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BERICHT/191: Die andere Türkei - das Schlimmste verhindern ... (SB)


Demokratiebewegung in der Türkei auf dem Weg ins Parlament

Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Hamburg-Altona am 12. April 2015


Die Genannten nebeneinander am Tisch sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Pressekonferenz im Büro der Altonaer Linkspartei mit Yavuz Fersoglu, Cansu Özdemir und Metin Kaya (v.l.n.r.)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Am 7. Juni 2015 könnte die HDP Geschichte schreiben. An diesem Tag finden in der Türkei Parlamentswahlen statt, bei denen diese Partei zum ersten Mal in der gesamten Republik antritt. Was es damit auf sich hat und warum gerade dieser Urnengang in dem NATO-Partnerstaat und engen Verbündeten von EU und USA von zukunftsweisender Relevanz sein könnte, wird hierzulande vielen Menschen so wenig vertraut sein wie das Parteienkürzel HDP. Für die hier lebenden Staatsangehörigen der Türkei, ob nun türkischer oder kurdischer Volkszugehörigkeit, stellt sich dies natürlich vollkommen anders dar, verknüpft sich doch für nicht wenige unter ihnen gerade mit dieser Partei und ihrem möglichen Wahlerfolg die Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der Lage in der Türkei - was keineswegs nur die Lebensverhältnisse des kurdischen Bevölkerungsteils betrifft, sondern ganz generell die demokratischen und sozialen Verhältnisse, um die es alles andere als zum besten bestellt ist.

Für all diejenigen, die der türkischen Sprache nicht mächtig sind, sei vorab erläutert, daß HDP die Abkürzung für Halklarin Demokratik Partisi ist, was zu deutsch Demokratische Partei der Völker bedeutet. Der Name ist Programm. Hervorgegangen 2012 aus dem Demokratischen Kongreß der Völker (Halklarin Demokratik Kongresi) ist diese Partei ihrer Satzung zufolge mit dem Ziel angetreten, eine demokratische Volksherrschaft zu errichten und allen in der Türkei lebenden Menschen ein Dasein in Würde und ohne Repression, Ausbeutung und Diskriminierung zu ermöglichen. Aus diesen Gründen ist es naheliegend und folgerichtig, daß sie, auch wenn ihre Wurzeln fraglos in der kurdischen Bewegung zu verorten sind, weder eine explizit "türkische" noch eine "kurdische" Partei sein will, sondern alle Menschen gleichermaßen anspricht und gerade auch die Angehörigen von Minderheiten einbeziehen will, die - aus welchen Gründen auch immer - in der türkischen Gesellschaft bislang an den Rand gedrängt, von den politischen Gestaltungsprozessen ferngehalten und allzu häufig massivster Repression ausgesetzt waren.

Zur Parteigeschichte wäre noch zu ergänzen, daß die HDP als Dachpartei aufgefaßt werden könnte, in der sich die kurdische Partei des Friedens und der Demokratie (Baris ve Demokrasi Partisi - BDP) sowie kleinere Gruppierungen und Parteien aus dem linken Spektrum zusammengefunden haben. Prominente Abgeordnete der BDP wechselten im Oktober 2013 zur HDP, die im jetzigen Parlament bereits über 29 Mandate verfügt. Da die neue Partei sich nicht nur an ihren Erklärungen, sondern auch an ihren Taten messen lassen will, wird sehr viel Wert auf die innerparteiliche Umsetzung ihrer demokratischen Grundsätze gelegt. Dies schlägt sich beispielsweise in dem strikten Prinzip des Ko-Vorsitzes nieder, womit gemeint ist, daß alle Parteiämter mit einer Frau und einem Mann besetzt werden müssen. Ihre erklärte Absicht, bislang parlamentarisch ausgegrenzte Gruppierungen und Bewegungen zu berücksichtigen, machte sich in den Wahlergebnissen auf dem Parteitag vom 27. Oktober 2013 bemerkbar, als Vertreterinnen und Vertreter der Gezi-Park-Bewegung ebenso in den Parteivorstand gewählt wurden wie Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten, der Gewerkschaften wie auch der Frauen-, Homosexuellen-, Schwulen- und Lesben- und Umweltbewegung.


Die HDP könnte zum Stolperstein für undemokratische Neugestaltungspläne werden

Auch wenn die HDP als erfrischend neue gesellschaftliche Kraft verstanden werden kann, die die Gesellschaft der heutigen Türkei weitaus besser repräsentiert und abbildet, als es den traditionellen Parteien wohl je möglich wäre, bliebe noch zu klären, warum gerade ihr möglicher Einzug ins Parlament für die gesamte Türkei, die weitere Entwicklung in der Region des Nahen und Mittleren Ostens und sogar die internationalen Beziehungen wichtig werden könnte. Daß der derzeitige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan von der als islamisch-konservativ geltenden AKP, in den westlichen Führungsstaaten nicht unbedingt wohlgelitten ist, darf nicht zu einer Verwechslung führen. Die von ihm repräsentierten politischen Kräfte des Landes, mögen sie auch in innerstaatliche Auseinandersetzungen mit den kemalistischen Eliten oder auch der Fetullah-Gülen-Bewegung verstrickt sein, dürften bestenfalls bereit sein, die Rolle eines Aktivpostens westlicher Stellvertreterpolitik in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens gegen eine Neuauflage türkischer Großmachtspläne einzutauschen.

So wenig, wie sich die westlichen Demokratien an den Militärputschen in der Türkei in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts je gestört haben, so wenig hätten sie wohl dagegen einzuwenden, wenn deren politische Grundpositionierung, sprich die Mitgliedschaft in der NATO sowie die Festlegung auf eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik, mit härtesten Bandagen durchgesetzt wird, sollten die oppositionellen Kräfte, die sich innerhalb wie auch außerhalb des Parlaments formieren, einen Reife- und Entwicklungsgrad erreichen, der es ihnen ermöglicht, die Machtfrage zu stellen und zu ihren Gunsten von den Wahlberechtigten beantworten zu lassen. In diesem Zusammenhang sollte nicht vergessen werden, daß die türkische Verfassung, auch wenn 2010 einige Anpassungen vorgenommen wurden, von den Putschgenerälen 1980 bestimmt wurde und noch heute Prinzipien und Regelungen enthält, die einem Demokratie-Echttest kaum standhalten können.


Blick auf den Eingangsbereich des Büros der Altonaer Linkspartei mit HDP-Fahnen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Der 10-Prozent-Hürde den Kampf angesagt - die Tür zum Informationsbüro der HDP steht nicht nur am Eröffnungstag offen...
Foto: © 2015 by Schattenblick

Ein markantes Beispiel ist die 10-Prozent-Hürde des türkischen Wahlsystems. Ist die bundesdeutsche 5-Prozent-Klausel, die aus einem historischen Kontext - Stichwort Weimar - heraus begründet wird, schon nicht gerade ein Ausbund an demokratischer Freigeistigkeit, weil sie es nahezu verunmöglicht, randständige Positionen in die parlamentarischen Prozesse einzubringen, was diesen wiederum erst die Möglichkeit eröffnen würde, im Rahmen der Politikgestaltung ihre potentielle Überzeugungskraft zu entwickeln und unter Beweis zu stellen, kommt eine 10-Prozent-Hürde einem Vorschlaghammer gleich, der jeder Veränderung parlamentarischer Kräfteverhältnisse schon im Ansatz entgegenwirkt. In der Türkei ist es sogar so, daß die für die Parteien, die an der 10-Prozent-Hürde scheitern, abgegebenen Stimmen der stärksten Partei zugeschlagen werden, womit der Wille der Wählerinnen und Wähler, die sie abgegeben haben, aufs fundamentalste mißachtet wird.


Das neue türkische Sicherheitsgesetz gibt einen Vorgeschmack auf Erdogans Zukunftspläne

Die bevorstehenden Parlamentswahlen weisen einen weiteren, höchst prekären Aspekt auf. Ergodan will die parlamentarische Verfaßtheit der türkischen Republik mehr noch als bisher zurückschrauben und durch ein Präsidialsystem ersetzen, in dem alle Fäden der Macht auf ihn zulaufen bzw. zugeschnitten sind, während dem Parlament ein nur noch marginaler Einfluß bleibt. Von einem Aufschrei der Empörung ist aus den westlichen Hauptstädten nichts zu vernehmen angesichts dieser drohenden massiven Rückentwicklung in Sachen Demokratie. Im Deutschlandfunk wurde am 30. März anläßlich des Berlin-Besuches des HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas berichtet, daß der türkische Staatspräsident ein präsidiales System einführen wolle, was nur die Demokratische Partei der Völker (HDP) verhindern könne. [1]

Einen Vorgeschmack dessen, was der türkischen Gesellschaft blühen würde, sollte Erdogan am 7. Juni mit seiner AKP eine Mehrheit erlangen, die es ihm ermöglichen würde, die Verfassung zu ändern, lieferte das neue Sicherheitsgesetz. Die Kritikerinnen und Kritiker Erdogans sprechen von einem Schritt in den Polizeistaat. In der Nacht zum 19. Februar waren im Parlament bei der Debatte über dieses Gesetz, die unter Ausschluß von Presse und Öffentlichkeit geführt wurde, fünf oppositionelle Abgeordnete kemalistischer, sozialistischer und pro-kurdischer Parteien von Mitgliedern der Regierungspartei AKP zum Teil krankenhausreif geschlagen worden. Die Oppositionellen hatten alle parlamentarischen Mittel eingesetzt gegen die Verabschiedung dieses Gesetzes. Nach Angaben des CHP-Abgeordneten Mahmut Tanal hatte die Prügelei damit begonnen, daß mehrere AKP-Mandatsträger auf Abgeordnete der HDP losgingen. Gegenüber der türkischen Zeitung Hürriyet erklärte der HDP-Abgeordnete Ertugrul Kürkcü: "Die AKP-Abgeordneten haben einen Vorgeschmack dessen geliefert, wozu sie die Polizeikräfte einzusetzen gedenken, wenn sie es schaffen sollten, dieses Gesetz durchzubringen." [2]

Die (parlamentarischen) Proteste waren vergebens, das umstrittene Sicherheitsgesetz ist Anfang April mit der Unterschrift Erdogans in Kraft getreten. Massenversammlungen wie bei den landesweiten Gezi-Park-Protesten im Sommer 2013 können jetzt im Ansatz verhindert werden. Die Befugnisse der Polizei bei Festnahmen und Hausdurchsuchungen wurden erheblich erweitert, bei Demonstrationen können sogar Schußwaffen eingesetzt werden. Die Provinzgouverneure können Kundgebungen nach ihrem Gutdünken verbieten und den Ausnahmezustand verhängen. Allen, die dann dennoch auf die Straße gehen, drohen allein deshalb hohe Haftstrafen. Ohne Hinzuziehung eines Ermittlungsrichters können Demonstranten bis zu 48 Stunden inhaftiert werden, wodurch nach Ansicht der Kritikerinnen und Kritiker der rechtsstaatliche Schutz vor Folter und Mißhandlungen mehr noch als bisher ausgehöhlt wird.


Hinweisschild mit der Aufschrift 'DIE LINKE. Bezirksfraktion Altona' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Praktische Solidarität - Kontakt- und Informationsbüro der HDP bei der Partei DIE LINKE.Altona
Foto: © 2015 by Schattenblick


Sieht die AKP ihre absolute Mehrheit schwinden?

Wie in Telepolis am 13. April berichtet, würde die AKP jüngeren Umfragen zufolge unter 40 Prozent kommen, während die Oppositionsparteien leichte Zuwächse zu verzeichnen haben. Die kemalistische CHP würde demnach auf 25 bis 30 Prozent kommen, der rechtsnationalistischen MHP werden zwischen 12 und 18 Prozent vorausgesagt. Für die HDP gilt als fraglich, ob sie die 10-Prozent-Hürde wird nehmen können. [3] Daß die HDP bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr im landesweiten Durchschnitt nur auf 2,1 Prozent kam, steht ihrem Potential, deutlich mehr Wählerinnen und Wähler anzusprechen, weil sie eine glaubwürdige Alternative zum bisherigen Politik-Betrieb offeriert, keineswegs entgegen. Dies bewahrheitete sich bereits bei der Präsidentschaftswahl im August 2014, als der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas 9,8 Prozent erzielte. Gegenüber der Deutschen Welle erklärte der Politologe Behlül Özkan von der Marmara-Universität in Istanbul: "Schon von seiner Sprache her ist Demirtas ganz anders als die älteren Politiker, er hat es geschafft, Wähler auch im (nicht-kurdischen) Westen der Türkei anzusprechen". [4]

Inzwischen scheint die "Schicksalswahl" vom 7. Juni in der Türkei ihre Schatten voraus zu werfen. Die illegalisierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) will, wie es in einer aktuellen Erklärung des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (HPG) hieß, ungeachtet der jüngsten Provokationen der türkischen Armee an dem seit zwei Jahren geltenden Waffenstillstand festhalten und auf weitere Angriffe seitens der Armee nur mit Maßnahmen zur Selbstverteidigung reagieren. [5] Was war geschehen? Einem Bericht der jungen Welt zufolge sollen am 11. April auf dem Tendürek-Berg in der Provinz Agri bei einer Armeeoperation nach Angaben der HPG fünf Soldaten, ein Guerillakämpfer und ein Zivilist ums Leben gekommen sein. Wie es hieß, hätten noch mehr Soldaten einer 15köpfigen Militäreinheit getötet werden können, wenn sich nicht Dorfbewohner zu ihrem Schutz zwischen die Fronten gestellt hätten.

Nach Einschätzung des Vorsitzenden der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) [6], Kamuran Yüksek, habe die AKP-Regierung geplant, zu Wahlkampfzwecken die Leichname der 15 Soldaten in verschiedene Städte des Landes zu schicken. Sie seien in den Tod geschickt worden, so der Vorwurf. Auf einer Wahlkundgebung in Istanbul sprach der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas von einer geplanten Täuschungsoperation: "Sie haben 15 Soldaten im Kampfgebiet in Agri zurückgelassen, acht davon verwundet. Die Soldaten sollten dort sterben, damit die Stimmen der AKP bei der Wahl ansteigen." Die Verwundeten seien von HDP- und DBP-Mitgliedern gerettet worden. [5] Gründe und damit ein Motiv, gerade die HDP im Vorfeld der Parlamentswahlen in Mißkredit zu bringen, dürfte es aus Sicht der AKP genug geben, räumte doch vor kurzem sogar ihr Vizepremier Bülent Arinc ein, daß elf bis zwölf Prozent für die HDP möglich seien.

Nicht nur in der Türkei, auch im Ausland, so auch in der Bundesrepublik Deutschland, bewegt die bevorstehende Parlamentswahl die Gemüter. Ob sich die politischen Verhältnisse nach dem 7. Juni, sollte Erdogan die für seine undemokratischen "neue Türkei"-Pläne erforderliche absolute Mehrheit erzielen, noch weiter verschlechtern oder die Demokratiebewegung in der Türkei mit der HDP ein parlamentarisches Standbein etablieren kann, das es ihr ermöglicht, den bevorstehenden Rechtsruck zu verhindern und die Frage nach einem fundamentalen Politikwechsel sowie der politischen Lösung des sogenannten Kurdenproblems auf die Agenda zu setzen, ist für viele demokratische Parteien und Organisationen von großem Interesse.


M. Kaya in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Metin Kaya
Foto: © 2015 by Schattenblick


Wahlkampfunterstützung für die HDP in Deutschland

In der Bundesrepublik hat der Parteivorstand der Linken mit seinem Beschluß vom 28. und 29. März 2015 bereits ein unmißverständliches Zeichen gesetzt, indem er seine politische Unterstützung für den Wahlkampf der HDP erklärte und die Parteimitglieder mit türkischer Staatsangehörigkeit aufforderte, ihre Stimme der HDP zu geben. [7] In vielen Städten kommt es auch auf lokaler Partei-Ebene zu Solidaritätsbekundungen für die HDP. In Hamburg beispielsweise wurde am Sonntag, dem 12. April, bei der Partei DIE LINKE.Altona [8] ein Kontakt- und Informationsbüro der Demokratischen Partei der Völker (HDP) eröffnet. Anläßlich dessen stellten sich auf einer Pressekonferenz Metin Kaya vom Bezirksverband Altona der Linkspartei, die Bürgerschaftsabgeordnete der Partei Die Linke Cansu Özdemir und Yavuz Fersoglu, Sprecher des Deutsch-Kurdischen Kulturvereins, den Fragen der vielen Interessierten und Medienvertretenden, die Metin Kaya im Namen des Bezirksvorstandes und -verbands seiner Partei willkommen geheißen hatte.

In seinen einführenden Worten erklärte der Linkspolitiker, daß sich die HDP zum ersten Mal in ihrer Geschichte türkeiweit zur Wahl stelle. Sie umfasse alle nationalen und religiösen Minderheiten, die es in der Türkei gibt, ebenso wie weitere Gruppierungen, die sich bislang im Parlament nicht vertreten fühlen und es auch nicht sind. Die Altonaer Linkspartei möchte ihren Teil dazu beitragen, daß die HDP die 10-Prozent-Hürde schafft, weil das System in der Türkei undemokratisch sei und aus der Zeit des faschistischen Putsches von 1980 stamme. Das bedeute zum Beispiel, daß, wenn eine Partei die 10 Prozent nicht schafft, die an sie abgegebenen Stimmen und die Mandate an die Partei mit den meisten Stimmen übergeben werden.

Ob die übrigen Parteien ihre Stimmenzahlen erhöhen würden oder nicht, sei nicht so entscheidend wie die Frage, ob die HDP ins Parlament kommt oder nicht. Ihre Präsenz dort würde voraussichtlich dazu führen, daß die jetzige Regierungspartei nicht alleine regieren und ihre auf Repression gerichtete Politik nicht mehr so einfach durchsetzen könne, weil es dagegen erheblichen Widerstand geben würde. Aus diesen Gründen haben sich in Hamburg wie auch an vielen anderen Orten in ganz Europa, wie Metin Kaya betonte, Initiativen aus ganz verschiedenen demokratischen Organisationen gebildet, die sich mit der HDP politisch verbunden fühlen und ihre Bemühungen um einen Wahlerfolg unterstützen.


C. Özdemir während ihres Redebeitrags - Foto: © 2015 by Schattenblick

Cansu Özdemir
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir erläuterte in ihrer anschließenden Ansprache die politischen Beweggründe ihrer Partei, die HDP - wie zuvor schon die griechische Syriza - im Wahlkampf zu unterstützen. Die Partei Die Linke verstehe sich selbst auch als eine linke, emanzipatorische und antikapitalistische Partei, was sie mit der HDP vereine. Die HDP sei keine klassische Partei des etablierten Systems, sondern eine Bewegung in der Türkei und in Kurdistan, die sich in den vergangenen Jahren sehr deutlich und konsequent dafür eingesetzt habe, alle ethnischen, religiösen und sonstigen Interessengruppen wie beispielsweise auch die verschiedenen transsexuellen Gruppierungen einzubeziehen. In der Kandidaten- und Kandidatinnen-Liste der HDP spiegele sich die gesamte Vielfalt der Türkei wider, sie enthalte Angehörige der klassischen türkischen Linken ebenso wie Repräsentantinnen und Repräsentanten der Aramäer, Armenier und weiterer Minderheiten.

Sie alle stünden einer patriarchal-konservativen Regierung gegenüber, die keinen Wert auf emanzipatorische Schritte nach vorn lege. Durch den IS-Terror im Irak und in Syrien hätten viele Kandidatinnen und Kandidaten ethnischer und religiöser Minderheiten großes Leid erfahren, was sie jetzt dazu bewogen habe, sich stark in der Demokratiebewegung zu engagieren. Mit der HDP im Parlament könne es zu einer Demokratisierung des gesamten Systems kommen, der AKP drohe dann der Verlust ihrer Parlamentsmehrheit. Je stärker die HDP im Parlament, aber auch auf den Straßen vertreten sei, umso mehr bestehe für die gesamte Türkei wie auch für Kurdistan die Möglichkeit eines grundlegenden Demokratisierungsprozesses.

Ein weiterer Grund, auch hier in Deutschland den Wahlkampf der HDP zu unterstützen, sei, wie Cansu Özdemir erläuterte, die katastrophale Situation der Frauen in der Türkei. Die türkische Justiz mache, wenn Frauen sexuellen Mißbrauch erfahren haben, die Opfer zu Tätern. An den Strukturen des türkischen Staates könne man deutlich sehen, daß die Türkei kein frauenfreundlicher Staat ist. Frauenhäuser werden vernachlässigt, auf allen politischen Ebenen gäbe es für Frauen kaum die Möglichkeit politischer Mitwirkung. Die HDP stelle demgegenüber eine klare Alternative dar durch ein Modell, das es ermöglicht, daß Frauen auf allen Ebenen vertreten sind und politisch mitwirken können. Innerhalb der Partei werde dies durch das Prinzip der Ko-Strukturen sowie eine 40-Prozent-Frauenquote gewährleistet.

Aus all diesen Gründen habe die Partei Die Linke erklärt, die HDP zu unterstützen. Von Hamburg aus sei wie auch aus anderen deutschen Städten geplant, mit einer Delegation zur Wahlbeobachtung während der Wahl in Kurdistan präsent zu sein, ist doch davon auszugehen, daß es wieder zu Wahlbetrug kommen könnte. Die linke Bürgerschaftsabgeordnete erwähnte abschließend die jüngsten Angriffe des türkischen Militärs. So war am Tag zuvor ein HDP-Mitglied in der Provinz Agri erschossen worden, weil es sich als lebendes Schutzschild den Schüssen entgegengestellt hatte mit dem Ziel, den Friedensprozeß zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat zu schützen.

Zusammenfassend erklärte Cansu Özdemir, daß die HDP für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage und auch der anderen Demokratieprobleme der Türkei stehe. Das Büro der Altonaer Linkspartei sei von nun an eine Anlaufstelle [8], um von hier aus die Wahlkampfbemühungen der HDP zu unterstützen. Hier können sich Interessierte und Unterstützerinnen und Unterstützer treffen, diskutieren und Vorschläge unterbreiten, hier können sich Wahlberechtigte konkret darüber informieren, wo und wie sie ihre Stimme abgeben können, wovon gleich am Eröffnungstag rege Gebrauch gemacht wurde. So wurde darüber informiert, daß ab dem 8. Mai in Deutschland an allen türkischen Konsulaten, aber auch überall beim Zoll zum Beispiel an Flughäfen unter Vorlage des Ausweises gewählt werden könne.

Ein Besucher, der bereits zweimal als Wahlbeobachter in der Türkei gewesen war, fragte, wie denn gesichert sei, daß es bei der Stimmabgabe hier in Deutschland nicht zu Wahlfälschungen oder -behinderungen kommen könne. Daraufhin erläuterte Yavuz Fersoglu, der Sprecher des Deutsch-Kurdischen Kulturvereins, daß es dazu Gespräche mit dem Konsulat gegeben habe. Es wurde vereinbart, daß die versiegelten Urnen dort täglich bereitgehalten werden. Eine deutsche Sicherheitsfirma bewahre sie dann nachts auf und stelle sie tagsüber wieder hin. Am 31. Mai werden die Stimmen dann hier in Deutschland ausgezählt in Anwesenheit von Wahlmännern und -frauen aller Parteien, die auch während des gesamten Wahlprozesses anwesend sind. Die Ergebnisse der Stimmauszählung werden protokolliert und von den Parteivertretern und -vertreterinnen unterschrieben, bevor die Stimmen in die Türkei überführt werden. Er hoffe sehr, so Fersoglu, daß auf diese Weise sichergestellt werden könne, daß das demokratisch ablaufe.


Y. Fersoglu spricht zu den Anwesenden - Foto: © 2015 by Schattenblick

Yavuz Fersoglu
Foto: © 2015 by Schattenblick

Das Thema Wahlfälschung wurde während der Debatte wiederholt aufgegriffen. Ein Mitglied der Partei Die Linke wies darauf hin, daß es entgegen anderslautender Vereinbarungen mit den europäischen Staaten keine offizielle Wahlbeobachtung geben werde, weil die türkische Regierung dies nicht akzeptiere. Wie schon bei früheren Wahlen werde es von seiner Partei eine ehrenamtlich tätige Delegation geben, die an bestimmten Orten die Wahlen beobachten und auf schriftlichen, mündlichen und audivisuellen Wegen ggf. Beweismaterial sichern wird, um es internationalen Stellen zur Verfügung stellen zu können. Dies sei zwar keine offiziell tätige Delegation, doch hätte bei früheren Initiativen dieser Art bereits die Erfahrung gemacht werden können, daß allein die Anwesenheit ausländischer Beobachterinnen und Beobachter eine gewisse einschränkende Wirkung nicht verfehle.

Der Schattenblick wird angesichts der vielfach an einen Wahlerfolg der HDP geknüpften parlamentarischen Chance einer Demokratisierung des NATO-Partners Türkei die Berichterstattung über die Bemühungen, in und von Deutschland aus ihren Wahlkampf zu unterstützen wie hier von der Partei Die Linke in Hamburg-Altona und das in ihren Räumen eröffnete Kontakt- und Informationsbüro der HDP [8] durch Interviews mit Cansu Özdemir, Metin Kaya und Yavuz Fersoglu fortsetzen.


Fußnoten:


[1] http://www.deutschlandfunk.de/selahattin-demirtas-erdogans-einziger-gegner.1773.de.html?dram:article_id=315666

[2] https://www.jungewelt.de/2015/02-19/015.php

[3] http://www.heise.de/tp/artikel/44/44633/

[4] http://www.dw.de/kurdenpartei-kostet-erdogan-wählerstimmen/a-18360134

[5] http://www.jungewelt.de/2015/04-14/007.php

[6] Die kurdische Partei "Baris ve Demokrasi Partisi" (BDP - Partei des Friedens und der Demokratie) ist assoziiertes Mitglied der Sozialistischen Internationale sowie der Sozialdemokratischen Partei Europas. Im Juli 2014 änderte sie auf ihrem dritten Parteikongreß ihren Namen in "Demokratik Bölgeler Partisi" (DBP - Partei der Demokratischen Regionen).

[7] http://www.die-linke.de/partei/organe/parteivorstand/parteivorstand-2014-2016/beschluesse/unterstuetzung-der-hdp/

[8] Das Kontakt- und Informationsbüro der Demokratischen Partei der Völker - HDP (Halklarin Demokratik Partisi) befindet sich im Parteibüro DIE LINKE.Altona, Am Felde 2, 22765 Hamburg und ist täglich - auch am Wochenende - von 12.00 bis 18.00 Uhr geöffnet.

21. April 2015


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