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BERICHT/207: Rußland, Putin und das Schwarze unter den Fingernägeln ... (SB)


GIGA präsentiert Padma Desai - Koryphäe affirmativer Ideologieproduktion

Vortrag "Putin and Russia in Historical Perspective" am 26. Juni 2015 in Hamburg


Als George W. Bush von "bösen Männern" schwadronierte, vor denen es die Welt zu retten gelte, glaubte man diese wie eine abstruse Mixtur aus christlichem Fundamentalismus und US-amerikanischer Comicwelt mit ihren Superhelden und Erzschurken anmutende Tirade unter die Ausfallserscheinungen einer Marionette im Weißen Haus subsumieren zu können. Das Lachen ist uns jedoch im Halse steckengeblieben. Im Krieg ohne Ende, mit dem die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten eine ultimative Hegemonie durchzusetzen trachten, avancierte die Personifizierung des Feindes in Gestalt ihrer dämonisierten Führungsfigur zum Herzstück ideologischer Deutungsmacht. Wie anders ließen sich gesellschaftliche Widerspruchslagen und imperialistische Raubzüge samt der Einkreisung Rußlands und Chinas erfolgreicher ausblenden und durch die Doktrin überlagern, es gelte im Namen von Demokratie und Menschenrechten "Terroristen" zu jagen und "Diktatoren" zu stürzen! Während ein Angriffskrieg dem nächstfolgenden das Feld bereitet, wird der Ruf nach Sanktionen, Flugverbotszonen, Schutzverantwortung und humanitärer Intervention, kurz der gesamten Phalanx bellizistischer Aggression, zur ersten und unhinterfragbaren Bürgerpflicht.

Um den Regimewechsel herbeizuführen, ist jedes Mittel recht und kein Opfer zu groß, sofern es andere bringen müssen. Einer Studie der "Ärzte für soziale Verantwortung" (PRS) [1] zufolge hat der sogenannte Krieg gegen den Terror seit 2001 mindestens 1,3 Millionen und bei Einbeziehung des ersten Irakkriegs seit Beginn der 1990er Jahre bis zu 4 Millionen Menschen des Leben gekostet, wobei manche Schätzungen von noch wesentlich höheren Zahlen ausgehen. Zerschlagene Staaten, Not und Elend, größere Flüchtlingsströme als 1945 und ein Mittlerer Osten, der mehr denn je einem riesigen Brandherd gleicht, sind die Zwischenbilanz der NATO-Strategie, einen Keil zwischen Rußland und China zu treiben und unmittelbar an deren Grenzen heranzurücken.

Zugleich setzt sich die Expansion der westlichen Mächte in Osteuropa fort. Was man Michail Gorbatschow in die Hand versprochen hat und dessen Nachfolger vergeblich als Sicherheitsinteresse Rußlands geltend machten, erklärt die NATO für irrelevant, die direkt vor der russischen Haustür Stellung beziehen will. Sie hält die Zeit für reif, die nächste Phase der Einkesselung durchzusetzen und zündelt im Ukrainekonflikt am Dritten Weltkrieg. Um den zweifelsfrei zu belegenden Sachverhalt, wer da wem zu Leibe rückt, wider besseres Wissen zu verschleiern, nimmt man den zur Unperson diskreditierten Putin aufs Korn. Seine systematische Verteufelung versperrt den Blick auf die Interessen der beteiligten Staaten, Regierungen und Bevölkerungen, verödet die Weltsicht auf das denkbar eingeschränkteste Niveau und schafft mit der Bezichtigung des "bösen Mannes" im Kreml die ideologischen Voraussetzungen eines Regimewechsels, der Rußland den westlichen Verfügungs- und Verwertungsinteressen uneingeschränkt öffnen soll.


Die Referentin beim Vortrag - Foto: GIGA Distinguished Speaker Lecture Series © Frank Eberhard

Padma Desai
Foto: GIGA Distinguished Speaker Lecture Series © Frank Eberhard


Expertise aus höherer Warte

Angesichts des eskalierenden Konflikts und der wachsenden Kriegsgefahr auch in Europa stieß der Vortrag der Rußland-Expertin Padma Desai am Hamburger GIGA [2] zum Thema "Putin and Russia in Historical Perspektive" am 26. Juni auf reges Interesse. Prof. Desai ist Entwicklungsökonomin und Direktorin des Center for Transition Economies an der Columbia University. Als sie vor 60 Jahren mit einem amerikanischen Stipendium nach Harvard kam, waren die meisten der bei ihrem Hamburger Vortrag Anwesenden noch nicht geboren. Sie schrieb sich damals auch für das Studium der russischen Sprache ein: "So begann mein Abenteuer mit Rußland". In den folgenden Jahrzehnten lebte sie immer wieder längere Zeit in der Sowjetunion und später in Rußland oder hielt sich bei Reisen und kürzeren Besuchen im Lande auf.

Prof. Laurence Whitehead vom Nuffield College Oxford, der die Veranstaltung moderierte, hob unter den zahlreichen Publikationen Padma Desais insbesondere jene hervor, die seit mehr als 40 Jahren die sowjetische Ökonomie, die Planwirtschaft, die Perestroika und den Übergang zur Marktwirtschaft thematisieren und mit "Conversations on Russia: Reforms from Yeltsin to Putin" (2006) eine Sammlung von Gesprächen mit namhaften russischen und westlichen Politikern und Analytikern präsentieren.

Da es sich um die zweite Veranstaltung im Rahmen der neu etablierten GIGA Distinguished Speaker Lecture Series handelte, die Geistesgrößen aus Wissenschaft und Politik aus der ganzen Welt nach Hamburg bringen soll, um den öffentlichen Austausch über wichtige globale Entwicklungen anzuregen, haftete ihr in nicht unerheblichen Maße der Charakter einer Feierstunde an, die der Anwesenheit Padma Desais gewidmet war. Die gebürtige Inderin und naturalisierte US-Amerikanerin verkörpert nach Herkunft, akademischer Laufbahn und Assoziierung mit hohen Regierungskreisen im In- und Ausland jene Expertensicht, die westliche Ökonomie und Politik affirmativ unterfüttert und teils in Gestalt einer Beratertätigkeit mitproduziert.

Unter diesen Umständen waren zwangsläufig eher pointierte Schlaglichter und kursorische Klammern aus dem Lebenswerk der Referentin denn eine tiefgreifende und mithin das vordergründig Geläufige bestreitende Eröffnung und Diskussion zu erwarten. Dessen ungeachtet schien doch die Begegnung mit einer als international führende Expertin zu Rußland und Krisen des globalen Finanzsystems ausgewiesenen Koryphäe aufschlußreiche Einblicke in die Intentionen, Strategien und Folgekonsequenzen westlicher Ideologieproduktion in Aussicht zu stellen.

Das galt um so mehr, als ein tragfähiger Ansatz, Konflikte einzudämmen und Kriege zu verhindern, die fundierte Analyse der Interessenlage einer zur Feindesseite erklärten Staatlichkeit, Politik und Gesellschaft voraussetzt. Daraus resultiert aus deutscher Perspektive geradezu der Auftrag, einer forcierten Umkehrung dieser Maxime den Rang abzulaufen, die "Putin-Versteher" als Bezichtigung gegen jeden Versuch kehrt, die Ratio russischer Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Bedrohungsängste angemessen zu reflektieren.


Moderator und Referentin beim Vortrag - Foto: GIGA Distinguished Speaker Lecture Series © Frank Eberhard

Laurence Whitehead und Padma Desai
Foto: GIGA Distinguished Speaker Lecture Series © Frank Eberhard


Personenkult westlicher Lesart

Wollte man sich notgedrungen auf die Absage an eine ernsthafte politische Analyse in Gestalt der unsäglichen Personifizierung russischer Interessen einlassen, gäbe es zu Wladimir Putin durchaus Widersprüchliches zu sagen. Er verbrachte bekanntlich längere Zeit in Deutschland, spricht unsere Sprache und läßt eine starke Affinität zur westlichen Kultur erkennen. Insbesondere die frühen Jahre seiner Regierungszeit waren von einem spürbaren Wunsch nach Akzeptanz und Partnerschaft geprägt, die ihm freilich nie gewährt wurde. Er arbeitete Abrüstungsvereinbarungen aus und strebte sogar die NATO-Mitgliedschaft an, die man ihm jedoch verwehrte. Zugleich baute er die Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland und anderen westlichen Ländern aus, um nicht nur die eigene Ökonomie zu stärken, sondern auch belastbare Stränge intensivierter Zusammenarbeit zu schaffen.

Wenngleich all dies bekannt sein sollte und in ein differenziertes Profil Putins einfließen müßte, war davon seitens der Referentin keine Rede. Sie charakterisierte ihn als ehemaligen KGB-Mann, egozentrisch, autoritär, verhandlungsunfähig und extrem in seinen Drohungen, habe er doch den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte politische Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet und auf die Truppenverlagerung der NATO nach Osten mit der Ankündigung reagiert, er werde die Interkontinentalraketen aktivieren. Diese Reduzierung Putins auf einen aggressiv-primitiven Machismo in allen Lebenslagen kann einen Leser der hiesigen Boulevard- und Konzernpresse nicht überraschen, erstaunt aber doch aus dem Munde einer renommierten Rußlandexpertin. Möglicherweise ist Padma Desai schlichtweg mit der US-amerikanischen Kategorienbildung und Einteilung der Weltlage nach dem eigenen brachialen Gusto derart verschmolzen, daß sie wie selbstverständlich davon ausgeht, daß solche groben Brocken nur auf ungeteilte Zustimmung stoßen können.

Daß sie die westlichen Interessen und Vorgehensweisen gleichsam als unbestreitbar voraussetzt und deswegen ausblendet, wenn sie wie in ihrem Vortrag die Politik der aufeinanderfolgenden russischen Staatsführer aus sich selbst heraus zu erklären versucht, zeigt sich auch in ihrer Einschätzung der geostrategischen Ziele Putins. Er strebe eine Eurasische Union an, habe die Krim durch ein manipuliertes Referendum annektiert und unterstütze die Separatisten in der Ostukraine mit Waffen, um das Land instabil zu halten. Dies verhindere den Beitritt der Ukraine zur EU und in der Folge zur NATO, deren Truppen sonst auch an dieser Stelle an der russischen Grenze stünden.

Als expansionistische Bestrebungen Putins ließen sich diese Manöver schwerlich ausweisen, zöge man gleichermaßen den Vormarsch der EU und die Osterweiterung der NATO in Betracht. Da die Referentin dies jedoch unterließ, blieb auch die Erörterung aus, inwiefern die gegen Rußland verhängten Sanktionen gerechtfertigt oder im Gegenteil als eine Etappe der Kriegsvorbereitung abzulehnen seien. Padma Desai bestätigte indessen, daß die Sanktionen die russische Wirtschaft geschwächt hätten. Der Rubel sei unter Druck geraten, das Bruttosozialprodukt stagniere bereits seit mehreren Jahren, die Inflation sei mit 15 bis 17 Prozent sehr hoch. Premierminister Dimitri Medwedjew habe die Parole ausgegeben, man solle in Rußland bleiben und von der russischen Geschichte lernen, also insbesondere auf einheimische Investitionen und Technologien setzen.

In diesem Zusammenhang hätte man sich einen Verweis auf die jahrzehntelange Vorgeschichte der beständigen Anstrengungen gewünscht, die Sowjetunion und in der Folge Rußland durch Hochrüstung und Technologieentwicklung niederzukonkurrieren wie auch durch die neoliberale Zersetzung von innen her aufzubrechen und in Besitz zu nehmen. Die Referentin erzählt indessen von einem Gespräch mit Anatoli Tschubais, einem der drei ehemals jungen Reformer, die Boris Jelzin als seine "Kamikaze-Mannschaft" bezeichnete, im Waldorf Astoria in New York City. Auf die Frage, was ihn in einen Vertreter der Marktwirtschaft verwandelt habe, wo er doch unter der Planwirtschaft aufgewachsen sei, habe er geantwortet: Wir haben Milton Friedman und F. A. Hayek auf russisch gelesen und beschlossen, daß sich die Dinge ändern müssen.

Daß der Galopp von Nikita Chruschtschow über Leonid Breschnew, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin zu Wladimir Putin nur knapp ausfallen konnte, lag schon aus zeitlichen Gründen auf der Hand. Jelzins Agenda habe darin bestanden, das Monopol der Kommunistischen Partei und die Planwirtschaft zu zerschlagen. US-Präsident war damals "unser Freund Bill Clinton", der nach Angaben des stellvertretenden Außenministers Strobe Talbott einen betrunkenen Jelzin jeder nüchternen Alternative vorgezogen habe. Die Chemie zwischen den beiden Präsidenten habe gestimmt, die Beziehungen ihrer Länder hätten sich in dieser Zeit erheblich verbessert, so die personifizierte Kurzfassung der Zeitläufte.

Allerdings sei das Haushaltsdefizit unter Jelzin gewachsen, und die nunmehr privatwirtschaftlichen Unternehmen hätten wegen der hohen Rohstoffpreise vielfach Verluste gemacht. Millionen von Arbeitern hätten zwischen 1994 und 1997 keine Löhne erhalten, was Padma Desai in ihrem Buch "Work without Wages" thematisiere. Zugleich brachten die Privatisierungen der Industrie die Ära der Oligarchen hervor. Die russische Wirtschaft sei in den 1990er Jahren schon ein wenig in Unordnung geraten, so die Referentin.

Dieser Euphemismus, der die Verheerungen der neoliberalen Offensive in der russischen Bevölkerung bagatellisiert und den forcierten Zugriff westlicher Unternehmen in dieser Phase unerwähnt läßt, war der angelegten Meßlatte geschuldet, den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft mit einem notwendigen und letztlich unvermeidlichen Fortschritt gleichzusetzen. Bezeichnenderweise kam Putins Rolle bei der Zügelung der Oligarchen und der Konsolidierung der fast schon sturmreif geschossenen russischen Wirtschaft im Vortrag nicht zur Sprache, zöge dies doch Fragen nach sich, die sich nicht über den platten Leisten schlagen ließen, er bediene die Klaviatur zaristischer Historienträume.

Padma Desai, die 1964 im indischen Konsulat von Odessa lebte und bei ihren Reisen durchs Land als eine damals noch exotische Erscheinung bestaunt wurde, hat den Weg in die Beletage gefunden. Ihre Sicht auf Rußland ist mit prominenten Namen in hohen und höchsten Ämtern garniert, die sie mit der Selbstverständlichkeit ihrer Kreise fallen läßt. Und da sie den russischen Humor liebt, weil er im Unterschied zum amerikanischen so intellektuell sei, streut sie diverse zumeist bekannte Witze in ihren Vortrag ein. Dies löst unweigerlich Heiterkeit beim Publikum aus, zumal die Scherze zu Lasten der kommunistischen Ideologie, protziger Oligarchen oder eines selbstherrlichen Putin gehen, was sich aus westlicher Sicht leichterdings zum geistvollen Sticheln gegen die Obrigkeit uminterpretieren läßt. Eine geläufige Geschichte geht so: Als Chruschtschow einst das befreundete Indien besuchte und das Taj Mahal erblickte, sagte er: Wie viele Sklaven waren notwendig, um dies zu errichten! Diese Anekdote der Referentin rief herzhaftes Gelächter hervor, und so sprach die Pointe mit ihren Implikationen wie beabsichtigt für sich selbst. Kulturleistungen sind nun einmal das Privileg jener, die sie sich leisten können, ohne zu fragen, wer sie geleistet hat.


Ausgelegte Bücher mit Putins Konterfei - Foto: GIGA Distinguished Speaker Lecture Series © Frank Eberhard

Der Stein des Anstoßes?
Foto: GIGA Distinguished Speaker Lecture Series © Frank Eberhard


Das Publikum hegt Zweifel

Bemerkenswert und doch nicht überraschend entwickelte sich die anschließende Diskussion, holten doch sämtliche Fragen und Beiträge aus dem Publikum zumindest ansatzweise nach, was man im Vortrag offensichtlich vermißt oder mißbilligt hatte. So wollte ein Diskutant wissen, warum die Referentin die russische Reaktion mehrfach als extrem bezeichnet hatte. Er erinnerte an den Angriff Georgiens auf Rußland, der westlicherseits zunächst umgekehrt dargestellt wurde, wie auch die jahrzehntelange Expansion der NATO nach Osten. Schon Jelzin habe wiederholt eine Garantie der geostrategischen Interessen Rußlands gefordert, wie sie jeder Staat für sich beansprucht.

Daraufhin mußte die Referentin einräumen, daß auch auf US-amerikanischer Seite Fehler gemacht worden seien. Die Regierung in Washington stehe jedoch unter enormem Druck führender Republikaner, die manchmal etwas übertrieben reagierten. Als erkläre oder rechtfertige diese Ausflucht die konsistente Strategie der NATO, spielte sie deren aktuelle Truppenverlegung herunter und fügte hinzu, es müßten aber auch Signale aus Rußland kommen.

Putins Popularität sei hoch, da sich die Lebensverhältnisse in Rußland während seiner Regierungszeit deutlich gebessert hätten, gab eine Diskussionsteilnehmerin zu bedenken. Padma Desai bestätigte die hohen Umfragewerte, führte sie aber darauf zurück, daß die Opposition keine Stimme habe. Das Internet stehe unter Beobachtung, die Medien würden kontrolliert, Zusammenkünfte auf der Straße sofort durch Festnahmen unterbunden. Geopolitisch herrsche die Stimmung vor, Putin habe die Krim zurückgeholt, verleihe Rußland wieder Weltgeltung und halte die Amerikaner im Zaum. Ohne diese Argumente der Referentin in Abrede zu stellen, fällt doch auf, daß sie auf den vorgebrachten Aspekt, Putins Politik habe die soziale Lage der Bevölkerung verbessert, überhaupt nicht eingehen.

Bedenkenswert war auch der Hinweis aus dem Plenum, daß sich im Zuge der sogenannten Farbenrevolutionen der Eindruck verdichtet habe, es seien dabei westliche Interessen im Spiel. In Rußland herrsche die Furcht vor, das Land könne auseinanderbrechen, und viele Menschen glaubten, der Westen betreibe diese Spaltung über die Ukraine. Man erinnere sich an die alte deutsche Strategie, Kiew zu erobern, um die Sowjetunion zu zerschlagen. Auch darauf antwortete Padma Desai nur fragmentarisch, indem sie die angesprochenen westlichen Interventionsinteressen ausblendete und, sicher zutreffend, versicherte, die Russen liebten ihr Land. Tschetschenien sei ein Problem, doch abgesehen davon werde Rußland zusammenbleiben.

Er sei im Ölgeschäft tätig, stellte sich ein deutscher Geschäftsmann vor. Als solcher wünsche er sich vor allem Konfliktlösungen, zumal die einheimische Wirtschaft enge Beziehungen zu Rußland pflege. Eine Mitarbeiterin aus dem heutigen Estland habe ihm erzählt, daß es in der Sowjetunion an vielen Konsumgütern gefehlt habe, die Menschen jedoch stolz gewesen seien. Diesen Stolz habe man ihnen genommen. Rußland sei selbstverständlich eine Weltmacht und verfolge genau wie die USA hegemoniale Interessen. Napoleon sei gescheitert, Hitler sei gescheitert, niemand konnte Rußland besiegen. Die Chinesen sagten: Wenn du einen Feind nicht besiegen kannst, mache ihn dir zum Freund. Da man bereits in einem neuen kalten Krieg lebe, wolle er wissen, wie man zu einer friedlichen Koexistenz zurückkehren könne, zumal die aktuelle Entwicklung nicht nur die deutsche Wirtschaft, sondern noch viel mehr zerstöre. Dem fügte in der Folge ein anderer Diskussionsteilnehmer die Frage hinzu, ob Europa nicht besser beraten wäre, eine von den USA unabhängigere Politik zu verfolgen und die Interessen Moskaus stärker wahrzunehmen.

Wie die Referentin daraufhin bestätigte, würden bis zu 40 Prozent der deutschen Exporte mit Rußland abgewickelt, das zugleich 20 Prozent des deutschen Energiebedarfs bediene. Die USA unterlägen einer derartigen Abhängigkeit nicht, so daß sie keine Folgen der Sanktionen im eigenen Land befürchten müßten. Der US-Präsident müsse sich freilich vor den Republikanern rechtfertigen, die EU-Staaten unterlägen dem Druck der USA, und Kanzlerin Merkel sei nach anfänglichem Zögern auf den Kurs Washingtons eingeschwenkt, stellte Padma Desai eine Kette vorgeblicher Zwangsreaktionen auf, die jede aktive Beteiligung der genannten Regierungen am Konflikt mit Rußland ausblendet.

Auf die abschließenden Fragen, ob Rußland ohne Putin anders auf den äußeren Druck reagieren würde, und wie die Entwicklung im Land weitergehen könnte, antwortete Padma Desai: Selbst wenn es sich um eine amerikanische Aggression handeln sollte, könnte sich Putin doch hinsetzen und verhandeln. Da er aber ein egozentrischer ehemaliger KGB-Agent sei, werde er das nicht tun, sondern drohe mit Atomraketen, wobei er durchaus manches wahrmachen könnte, was er angekündigt hat. Was die weitere Entwicklung betreffe, verfüge Rußland über ungeheure Ressourcen, gut ausgebildete Arbeitskräfte, Wissenschaft und Technologie. Ließen sich die innovativen Fähigkeiten der jungen Generation durch Anreize und die Aussicht auf bessere Lebensverhältnisse ermutigen, müßte sie nicht mehr auswandern. Die aktuellen Wirtschaftsdaten sähen jedoch nicht gut für Rußland aus, was nicht ewig so weitergehen könne. "Werden die US-Politiker künftig etwas entspannter zu Werke gehen?", fragte die Referentin rhetorisch, um dann energisch zu unterstreichen, wie sie die Rollen verteilt sieht: Jemand müsse nachgeben, und da sei Putin gefragt, für Entspannung zu sorgen. Aber auf die Frage, was die Zukunft bringt, könne sie nur antworten: Ich weiß es nicht!

Dem bleibt nur noch hinzuzufügen, daß man im Grunde am Ende dort angelangt war, wo eine ernsthafte Diskussion der Konfrontation mit Rußland und deren Deeskalation beginnen könnte. So gesehen hatte die Veranstaltung ihren Zweck erfüllt, wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, ob eine konzeptionelle Abkürzung nicht ergiebiger gewesen wäre. Insofern die neu etablierte Vortragsserie dem Ansatz geschuldet ist, Rang und Geltung des GIGA als Denkfabrik zu befördern, ist die Erwägung nicht zu vernachlässigen, ob der Aufstieg in dünne Höhenluft womöglich nur zum Preis einer ebensolchen Engführung der Expertise zu haben ist.


Fußnoten:

[1] http://www.neopresse.com/politik/krieg-gegen-den-terrorvier-millionen-tote-moslems-seit-1990/

[2] http://www.giga-hamburg.de/de/veranstaltung/putin-and-russia-in-historical-perspective

1. August 2015


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