Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT


BERICHT/212: Eurokampagne HDP - Bauernopfer links ... (SB)


HDP am Scheideweg?

Wahlkampfveranstaltung mit Selahattin Demirtaş, dem Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), in Hamburg am 27. September 2015



Selahattin Demirtaş in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Selahattin Demirtaş während einer Wahlkampfveranstaltung am 27. September in Hamburg
Foto: © 2015 by Schattenblick

Wenn Selahattin Demirtaş, Ko-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP), als Hoffnungsträger der Kurdinnen und Kurden in der Türkei bezeichnet wird, sind damit nicht allein Perspektiven gemeint, wie sie die Wähler- und Anhängerschaft einer jeden parlamentarischen Partei ihrer Leitfigur entgegenbringen würde. Die mit Demirtaş und weiteren parlamentarischen Erfolgen der prokurdischen HDP verknüpften Hoffnungen können aus nicht-kurdischer Sicht nur unter Berücksichtigung der spezifischen Lage eines Volkes, das sich niemals als ein eigenständiger Staat konstituieren konnte und eine Jahrzehnte währende Geschichte der Unterdrückung, Entfremdung und Zwangsassimilation aufweist, nachempfunden werden.

In der Türkei wurde lange Zeit sogar die Existenz des kurdischen Volkes verleugnet. Immer wieder machten die Kurdinnen und Kurden, deren Siedlungsgebiete im Verlauf ihrer wechsel- und leidvollen Geschichte zwischen vier Staaten aufgeteilt wurden, die Erfahrung, daß sie in der Position der Schwächeren auch keine echte Unterstützung Dritter zu erwarten haben. Sei es, daß ihnen 1920 nach dem Ende des Osmanischen Reiches im Vertrag von Sèvres zwar die Gründung eines eigenen Staates versprochen wurde, was dann alsbald wieder fallengelassen wurde; sei es, daß in den kriegerischen Konflikten zwischen Staaten mit kurdischem Bevölkerungsanteil die Kurden des Gegners als militärische Hilfskräfte rekrutiert wurden durch Autonomieversprechen, die hinterher nicht eingelöst wurden; sei es, daß die internationale Gemeinschaft die kurdischen Wünsche nach einem Leben in Würde, Sicherheit und Freiheit zurückstellt gegenüber den Interessen der sie beherrschenden Staaten an einer Aufrechterhaltung des Status Quo.

Sollte es dann doch Ausnahmen von dieser auf bitteren Erfahrungen beruhenden scheinbaren Gesetzmäßigkeit geben wie in jüngster Zeit, in der sich kurdische Milizen im Kampf gegen den Islamischen Staat als nützlich erwiesen haben, bleibt doch die Befürchtung bestehen, daß der in Aussicht gestellte Lohn einer vollständigen gesellschaftlichen Teilhabe mit allen Rechten, wie sie Menschen anderer Nationalitäten auch genießen, den Kurdinnen und Kurden am Ende doch vorenthalten wird. In der Türkei nun hat sich mit der HDP eine aus kurdischen Bewegungszusammenhängen stammende Partei entwickelt, die sich auch für alle linken und fortschrittlichen Kräfte des Landes geöffnet hat und als Sammlungsbewegung einer Opposition, die eine andere Türkei möchte, bei den Parlamentswahlen im Juni einen ersten Durchbruch geschafft hat.


S. Demirtaş spricht, vor ihm in die Höhe gereckte Victory-Handzeichen seiner Anhänger - Foto: © 2015 by Schattenblick

Frieden, Demokratie und Gleichheit - eine andere Türkei ist möglich
Foto: © 2015 by Schattenblick

Selahattin Demirtaş gilt als der derzeit wohl größte parlamentarische Widersacher des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dessen Partei, die islamisch-konservative Partei AKP, hatte bei den Parlamentswahlen im Juni nach zwölf Jahren ihre absolute Mehrheit verloren, weil die HDP mit 13,1 Prozent der Stimmen erstmals die 10-Prozent-Hürde überwinden und ins Parlament einziehen konnte. Da der AKP die Regierungsbildung nicht gelang bzw. nicht gelingen wollte, um auf diesem Wege Neuwahlen zu erzwingen, steht am 1. November ein erneuter Urnengang bevor. Die Wahlkampf-Situation ist nur vordergründig mit der vorigen vergleichbar [1]. Der Waffenstillstand zwischen dem türkischen Staat und der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wurde inzwischen von beiden Seiten aufgekündigt, was auch das Ende der mehrjährigen Vermittlungs- und Verhandlungsbemühungen bedeutet. Ende Juli wurden über 1.300 Menschen festgenommen, bei denen es sich um Angehörige der PKK und linker Organisationen wie auch des Islamischen Staates gehandelt haben soll.

Erdogans Ankündigung, juristische Schritte gegen HDP-Abgeordnete einzuleiten, wurde im Falle ihres Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş bereits umgesetzt. Ihm könnten, sollte es tatsächlich zum Prozeß kommen wegen des Vorwurfs, er habe im Oktober 2014 zu bewaffneten Protesten aufgerufen, bis zu 24 Jahre Haft drohen. Nach dem Wahlerfolg der HDP hatte Demirtaş betont, daß die Entschärfung des Kurdenkonflikts nun die wichtigste Aufgabe sei. Auch nach dem wenig später erfolgten Ausbruch schwerer Gefechte und großangelegter Angriffe der türkischen Luftwaffe auf mutmaßliche PKK-Stellungen hielt er an seiner prinzipiellen Bereitschaft, in diesem Konflikt mit beiden Seiten friedensvermittelnde Gespräche zu führen, fest.

Die USA, die Erdogan "Carte blanche" für den Krieg gegen die Kurdenbewegung erteilt hatten, sind ein zumeist ungenannter Akteur in diesem Konflikt, verfolgen sie doch bereits seit vielen Jahren ein Konzept der Neugestaltung der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens, bei dem nach gewaltsamen Regierungsstürzen, Kriegen und Bürgerkriegen, militärischen Besetzungen und zerstörten Staatsstrukturen wie im Irak und Libyen nun die Vereinnahmung Syriens auf der Agenda steht mit der Folge, daß hier eine konfrontative Situation zwischen Rußland und den NATO-Staaten ungeachtet ihrer behaupteten gemeinsamen Gegnerschaft gegenüber dem Islamischen Staat entstanden ist.

Inmitten dieser hochbrisanten und für die Menschen in der gesamten Region, wie die Flüchtlingsströme nach Europa beweisen, in einem noch nie dagewesenen Ausmaß katastrophalen Situation stellt die Kurdenfrage ein Problem dar, dem sich internationale Akteure nur in einer ihren eigenen Interessen zweckdienlichen Weise widmen werden. Ankara respektive die türkische Armee stellt als einziger, direkt in der Region gelegener NATO-Staat einen Aktivposten ersten Grades dar, weshalb zu vermuten steht, daß sich die Rückendeckung zumindest Washingtons auch auf Erdogans Vorbereitungen für eine De-facto- Präsidialdiktatur erstreckt, die ein extremer Rückschlag für die Demokratiebestrebungen kurdischer, linker und fortschrittlicher Bewegungen und Organisationen in der Türkei wäre.


S. Demirtaş am Rednerpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit vereinten Kräften in eine menschenwürdige Zukunft
Foto: © 2015 by Schattenblick


Selahattin Demirtaş auf Wahlkampfreise in Europa

Im Zuge seiner Wahlkampf-Rundreise durch Europa trat der Ko- Vorsitzende der HDP am 27. September in einer mit mehreren tausend Menschen vollbesetzten Sporthalle in Hamburg-Bergedorf auf. Unter dem Jubel der Anwesenden erklärte er, die HDP werde die für Erdogans Präsidialsystem erforderlichen Verfassungsänderungen nicht zulassen. Kein einziger Mensch, auch kein Soldat der türkischen Armee, sei ein Gegner der Kurden, niemand solle in diesem Krieg mehr sterben, so Demirtaş. Nur durch Friedensverhandlungen könne der Konflikt gelöst werden, was aber an Erdogan scheitere, der seine Macht konsolidieren wolle und deshalb Krieg gegen die kurdische Guerilla führe. Alle Stimmen für die HDP, gerade auch die im Ausland abgegebenen, würden den Friedens- und Demokratisierungsprozeß in der Türkei stärken.

Während seines Deutschland-Aufenthalts richtete Demirtaş auch ein Signal an Berlin. Er warb um Unterstützung der Bundesregierung bei der Lösung der Kurdenfrage und erklärte, daß sie auch bei möglichen Verhandlungen mit der PKK eine gewichtigere Rolle spielen könne als bisher. [2] Es hat den Anschein, als wollte Demirtaş versuchen, sich den westlichen Staaten gegenüber Erdogan als die bessere Alternative zu empfehlen. Seine Bemühungen scheinen bereits auf ein gewisses Echo gestoßen zu sein. So forderte Bundesaußenminister Steinmeier Erdogan im August auf, am Friedensprozeß mit den Kurden, die eine ernstzunehmende politische Stimme im Parteienspektrum der Türkei seien, festzuhalten. Am 18. September war es bei einem Besuch Steinmeiers in Ankara auch zu einem Gespräch mit Demirtaş gekommen.

Innerhalb der kurdischen Bewegung könnte dieser Vorstoß des HDP-Ko-Vorsitzenden gewisse Befürchtungen ausgelöst haben, schon allein deshalb, weil die deutsche Regierung bislang an dem Verbot der PKK festgehalten hat. Für eine mögliche Spaltung der kurdischen Kräfte in Organisationen, die sich auf Öcalan beziehen und sich in dessen politischer Tradition stehend begreifen, und einem neuen Kurs, wie ihn die HDP mit ihrer politischen Öffnung auch in Richtung führender westlicher Staaten zu verkörpern scheint, gibt es allerdings wenig konkreten Anlaß. Öcalan selbst hat 1999 auf seiner Irrfahrt in Italien um Asyl nachgesucht, was ihm verwehrt wurde. Und als der PKK- Mitbegründer dann auch in den weiteren Hauptstädten der EU anklopfte, wurden ihm Schutz und Aufnahme verweigert mit dem bekannten Resultat seiner Entführung und Gefangennahme unter mutmaßlicher Beteiligung namhafter westlicher Geheimdienste.


Zwei Handys mit Demirtaş auf dem Display - Foto: © 2015 by Schattenblick

Tausende Anhänger, tausende Handys...
Foto: © 2015 by Schattenblick

Wichtiger noch waren die Waffenstillstandserklärungen der PKK gegenüber der damaligen türkischen Regierung, die ebenso einseitig und ergebnislos blieben wie die Bemühungen Öcalans, unter den Europäern Vermittlungspartner zu finden, um eine politische Lösung des Kurdenkonflikts in Verhandlungen mit Ankara zu suchen. Mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes hatte die Kurdische Arbeiterpartei seinerzeit offenbar den Zweck verfolgt, sich eine Position zu verschaffen, die stark genug wäre, die türkische Regierung - und sei es durch die Mithilfe Dritter - endlich an den Verhandlungstisch zu bringen.

Das eigentliche Problem, aus einer Position der Schwäche heraus das eigene Anliegen nicht durchsetzen zu können, scheint jedoch keineswegs auf die damalige Situation oder den kurdisch-türkischen Konflikt begrenzt werden zu können, berührt es doch - heute mehr denn je - ganz grundsätzlich das Mißverhältnis zwischen dem vergesellschafteten Menschen und einer Verfügungs-, Raub- und Herrschaftsstruktur, die sich in Zeiten wachsenden ökonomischen Mangels, anwachsender ökologischer Zerstörungen und klimawandelbedingter Katastrophen immer mehr als das entpuppt, was sie ist, nämlich ein dem Überleben zulasten anderer gewidmetes Instrumentarium, dessen Protagonisten vielleicht wohlfeile Worte im Munde führen, doch unterm Strich stets Partikularinteressen verfolgen, und so sind Befürchtungen, ein kurdischer Schulterschluß mit der deutschen Bundesregierung könnte ein übles Nachspiel haben, selbstverständlich nicht gegenstandslos.


Selahattin Demirtaş mit Anhängern, hinter ihm HDP-Plakate - Foto: © 2015 by Schattenblick

Selahattin Demirtaş - Hoffnungsträger der kurdischen Demokratiebewegung
Foto: © 2015 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Siehe auch die Reportage über die Pressekonferenz der Initiative zur Unterstützung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Hamburg-Altona am 12. April 2015 im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/191: Die andere Türkei - das Schlimmste verhindern ... (SB)
INTERVIEW/252: Die andere Türkei - Wahlproporz und Daueropfer ...    Metin Kaya im Gespräch (SB)
INTERVIEW/253: Die andere Türkei - derselbe Kampf ...    Cansu Özdemir im Gespräch (SB)
INTERVIEW/256: Die andere Türkei - Zukunftspartner ...    Yavuz Fersoglu im Gespräch (SB)

[2] http://www.dw.com/de/prokurdische-partei-hdp-bittet-deutschland-um-vermittlung/a-18744605

3. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang