach Ansicht des Referenten, weil sich Indien bis 1991 vom Weltmarkt abgeschottet hatte und seitdem vieles neu aufgebaut werden mußte. Außerdem würden Investoren von den spezifischen Arbeitsgesetzen abgeschreckt, weil durch sie das Aussprechen von Entlassungen sehr erschwert werde, meinte Betz, der sich mit dieser Erklärung ganz auf die Seite der Arbeitgeber schlug.

Aus Sicht eines Unternehmers stellt ein fester Arbeitsplatz natürlich einen betriebswirtschaftlichen Faktor von vielen dar - für den Arbeitnehmer dagegen ist der Verlust seines Arbeitsplatzes häufig mit existentiellen Nöten verbunden und der Erhalt desselben aufgrund der Arbeitsschutzgesetze beinahe ein Überlebensfaktor.

Jedenfalls konnte man an dieser Stelle des Vortrags den Eindruck gewinnen, als drehte sich die Politikwissenschaft im Kreis, indem sie einerseits ein hohes Wirtschaftswachstum als positiv bewertet, andererseits die Folgen diese Entwicklung, nämlich eine wachsende Einkommenskluft, beklagt. Ungleichheit wird zwar abgelehnt, aber nicht mit der gleichen Konsequenz wie jenes chinesische Modell der Gleichheit, das vor Beginn der Reformen verfolgt wurde. Vom politikwissenschaftlichen Standpunkt aus wäre somit "ein bißchen" Ungleichheit akzeptabel - ob das diejenigen genauso sehen, die am unteren Ende der Einkommensverteilung eingeordnet werden und von der Ungleichheit betroffen sind, ist zu bezweifeln.

Im übrigen unterscheiden sich die gesellschaftliche Verhältnisse in Indien in mancher Hinsicht nur graduell von den hiesigen. So schicken wohlhabende Inder ihre Kinder vorzugsweise auf Privatschulen, das staatliche Schulwesen genießt einen schlechten Ruf. Das gilt zwar nicht in diesem Ausmaß für die Bundesrepublik Deutschland, aber auch hier findet im Bereich der Bildung eine soziale Selektion statt: Kinder aus wohlhabendem Elternhaus besuchen häufiger Privatschulen und haben bessere Aufstiegschancen als Arbeiterkinder. Und wenn Betz berichtet, daß in Indien nur etwas mehr als jeder zweite nach fünf Jahren Unterricht an einer staatlichen Schule halbwegs lesen kann, dann ist das möglicherweise ein Ausblick auf Verhältnisse, auf die Deutschland gegenwärtig zusteuert - entsprechende Alarmsignale aus Lehrerkollegien, der Lehrlingsausbildung und universitären Einrichtungen lassen an Deutlichkeit nicht missen.

In Indien befände sich die staatliche Sozialpolitik in einer "Schieflage", erklärte Betz, Anti-Armutsprogramme zeigten nur eine mäßige Wirkung. Die Mittelschicht sei zu gering entwickelt. Die Verteilung von Reichtum gleicht sich den Verhältnissen in Lateinamerika an, und es ist eine Drift zu den Superreichen zu beobachten. Der Referent sprach in diesem Zusammenhang von einem "oligarchischen Kapitalismus".

Betz' Resümee: Möglicherweise gelingt Indien nicht der Sprung von einem Billiglohnland zu einem, das aufwendigere Produkte herstellt. Und wenn zu wenige von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung profitieren, sei die Akzeptanz weiterer politischer Reformen nicht unbedingt gesichert.

Referent beim Vortrag und Teil des Publikums - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Daniel Neff
Foto: © 2013 by Schattenblick

Im zweiten Vortrag dieses Treffens untersuchte Dr. Daniel Neff die Frage, ob sich die Sozialpolitik Indiens wandelt. Dies wird von ihm pauschal bejaht und damit begründet, daß es im Jahr 2005 zu einer Zäsur gekommen war und wichtige Reformen angestoßen wurden.

Die Sozialpolitik Indiens zeichnet sich seit 1948 durch geringe Ausgaben für Gesundheit und Bildung aus. Nur eine kleine Minderheit von formal Beschäftigten wurde abgesichert. Darüber hinaus wurden zwar zahlreiche Sozialprogramme für bestimmte Zielgruppen (Arme, Witwen, Kinder) oder bestimmte Zwecke (Schulessen, Bekämpfung ansteckender Krankheiten) aufgelegt, doch alles in allem schätzte Neff diese Sozialprogramme als wenig effektiv ein. Die Mittel flössen nicht dahin, wo sie wirklich gebraucht werden, könnte man seine Beschreibungen zusammenfassen.

In der heutigen Sozialpolitik, deren Beginn er für das Jahr 2004 ansetzt, erkannte er dagegen durchaus viel Positives. Inzwischen existiert ein umfassendes ländliches Beschäftigungsprogramm mit verschiedenen sozialen Unterprogrammen. Diese sind universeller und gerechter gestaltet. Bildung, Gesundheit, Beschäftigung im ländlichen Raum und Nahrungssicherheit wurden teils mit Rechten verbunden (Right to Education Act, National Rural Employment Guarantee Act, Food Security Bill (in der Diskussion), Right to Information Act, Forest Rights Act). 40 Prozent der Inder besitzen eine neu eingeführte ID-Karte - übrigens ohne Angaben der Kastenzugehörigkeit -, und es wird über eine subventionierte Krankenversicherung nachgedacht. Die Regierung unterzieht sich einem Reformprozeß.

Einige Besucher des Forums fühlten Neff bereits während des Vortrags auf den Zahn, indem sie fragten, wie es sein könne, daß zunächst von der desolaten Lage im staatlichen Bildungswesen gesprochen werde, dann aber von einem Recht auf Bildung. Sei das nicht etwas theoretisch? Neff vertrat den Standpunkt, daß es immerhin so ein Recht erstmals gibt, und sah dies trotz der von ihm geschilderten Probleme als Errungenschaft an.

Im Anschluß an seinen Vortrag wurde er gefragt, wie die indische Regierung versuche, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Da gebe es das Angebot der Sterilisation, erwiderte er und fügte an, daß allerdings die Armutsbekämpfung der beste Weg zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums ist. Prof. Betz ergänzte, die sogenannte Bevölkerungexplosion solle man nicht überbewerten, sie fände hauptsächlich in den ärmeren Bundesstaaten statt. In den südlichen Unionsstaaten Indiens sei sogar beinahe eine stabile Bevölkerungszahl erreicht worden.

Referent hinter Stehpult - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. Günter Schucher
Foto: © 2013 by Schattenblick

Mit China, das in vielen Bereichen eine ganz andere Entwicklung durchlaufen hat, die aber teils mit ähnlichen sozialen Folgen einhergeht, hat sich Dr. Günter Schucher auseinandergesetzt. Er stellte seinen Vortrag unter den Titel "China: globaler Aufstieg ohne fehlende soziale Gerechtigkeit?"

Chinas enormer Wandel läßt sich leicht mit wenigen volkswirtschaftlichen Kenndaten darstellen: So ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 1978, als der damalige Ministerpräsident Deng Xiaoping Reformen anschob, um das Hundertfache gestiegen. Die Zahl der Armen wurde um 650 Mio. gesenkt - 1978 waren 80 Prozent der Bevölkerung arm, heute sind es etwas über zehn Prozent.

Zu Beginn des Reformprozesses war China "arm und gleich", erläuterte Schucher anhand eines Diagramms, das je eine Kurve für den zeitlichen Verlauf des Einkommensniveaus in der Landwirtschaft und in der Stadt zeigte. Beide Kurven starteten 1978 auf annähernd dem gleichen, wenngleich niedrigen Niveau. Der Reformer Deng sagte 1978: "Laßt einige Gebiete, einige Betriebe, einige Arbeiter und Bauern zuerst etwas reich werden." Damit habe er sagen wollen, daß man eine gewisse Ungleichheit erlauben müsse, erklärte Schucher und zitierte den chinesischen Staatsführer weiter mit den Worten: "Wenn wir das machen, werden die anderen Gebiete, die anderen Betriebe und die anderen Teile der Bevölkerung davon lernen und ebenfalls reich werden."

Besonders seit Chinas Beitritt zur WTO 2001 sind städtische Durchschnittseinkommen stark gestiegen. Die Ungleichheit bezeichnete der Referent einerseits als "Voraussetzung des wirtschaftlichen Aufschwungs", andererseits als Entwicklungshemmnis. Laut dem Gini-Koeffizienten ist die Einkommensdiskrepanz in China sogar höher als die in den Vereinigten Staaten von Amerika. China liegt in diesem Vergleich weltweit an der Spitze und deutlich oberhalb der roten Linie von 0,4% Prozent, ab der ein Staat (oder eine Region) als politisch instabil gilt.

Die neue Führung ist sich der Brisanz der Lage durchaus bewußt und versucht gegenzusteuern, betonte Schucher. Im Parteiprogramm werde dies unter "harmonische Gesellschaft" zusammengefaßt. Zu ihr gehört das Konzept des neuen sozialistischen Dorfes und der Aufbau sozialer Sicherungssysteme. Bereits vor drei Jahren hat die Regierung als Antwort auf eine Streikwelle in Staatsunternehmen die Mindestlöhne angehoben; in den nächsten Jahren sollen sie von 30 auf 40 Prozent des Durchschnittseinkommens steigen.

Die weiteren Erläuterungen Schuchers zeichneten sich durch Ambivalenz aus: Der Binnenkonsum Chinas ist zu gering, die Exportabhängigkeit zu groß, und es findet eine Kapitalflucht ins Ausland statt. Anstatt in Immobilien zu investieren, werde mit ihnen spekuliert, was zur Unzufriedenheit der Bevölkerung führt. Das ist aber der Regierung bewußt, betonte der Referent. Sowohl der Ministerpräsident als auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei hätten die chinesische Wirtschaft als unausgeglichen, unkoordiniert und nicht nachhaltig bezeichnet, und Anfang Februar wurde ein 35 Punkte umfassendes Programm zur Bekämpfung der sozialen Ungleichheit vorgestellt.

Der Anteil der Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen ist in China verglichen mit anderen Ländern sehr gering. Gegen eine Erhöhung setzten sich jedoch einflußreiche Kräfte innerhalb der Partei zur Wehr, so Schucher. Eine Reichensteuer gibt es nicht. Von den sozialen Sicherungssystemen (Renten-, Kranken-, und Arbeitslosenversicherung) profitierten ausgerechnet die Ärmsten der Gesellschaft am wenigsten und die Reichsten am meisten.

"Wenn die Dinge verderben, entwickeln sich Insekten", zitierte der Referent Xi Jingping, der am 14. November 2012 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas gewählt wurde. Abschließend erklärte er, seiner Meinung nach stehe China vor keinem Aufruhr. Dafür gebe es eigentlich keine Anzeichen, auch wenn Krisensymptome zweifellos vorhanden seien.

Seitlicher Blick auf Publikum - Foto: © 2013 by Schattenblick

Interessiertes und durchaus informiertes Publikum
Foto: © 2013 by Schattenblick

Aus dem Publikum wurde sich nach der Reformfähigkeit und -bereitschaft der neuen chinesischen Führung erkundigt. Schuchers Antwort: gewisse Ungleichheiten werden von der Bevölkerung akzeptiert, aber nicht Korruption und Übervorteilung.

Wie verhält es sich eigentlich in Indien mit den Bedingungen für Auslandsinvestitionen, wollte jemand wissen. Das Investitionsklima ist gut, alle Bereiche außer Rüstung und die Eisenbahn sind für ausländische Investitionen freigegeben, wußte Betz zu berichten. Obgleich die Hindernisse systematisch abgebaut wurden, herrsche eine große und schwerfällige Bürokratie. Um einen Betrieb aufzumachen, benötige man im Durchschnitt 27 Genehmigungen.

Jemand anderes erkundigte sich nach der Landwirtschaft in Indien. Könnte man nicht wie in Südamerika die kleinen Bauern zu Kooperativen zusammenschließen? Dazu gebe es Überlegungen, so Betz. Solche Konzepte seien in der Vergangenheit an der Korruption gescheitert, und Neu-Delhi habe zu wenig in Forschung und Innovation investiert. Ob nicht angesichts der sozialen Unterschiede Unruhen oder Abspaltungen in Indien zu erwarten seien, wurde von anderer Seite nachgefragt. Betz sieht dafür keine Chancen. Es existieren zwar einzelne Unruheherde, aber die sind nicht landesweit verbreitet. In Indien gebe es 1200 Kasten, und es würden 300 verschiedene Sprachen gesprochen - das mache eine Revolution schwierig.

Fazit

Wenn rund 40 Prozent der Menschheit, verteilt auf nur zwei Länder, an einer nachholenden Entwicklung partizipieren, sollte es nicht verwundern, wenn das mit beträchtlichen sozialen und ökologischen Verwerfungen einhergeht. Die Idee hinter der Bezeichnung "nachholende Entwicklung" lautet, daß Länder wie China und Indien dem Wachstumspfad des marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystems folgen.

Die GIGA-Veranstaltung war sehr informativ, doch an einigen Stellen konnte man den Eindruck gewinnen, als handelten die Referenten mit Rezepturen für Suppen, die sie nicht selber auslöffeln müssen. Krasses Elend und existentielle Nöte sowie wachsender Arbeitsdruck bei vielen Millionen Menschen werden durch Begriffe wie "Ungleichheit" und mathematische Konstrukte wie "Gini-Koeffizient" in den Nebel technokratischer Analysen verbannt. Sicherlich, in China konnte die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen in den letzten 30 Jahren drastisch gesenkt werden. Aber nach wie vor hungert jeder zehnte Einwohner des bevölkerungsreichsten Lands der Erde! In China haben mehr Menschen nicht genügend zu essen als Deutschland, Österreich und die Schweiz Einwohner haben. Noch drastischer sieht es in Indien aus. Dort hungern rund 20 Prozent der Bevölkerung und damit mehr Menschen als in den Subsaharastaaten zusammengenommen.

Angesichts der krassen Reichtumsentwicklung in diesen beiden Ländern bei gleichzeitig verbreiteter Armut unter mehreren hundert Millionen Menschen muß gefragt werden, ob nicht auch andere Entwicklungsmodelle denkbar gewesen wären als ausgerechnet eines, das den Fortschritt an der Integration in die Weltmarktkonkurrenz, an Kategorien wie dem Wachstums- und Verbrauchsindikator BIP und an einer Produktivkraft bemißt, deren Antrieb letztlich aus der Verwertung menschlicher Physis generiert wird.

GIGA-Veranstaltungsplakat - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Frage, die gerade in der Handelsmetropole Hamburg viele bewegt
Foto: © 2013 by Schattenblick

22. Februar 2013