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BERICHT/235: Die Zwischentürkei - Sippenhaft und Bürgerkrieg ... (SB)


Repression an allen Fronten - Erdogans Lösung der "Kurdenfrage"

Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel


Im Rahmen der Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" im Kieler Landeshaus hielt der Rechtsanwalt Cihan Ipek aus Diyarbakir einen Vortrag zum Thema "Die Türkei als Zufluchtsort und als Ursache für Fluchtbewegungen". Darin ging er auf die Eskalation in den kurdischen Gebieten der Südosttürkei seit Juli 2015, die Rolle der Türkei im Syrienkrieg und deren Auswirkungen auf die Flüchtlingsbewegungen im Land ein. Zudem nahm er eine Bewertung der jüngsten Gesetzesänderungen in Hinblick auf die Rechte von Flüchtlingen im Kontext des Rücknahmeabkommens zwischen der EU und der türkischen Regierung vor.

Cihan Ipek ist Stellvertretender Vorsitzender der Anwaltskammer von Diyarbakir, wo er seit 1988 als Rechtsanwalt tätig ist. Wie er berichtet, habe er als junger Anwalt politische Straftäter vertreten. Damals waren sogenannte polizeiliche Festnahmezeiten von 30 Tagen üblich, während denen die Beschuldigten keinen einzigen Menschen von draußen zu Gesicht bekamen und kein Richter oder Staatsanwalt eingeschaltet wurde. Teilweise wurden Menschen in den Gefängnissen schwer gefoltert.

Als Anwalt in der Türkei zu arbeiten, sei noch immer mit Schwierigkeiten verbunden. So bekomme man nicht immer Zugang zu staatlichen Akten und habe oft Mühe, nach Festnahmen auf der Polizeistation seine Rechte in Anspruch zu nehmen. Durch Reformen und Gesetzesänderungen seien seit 2005 die Voraussetzungen der anwaltlichen Tätigkeit erheblich demokratischer und liberaler geworden. Sei der Anwalt in seinem Bereich kompetent, könne er inzwischen einiges erreichen. Dennoch stünden einer ungehinderten Arbeit nach wie vor politisch bedingte Hindernisse im Wege. Beispielsweise sei es sehr schwierig, jesidische Flüchtlinge aus dem Nordirak, denen in Diyarbakir Schutz seitens der Stadtverwaltung gewährt wird, als Anwalt zu vertreten. Im Prinzip mache es keinen Unterschied, ob man einen türkischen Staatsbürger oder einen Flüchtling vertritt. Würden jedoch bestimmte Gruppen von Flüchtlingen wie die Jesiden in ihren Rechten beschränkt, seien dem Anwalt mehr oder minder die Hände gebunden.


Beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Cihan Ipek
Foto: © 2016 by Schattenblick


Chronologie eines Täuschungsmanövers

Um die Eskalation seit den Wahlen vom 7. Juni 2015 zu verstehen, sei es notwendig, auf die Vorgeschichte einzugehen, so der Referent, der seine Sicht der Ereignisse im Vortrag folgendermaßen zusammenfaßte: In der Geschichte der türkischen Republik wurden die Kurden nie als eigenes Volk anerkannt. Ihre kulturellen Rechte wurden mißachtet, die kurdische Sprache sogar per Gesetz verboten. In Folge zweier Militärputsche in der Türkei wurden die Menschenrechte massiv verletzt, worauf insbesondere in den 80er Jahren zahlreiche Menschen nach Europa flüchteten. Nach Artikel 66 der türkischen Verfassung sind alle Staatsangehörigen Türken, die Kurden existieren demnach nicht. Deshalb wird in den Schulen kein Kurdisch unterrichtet und die kurdische Geschichte weder in der Schule noch an der Universität thematisiert.

Diese Situation führte zwangsläufig dazu, daß die Kurden für ihre Rechte kämpften, um ihre Identität in der Türkei durchzusetzen. Dieser Kampf wurde teils mit juristischen, parlamentarischen und anderen zivilen Mitteln, teils bewaffnet geführt. Die 1970 gegründete und bald darauf verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK griff 1987 zu den Waffen und bildete Einheiten, die sich in die Berge zurückzogen. Dadurch wurden die Kämpfe der Kurden der Weltöffentlichkeit bekannt.

Die 2001 gegründete proislamistische AKP stand in der Tradition verbotener Vorgängerparteien, machte aber eine Trennung von der islamischen Wohlstandspartei geltend. Der Aufstieg der AKP hängt unmittelbar mit der anfangs von ihr vorgehaltenen Perspektive zusammen, eine liberale und demokratische Türkei samt neuer Verfassung zu schaffen wie auch einen Beitritt zur Europäischen Union anzustreben. Nachdem die Kurden, viele andere Minderheiten und auch die demokratischen Kräfte so lange unter dem Kemalismus und dem Einfluß der Militärs gelitten hatten, wuchs der Rückhalt der AKP in der Bevölkerung, da sich viele Menschen von ihr ein Ende des Jochs repressiver Staatlichkeit erhofften.

In ihrer ersten vierjährigen Legislatur leitete die AKP tatsächlich diverse Reformen und Schritte der Annäherung an die EU ein. Dies begünstigte ihre Wiederwahl und setzte sich auch in den folgenden Jahren fort. Die Kurden waren damit zufrieden und hegten die Erwartung, daß sich ihre Situation verbessern werde. Noch kämpfte die PKK in den Bergen, doch wurden seit 2013 Verhandlungen geführt, wobei Erdogan persönlich mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel zusammentraf. Es kam zu weiteren geheimen Treffen in Oslo wie auch teilweise öffentlichen Begegnungen mit der prokurdischen Partei HDP in der Türkei. Als eine Übereinkunft erzielt worden war, schickte PKK-Chef Öcalan aus dem Gefängnis einen Brief, der von einem Abgeordneten der HDP vor mehr als 60.000 jubelnden Menschen verlesen wurde. Die PKK rief einen Waffenstillstand aus, die türkische Regierung erklärte sich bereit, auf dem Verhandlungsweg eine politische Lösung herbeizuführen.

Mit diesem Abkommen waren große Hoffnungen verbunden, zumal sich hochrangige Regierungsmitglieder vor laufenden Kameras mit Delegationen der HDP trafen und vor der Weltöffentlichkeit die vereinbarten Punkte darlegten: Freiheit für PKK-Kämpfer, die kurdische Sprache wird in den Schulen unterrichtet. Die PKK verzichtet auf einen unabhängigen kurdischen Staat, der sich über Regionen von vier Ländern erstreckt, und strebt statt dessen Autonomie innerhalb der Türkei an. In dieser Zeit des Waffenstillstands befand sich die türkische Wirtschaft noch im Aufschwung, in Diyarbakir eröffnete erstmals ein deutsches Unternehmen eine Filiale und eine niederländische Firma ein riesiges Einkaufszentrum. Die Menschen waren froh, weil Frieden und Demokratie greifbar nahe schienen.

Im Wahlkampf des Jahres 2015 schlug jedoch die vermeintliche Annäherung sehr bald in eine feindselige Atmosphäre unter massiver Bezichtigung um. Als sich abzeichnete, daß die HDP die hohe Zehn-Prozent-Hürde übertreffen und damit die Dominanz der AKP erheblich schwächen würde, verschärfte sich die Hetze gegen die Kurden. Erdogan distanzierte sich von jeglichen Vereinbarungen und erklärte, es gebe keine Verhandlungen mit Terroristen. Es gebe nur einen Staat, eine Nation und eine Fahne. Ungeachtet dieser massiven Kampagne zog die HDP mit 61 Abgeordneten ins Parlament ein. Die AKP war jedoch nie bereit, mit ihr eine Koalition zu bilden, und stellte völlig inakzeptable Forderungen. Auch eine Koalition der AKP mit der kemalistisch ausgerichteten sozialdemokratischen Partei war ausgeschlossen, und dazwischen saßen die Kurden wie so oft als Sündenböcke.

Unterdessen hatte sich die Situation in der Region dramatisch verändert. Der IS eroberte einen großen Teil des Iraks wie auch Teile Syriens und rief in den von ihm besetzten Gebieten den Islamischen Staat aus, der aller Welt den Krieg erklärte. Vor laufender Kamera wurden Menschen geschlachtet, und die jesidischen Kurden, die Jahrtausende ihr authentisches Leben geführt und niemandem geschadet hatten, waren im Shingal-Gebirge von einem Massenmord bedroht. Allen voran die PKK kämpfte einen Korridor frei und rettete so die geflohenen Menschen aus dem Gebirge.

Die Kurden in Nordsyrien waren jahrzehntelang staatenlos, weil sie nach Gründung der syrischen Republik zu osmanischen Staatsbürgern erklärt worden waren. In den Wirren des Krieges gelang es ihnen, autonome und selbstverwaltete Kantone in Rojava zu gründen, die jedoch von der türkischen Regierung als große Gefahr betrachtet wurden. Sie fürchtete offenbar, daß der Demokratisierungsprozeß auf die Kurden in der Türkei übergreifen könnte. Als die Stadt Kobane vom IS angegriffen wurde und kurdische Verbände aus der Türkei zu Hilfe kommen wollten, wurde die Grenze von türkischer Seite geschlossen. Als es zu Massendemonstrationen kurdischer Oppositioneller in der Türkei kam, wurden diese unter Einsatz von Tränengas aufgelöst. Schließlich erlaubte man Kurden, aus Kobane zu fliehen, und erst sehr spät durfte sich ein kleines Kontingent der Peschmerga aus dem Nordirak an der Verteidigung Kobanes beteiligen.

Als sich in Suruc junge Leute in einem Kulturverein versammelten, um den Menschen in Kobane zu Hilfe zu kommen, wurde ein Selbstmordattentat verübt, bei dem 34 Menschen starben und zahlreiche weitere Verletzungen davontrugen. Der IS bekannte sich zu diesem Anschlag, wobei der zuvor inhaftierte Täter kurz vorher aus türkischer Haft entlassen worden war. Dabei war bekannt, daß die türkische Regierung Kämpfer für den IS aus Europa oder Tschetschenien passieren ließ. Wenig später wurden in einer nahegelegenen Stadt zwei Polizisten offenbar von Mitgliedern einer Gruppierung getötet, die sich von der PKK abgespalten hatte.

Daraufhin bombardierte die türkische Luftwaffe Lager der PKK im Nordirak sowie Stützpunkte des IS in Nordsyrien, worauf mit den Angriffen auf die kurdischen Städte im Südosten der Türkei eine neue Form der inneren Kriegsführung begann. In den von der HDP regierten Städten hatten zunächst die Jugendorganisation der PKK und dann zahlreiche weitere junge Kurden Barrikaden errichtet, was die Regierung zum Vorwand für massive Angriffe von Polizei und Streitkräften nahm. Diese beschossen die Städte mit Artillerie und drangen mit gepanzerten Fahrzeugen ein. Es wurden Ausgangssperren verhängt und ganze Viertel zerstört. Nach den Berichten der Menschenrechtsorganisationen wurden in den Monaten der Ausgangssperre in diesen Gebieten 310 zivile Einwohner, darunter 230 Kinder, von den Sicherheitskräften ermordet. [1]

In der Altstadt Diyarbakir-Sur, wo ursprünglich 27.000 Menschen lebten, wurden mehr als die Hälfte der Wohnungen und alle historischen Denkmäler zerstört. Die Menschen flohen angesichts der Gefahr aus dem Viertel und wurden zu Binnenflüchtlingen, die teilweise bei Verwandten in der Stadt unterkamen oder in ihre alten Dörfer zogen. In den 90er Jahren waren rund 2000 kurdische Dörfer zerstört worden, worauf die Menschen in die Städte und teilweise auch nach Europa flohen. Heute ist durchaus vorstellbar, daß eine neue Fluchtbewegung aus den Kurdengebieten in Richtung EU einsetzt. Die Menschen müssen eine strafrechtliche Verfolgung fürchten, weil sie vielleicht einem PKK-Kämpfer ein Stück Brot gegeben haben oder ihn in ihrer Wohnung übernachten ließen. Die Millionenstadt Diyarbakir ist zwar die größte, aber nur eine unter zahlreichen kurdischen Städten, die von der türkischen Regierung mit Krieg und Vertreibung überzogen werden.

Die Türkei hat im Syrienkrieg die islamistische Opposition unterstützt, um das Assad-Regime zu stürzen. Die Zeiten der guten Beziehungen zu Assad gehören der Vergangenheit an, längst setzt man in Ankara auf Gruppierungen wie Al Nusra, die sich in Teilen dem IS angeschlossen hat. Da die USA und ihre Koalitionspartner auch kurdische Einheiten unterstützen, die von der Türkei als Terrororganisationen bezeichnet werden, kommt es zu gewissen Konflikten dieser Mächte in Syrien. Angesichts dieser Konstellation ist kein Ende des Krieges in Sicht, so daß immer mehr Menschen in die Flucht getrieben werden und über die Grenze in die Türkei gelangen wollen.


Flüchtlingsschutz in der Türkei?

Wie Cihan Ipek weiter ausführte, existierte in der Türkei lange Zeit überhaupt kein Flüchtlingsschutz. Die Regierung unterzeichnete zwar 1961 die Genfer Konventionen zum Schutz der Flüchtlinge, jedoch nur unter diversen Vorbehalten. Demnach konnten zwar europäische Flüchtlinge in der Türkei Asyl beantragen, nicht jedoch Menschen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan oder dem Iran. Das seit 2010 mit der EU verhandelte Rücknahmeabkommen wurde 2011 von beiden Partnern unterzeichnet, aber zunächst vom türkischen Parlament nicht ratifiziert. Vor der Ratifizierung dieses Abkommens im Jahr 2013 hatte die Türkei ihr Ausländergesetz geändert und zusätzliche vorübergehende Schutzmöglichkeiten für syrische Flüchtlinge darin festgeschrieben. Das Schutzgesetz für Flüchtlinge ist allerdings kein Asylgesetz im Sinne eines europäischen Rechtssystems, so der Referent.

So müssen Flüchtlinge aus Syrien ein sogenanntes Zolltor an der Grenze passieren, wo sie registriert und ihre Fingerabdrücke genommen werden. Unter dieser Voraussetzung stehen ihnen bestimmte Rechte wie teilweise Abschiebeverbote oder Anträge, die über ein europäisches Flüchtlingshilfswerk laufen können, zu. Verfügen sie über Geld, dürfen sie sich selbst eine Wohnung suchen. Andernfalls müssen sie in eines der Lager gehen, in denen derzeit offiziellen Berichten zufolge 300.000 Flüchtlinge leben - ein Bruchteil der etwa zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei.

Aufgrund eines Regierungserlasses vom Januar 2016 dürfen sie eine Arbeit annehmen, müssen sich dafür jedoch zunächst beim Ministerium eine Erlaubnis holen. Sofern sie eine Registrierungsnummer haben, können sie sich auch in den Krankenhäusern kostenlos behandeln lassen. Allerdings ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt prekär, selbst in Diyarbakir sind einer aktuellen Umfrage zufolge 17 Prozent arbeitslos. Registrierte Flüchtlinge, die hilfsbedürftig sind, können bei einer Stiftung etwas Geld, Essen oder Sachleistungen wie Kohle in den Wintermonaten bekommen. Was die Gesetzeslage betrifft, sind unter der Voraussetzung einer Registrierung also gewisse Rechte für Flüchtlinge vorgesehen. Ob sie jedoch überhaupt eine Arbeit bekommen, angemessen bezahlt, offiziell oder schwarz beschäftigt werden, taucht in keiner Statistik auf.

Noch ist zwischen EU und türkischer Regierung nicht endgültig ausgehandelt, ob eine Visafreiheit eingeführt wird. Sollte ein entsprechendes Abkommen geschlossen werden, würde die Türkei zumindest offiziell keinen Unterschied zwischen einem Türken in Istanbul und einem Kurden in Diyarbakir machen. Ob sich jedoch alle Behörden an die gesetzlichen Vorgaben halten würden oder einem Ausreisewilligen vorhalten, er habe den Militärdienst nicht absolviert, er werde strafrechtlich verfolgt oder ihm irgendwelche anderen Dinge anhängen, wisse er natürlich nicht, so Cihan Ipek.

(wird fortgesetzt)


Fußnote:

[1] Siehe dazu:
"Erdogan hetzt zum Bürgerkrieg." Ein Gespräch mit Diyarbakirs Oberbürgermeisterin Gültan Kisanak
https://www.jungewelt.de/2016/04-18/012.php


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BERICHT/234: Die Zwischentürkei - nicht sicher, nicht frei ... (SB)

22. April 2016


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