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BERICHT/238: Avantgarde francaise - Widerstand am Mahlzahn der Zwänge ... (SB)


"Warum Streiks und Proteste in Frankreich?"

Veranstaltung in Hamburg-St. Georg am 20. Juni 2016


Einmal mehr ist die deutschen Bevölkerung als Fußballnation geeint, so daß nichts mehr in den Blick gerät, was die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer sozialen Zerklüftung bedingt. Die zur Fußball-WM der Männer 2006 ausgegebene Losung, nach langen Jahren endlich zur Normalität eines "positiven Patriotismus" zurückkehren zu können, hat zehn Jahre später, wie zu erwarten stand, die giftige Frucht massenhafter Mobilisierung für die rassistische und nationalchauvinistische Rechte hervorgebracht. Was damals nicht unwesentlich zur widerstandslosen Durchsetzung des 2005 in Kraft getretenen rot-grünen Workfare-Regimes beigetragen hat, wiederholt sich in ähnlicher Form bei der Rücknahme arbeitsrechtlicher und sozialer Errungenschaften bei der Fußball-EM 2016 der Männer in Frankreich. Wie im Falle der Agenda 2010 in der Bundesrepublik soll das von der rot-grünen Regierung in Paris geplante Arbeitsgesetz den nationalen Standort zu Lasten der Lohnabhängigenklasse am Weltmarkt wettbewerbsfähiger machen, und das insbesondere in Sicht auf die neoliberale Arbeitsgesellschaft der Bundesrepublik, die man ein- und überholen will [1].

So hat Präsident François Hollande bei der Ankündigung des Gesetzesvorhabens ausdrücklich auf das deutsche Vorbild Bezug genommen, was das Verhältnis der beiden führenden Mitgliedstaaten der Europäische Union, trotz scharfer Konkurrenz inmitten der globalen Krise des Kapitals mehr denn je aufeinander angewiesen zu sein, auf den Punkt seiner notorischen Ambivalenz bringt. Den eigenen Einfluß in der Welt durch die EU zu vergrößern, dabei jedoch nicht die binneneuropäische Staatenkonkurrenz aufzugeben, auf deren Grundlage insbesondere die Bundesrepublik die ökonomische Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu ihren Gunsten kannibalisiert, ist das zentrale Merkmal einer Wirtschafts- und Währungsunion, die zwar das gleiche Geld, nicht jedoch die gleichen sozialen Rechte und Privilegien teilt. Zahlreiche auf EU-Ebene entstandene und beschlossene Instrumente regulieren und überwachen eine monetaristische Sparpolitik, die den Wert eines immer weniger durch materielle Produktion gedeckten Geldes durch die Senkung des Preises der Arbeit und der Kosten für Sozialleistungen stabilisieren soll, was mittelbar auch die Reformpolitik Hollandes und seines Premiers Manuel Valls bestimmt.


Plakat zur Ankündigung der Veranstaltung - Foto: 2016 by Schattenblick

Foto: 2016 by Schattenblick

In dem führenden US-Magazin für geostrategische Fragen "Foreign Affairs" [2] bewertet der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Sozial- und Arbeitsmarktreform Agenda 2010, für die er als Kanzleramtsminister in der Regierung Schröder mitverantwortlich ist, als "Grundlage für die Rückkehr Deutschlands zu ökonomischer Stärke, einer Stärke, die bis zum heutigen Tag anhält". Insbesondere in der Krise seit 2008 habe sich bewährt, daß deutsche Unternehmen ihre Kostenvorteile etwa in China gewinnbringend verwerteten. "Die deutschen Arbeiter unterstützen das Modell exportorientierten Wachstums aus guten Gründen", so Steinmeiers knapper Kommentar zur eher geringen Bereitschaft der Lohnabhängigen hierzulande, in Arbeitskämpfe einzutreten, in denen nicht nur Tarifkonflikte, sondern politische Grundsatzfragen verhandelt werden. Die soziale Verelendung, die schwächere europäische Volkswirtschaften wie etwa Griechenland durch diese Politik aggressiven Niederkonkurrierens erleiden, gereicht dem "deutschen Europa" [3] zu der zweifelhaften Ehre, als Wertegemeinschaft vollmundig Menschenrechte und Demokratie zu predigen, realpolitisch jedoch Ausbeutung und Unterdrückung zu begünstigen.

So sind zwar alle Blicke auf Frankreich gerichtet, aber gesehen wird nur das runde Leder. Das Umfeld der EM wird fast ausschließlich aus der Perspektive des Konsumenten dieser Sportunterhaltung wahrgenommen, was bedeutet, daß die sozialen und politischen Konflikte, die die Fünfte Republik erschüttern, bestenfalls als Störfaktoren auftreten. Dementsprechend gering ist die Unterstützung der Streiks und Proteste, mit denen Hundertausende in Frankreich gegen die geplanten Veränderungen Front machen. Der DGB wird seiner traditionellen Pflicht, sozialpartnerschaftlichen Frieden zu stiften, durch weitgehenden Verzicht auf parteiliche Stellungnahmen zugunsten der demonstrierenden Kolleginnen und Kollegen auf Frankreichs Straßen gerecht. Wenn die bürgerlichen Medien nicht ohnehin vorziehen, die Protestbewegung im Nachbarland zu ignorieren, dann wird sie meist der vermeintlichen Unvernunft geziehen, sich der nachholenden Neoliberalisierung des Arbeitsmarktes zu verweigern. Daß eine als links geltende Regierung in Paris nicht nur bürgerliche Freiheitsrechte im andauernden Ausnahmezustand massiv beschneidet, sondern auch das verfassungsrechtlich verankerte Streik- und Versammlungsrecht durch Verbotsforderungen unterläuft, scheint in der Bundesrepublik kaum jemanden zu interessieren, was in Anbetracht der allgemeinen staatsautoritären Entwicklung wenig Zuversicht auf eine freiere Zukunft vermittelt.


Beim Vortrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

Christian Mahieux
Foto: © 2016 by Schattenblick

Von Frankreich lernen ...

Um so erfreulicher sind unter diesen Umständen Lichtblicke wie solidarische Proteste vor französischen Konsulaten, die weithin sichtbare Unterstützung der Streikenden in Frankreich durch die Belegschaft eines Bremer Daimlerwerkes, die ihrerseits in einem langwierigen Arbeitskampf steht, und Veranstaltungen, in denen Lohnabhängige am französischen Beispiel lernen können, was auch unter hiesigen Umständen möglich sein sollte. So luden der Ortsverein Hamburg im ver.di-Fachbereich 08 und die Föderation der demokratischen Arbeitervereine (DIDF) zu einem Treffen mit dem aus Paris angereisten Gewerkschafter Christian Mahieux ein, was Lothar Degen vom Ortsverein noch nicht als Akt der Solidarität verstanden wissen will. Er fordert das fast 60 Personen zählende Publikum vielmehr dazu auf, kräftig für die Familien streikender Gewerkschafter zu spenden, deren Unterhalt nicht aus der Streikkasse bestritten werden könne, was ein beträchtliches Ergebnis erbrachte.

Es gehe darum, Voraussetzungen für internationale Solidarität für die im Kampf befindlichen Menschen zu schaffen, indem das, was in Frankreich geschieht, besser verständlich gemacht wird, als es die deutsche Presse tue. Solidarität auch dann durch aktives Eintreten zu praktizieren, wenn andere etwas dagegen hätten, sei Tradition im Ortsverein, so Degen, der durchblicken läßt, daß man sich schon etwas mehr Unterstützung für das Zustandekommen der Veranstaltung erhofft habe.


Podium mit Lars Stubbe, Christian Mahieux und Lothar Degen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Lothar Degen führt in die Veranstaltung ein
Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Union Syndicale Solidaires (SUD - solidaires, unitaires, démocratiques), der Christian Mahieux angehört, ist eine von zehn Dachgewerkschaften, die branchenübergreifend organisieren, erklärt der Referent in Hinsicht auf die hierzulande vertraute Tradition der Einheitsgewerkschaft. Die Pluralität der Gewerkschaften Frankreich sei aus verschiedenen Spaltungen, Brüchen und Wiedervereinigungen entstanden und spiegle die Vielfalt der politischen Positionen im gewerkschaftlichen Spektrum wider. Als Zusammenschluß linker Basisgwerkschaften existiert SUD seit 20 Jahren und vertritt etwa 110.000 Beschäftigte in verschiedenen Branchen. Es gehe zum einen darum, die alltäglichen Forderungen der Beschäftigten zu verteidigen, zu vertreten und weiterzuentwickeln, zum anderen versteht SUD die gesellschaftliche Transformation als integralen Bestandteil der Gewerkschaftsarbeit. Das Prinzip der Demokratie stehe im Mittelpunkt, das gelte für die innergewerkschaftliche Organisation ebenso wie für Arbeitskämpfe, wo Entscheidungen gemeinsam in demokratischer Form zu treffen seien.

Die in ganz Frankreich seit Anfang März aktive Streik- und Protestbewegung richte sich vor allem gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes in Privatunternehmen, die Flexibilisierung des Arbeitszeitregimes, die verringerte Bezahlung von Überstunden und die Schwächung der sozialen Absicherung der abhängig Beschäftigten. Das geplante Loi travail stellt das bisher geltende Arbeitsrecht unter anderem dadurch in Frage, daß Tarifverträge, die für ganze Branchen oder das ganze Land verbindliche Normen setzen, künftig im Rahmen von Betriebsvereinbarungen unterschritten werden können. Dies sei insbesondere für die Belegschaften kleiner und mittlerer Betriebe mit keinem oder geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad fatal, weil die Ergebnisse der Arbeitskämpfe in großen Unternehmen auch ihnen zugute kommen, dürfen die dabei getroffenen Abmachungen doch bislang nicht durch Betriebsvereinbarungen unterschritten werden.

Die geplante Arbeitsreform stelle dieses Verhältnis auf den Kopf, denn in Zukunft könnten in kleinen Betrieben deregulierte Bedingungen möglicherweise auch in größeren Unternehmen mit dem Argument durchgesetzt werden, daß der Wettbewerb am Markt dies erzwinge. Eine allgemeine Liberalisierung der Arbeit im Interesse des Kapitals sei auch das Ziel, wenn das Recht der Lohnabhängigen auf Kündigungsschutz und Abfindung bei erfolgter Entlassung geschwächt und Verhandlungen zur Wochenarbeitszeit und Entlohnung auf Betriebsebene heruntergebrochen werden. Für Christian Mahieux bedeutet dies nichts anderes, als daß die Unternehmer die vollständige Individualisierung der Arbeit durchsetzen, um der Lohnabhängigenklasse in letzter Konsequenz diktieren zu können, was bisher an ihrem Widerstand scheiterte.

Vor diesem Hintergrund ist es gelungen, eine soziale Bewegung ins Leben zu rufen, die an übergreifenden nationalen Aktionstagen massenhaft demonstriert und etwa in Raffinerien und bei der Abfallbeseitigung, bei der Eisenbahn und den Fuhrunternehmen gestreikt hat. In der Streikbewegung sind verschiedene Dachverbände der Gewerkschaften auf nationaler Ebene wie CGT, Force Ouvrière, FSU und SUD aktiv. Ein wichtiger Impuls bei der Mobilisierung ging insbesondere zu Beginn der Bewegung von Schülerinnen und Studenten aus. Sie hätten wesentlich dazu beigetragen, daß es seit dreieinhalb Monaten eine starke Bewegung auf Frankreichs Straßen gegen die Reform des Arbeitsrechtes gibt.

Heute tragen die Aktiven aus den Kämpfen des Jahres 2006, als ein Angriff der Regierung auf die Arbeitsbedingungen Jugendlicher durch entschiedene Proteste der davon betroffenen Generation verhindert wurde, durch ihre Erfahrung zur Verjüngung der Bewegung bei. An diese erfolgreiche Mobilisierung könne immer noch angeknüpft werden, bemerkt der Referent und erinnert so an die große Bedeutung der historischen Kontinuität sozialer Kämpfe, die frühere Generationen ausgetragen, aber letztlich nicht vollendet haben, wie der gesellschaftliche Roll back nach den vielen Aufbrüchen und Revolutionen der letzten 200 Jahre zeigt. Auch die Bewegung Nuit debout könne durch die Fragen zu Gesellschaft und Demokratie, die sie auf den zentralen Plätzen vieler Städte diskutiere, zur Erneuerung der Gewerkschaften beitragen. Um eine breitere gesellschaftliche Basis zu schaffen, habe SUD eigens eine Gruppierung für Studenten geschaffen, seien die doch ohnehin meist lohnabhängig beschäftigt, um ihr Studium zu finanzieren.


Mit Christian Mahieux auf dem Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Lars Stubbe übersetzt für das Publikum und den Referenten
Foto: © 2016 by Schattenblick

Zugleich wird das Loi travail aber auch vom Gewerkschaftsdachverband CFDT unterstützt, der in solchen Fällen stets auf seiten der Regierung steht, was die Mobilisierung erschwert, kritisiert Mahieux. Dort wolle man lediglich über die Anwendung des Gesetzes diskutieren, nicht jedoch gegen seine finale Verabschiedung kämpfen. Was in Frankreich offen als Streit verschiedener gewerkschaftspolitischer Positionen hervortrete, sei auch in Einheitsgewerkschaften vorhanden, dort aber wenig sichtbar, so der Referent mit einem Seitenblick auf den wenig streitbaren DGB.

Zwar hätten die landesweiten Aktionstage und Streiks viel bewirkt, es gebe aber noch keine übergreifende Bewegung für einen Generalstreik, dem zentralen Machtmittel der Lohnabhängigen in Auseinandersetzungen mit Kapital und Staat. Wenn das Arbeitsgesetz noch verhindert werden soll, seien die kommenden Wochen entscheidend. Zwar sei eine Blockade der französischen Wirtschaft, wie sie bereits durch Verknappungen des Treibstoffs oder die Blockade von Verkehrswergen erreicht wurde, erforderlich, aber das reiche nicht aus. Für den SUD-Gewerkschafter stellt sich eher die Frage, ob Blockaden das Zustandekommen eines Generalstreiks begünstigen oder diesen tendenziell ersetzen, was er für kontraproduktiv hält.

Weil die Regierung auf Zeit spielt und ein Kollabieren der Protestbewegung in den Sommerferien, wenn in Frankreich gar nichts mehr geht, erhofft, habe man für den 23. und den 28. Juni landesweite Protesttage angekündigt. Die Regierung hat versucht, die Demonstration am 23. Juni in Paris unter Verweis auf mögliche Gewalttaten und die Störung des Fußballfestes zu verbieten, sich jedoch letztlich darauf beschränkt, die Länge der Demonstrationsroute eng zu begrenzen. Die Möglichkeit, öffentliche Versammlungen zu untersagen, verdankt sie dem von ihr am 13. November 2015 verhängten und weiter andauernden Ausnahmezustand, was dessen eminente Bedeutung für soziale Konflikte - und nicht nur die Abwehr terroristischer Anschläge - unterstreicht.

Wie Christian Mahieux erklärt, wurden seit Anfang März fast alle Demos von Provokationen und Angriffen der Polizei stark gestört. Zahlreichen Berichten über Polizeigewalt stehen weit weniger von den Protesten ausgehende Gewaltakte gegenüber. Diese werden jedoch in der französischen Öffentlichkeit und den mehrheitlich Kapitalinteressen vertretenden Medien stark skandalisiert, um die Protestbewegung zu diskreditieren und um Verbotsforderungen zu legitimieren.

Letztgültig soll über das Gesetz im Juli, also inmitten der Urlaubszeit, in der Nationalversammlung verhandelt werden. Am 12. Mai hat die Regierung den Gesetzesentwurf unter Berufung auf Artikel 49-3 der Verfassung an eine Art Mißtrauensvotum gekoppelt. Indem sie die Vertrauensfrage stellte, deren negative Beantwortung durch die eigenen Abgeordneten kaum zu erwarten war, blieb jegliche inhaltliche Debatte aus, und das Gesetz wurde in erster Lesung ohne Wenn und Aber angenommen. Dementsprechend können seine Gegner kaum auf Überraschungen im weiteren parlamentarischen Prozedere hoffen. Ohnehin sei die Regierung zwar bereit, bestimmten Gruppen Zugeständnisse zu machen, nicht aber das gesamte Projekt in Frage zu stellen. Um ihr Gesetz durchzubringen, nehme sie auch eine Radikalisierung der Widerstandsbewegung in Kauf, so die Einschätzung des bei SUD-Rail, eine besonders kampfstarken Basisgewerkschaft, organisierten Mahieux.

Einige Branchen- und Spartengewerkschaften sind jedoch für Zugeständnisse in Form von Ausnahmeregelungen zu haben, was zur Folge haben kann, daß sie das geplante Arbeitsgesetz nicht vollständig verwerfen. So hat die Regierung bereits erklärt, daß die Arbeitszeiten und die Überstundenzahlungen der Fernfahrer vom Loi travail ausgenommen werden sollen, so daß deren Streikaktivitäten, die sensible Bereiche der nationalen Logistik betreffen, deutlich nachließen. Zwar sei man in der Lage gewesen, die Bewegung dreieinhalb Monaten lang aufrechtzuerhalten, und die Mobilisierung gehe weiter, doch machte Mahieux kein Hehl daraus, daß zur Verhinderung des Arbeitsgesetzes noch einige sehr hohe Hürden genommen werden müssen.


Plakat 'Solidarität kennt keine Grenzen - Kein Platz für Rassismus!' - Foto: 2016 by Schattenblick

Grenzen im Klassenkampf zu überwinden hilft auch gegen Rassismus
Foto: 2016 by Schattenblick

Mit einem Plädoyer für mehr internationale Solidarität rannte Mahieux bei den Anwesenden offene Türen ein, stellt sich diese Frage doch nicht nur aufgrund der Transnationalisierung des Kapitals, sondern auch angesichts des Ausbaus staatlicher Repression etwa auf Ebene der EU oder der Mitgliedstaaten in Form exekutiver Ermächtigungen unter einem Ausnahmerecht, wie es in Frankreich herrscht.

Erfreuliches verkündete der Referent zum Ende seines Vortrags - der Front National melde sich seit Beginn der Proteste nur noch in weit geringerem Maße als zuvor öffentlich zu Wort. So lehnt die rechtspopulistische Partei zwar die Beschränkung der Rechte der Beschäftigten ab, will aber keinesfalls mit der Bourgeoisie und den Unternehmern brechen. Demzufolge seien Arbeitskämpfe auch eine wirksame Möglichkeit zur Einschränkung der öffentlichen Wirksamkeit des FN, denn nun redeten die Menschen vor allem über die Demonstrationen und das Arbeitsgesetz, nicht aber über Marine Le Pen. Zudem sei man in einigen Gewerkschaftsdachverbänden damit befaßt, dem FN mit Hilfe von Bildungsprogrammen und anderen Maßnahmen gemeinsam entgegenzutreten.

In der anschließenden Diskussion wurden die besprochenen Punkte vertieft, aber auch nicht erwähnte Probleme diskutiert. So warnte ein Zuhörer vor der Durchsetzung internationaler Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und TiSA [4]. Damit schaffe sich das Kapital neue Instrumente, mit denen sich im Interesse unternehmerischer Ziele faktischer Kontrolle über die Tätigkeit von Regierungen ausüben lasse. Verlaufe der Kampf gegen diese Abkommen nicht erfolgreich, dann werde es äußerst schwierig sein, überhaupt noch gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. TTIP sei heute das Bollwerk des Kapitals gegen jede Art von sozialer Bewegung, ob von Arbeiterinnen, Verbrauchern oder Künstlerinnen ausgehend - wer das nicht im Auge habe, arbeite im Kleinkarierten. Darauf ging der Referent nur kurz mit der Bemerkung ein, daß die dagegen gerichtete Kampagne in Frankreich insbesondere in militanteren Bewegungen und Milieus Unterstützung finde.


Publikationen und Flyer der SUD Solidaires - Foto: 2016 by Schattenblick

Gewerkschaft mit Weitblick
Foto: 2016 by Schattenblick

Rückständig ist die neoliberale Arbeitsgesellschaft ...

Der ehemalige Schweizer Regierungssprecher und Aktivist für ein Bedingungsloses Grundeinkommen Oswald Sigg lastet den Autoren des Arbeitsgesetzes an, niemals in ihrem Leben normale Lohnarbeit verrichtet zu haben. Als Abkömmlinge von Eliteschulen und -universitäten seien sie direkt in die Politik gegangen, um ihre Berufslaufbahn mit einem Regierungsposten abzuschließen. Daher fehle dem Gesetz jegliches Verständnis für die Arbeitswelt, obwohl es deren Bedingungen setzt [5]. Die Wunde, in die dieser eher wertkonservative Ex-Politiker seinen Finger legt, betrifft den zentralen Konflikt jeder kapitalistischen Gesellschaft.

Wie angestrengt jede öffentliche Debatte um die Eigentumsfrage und den Klassenantagonismus in der Bundesrepublik gemieden wird, obwohl sie sich angesichts der um sich greifenden Angst vor dem sozialen Absturz geradezu aufdrängt, belegt die Virulenz dieses Konflikts. Der Blick auf Frankreich, wo man in dieser Hinsicht weiter ist, kann also auch zur Ermutigung der Lohnabhängigen hierzulande beitragen, die soziale Frage nicht nur zum Erlangen eines größeren Stückes vom Kuchen zu stellen, sondern um die zerstörerischen Bedingungen gesellschaftlicher Produktion insgesamt zu verändern und zu überwinden.

Politik und Medien in der Bundesrepublik erwecken gerne den Eindruck, in Frankreich hinke man bei der Modernisierung der Arbeitsgesellschaft hinter Deutschland her. Was anhand volkswirtschaftlicher Daten plausibel erscheint, wird durch die noch nicht völlig zerstörte Kampfkraft der französischen Bevölkerung bei der Verteidigung einmal errungener Rechte eindrucksvoll widerlegt. Mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in einem krisenhaften Kapitalismus zu erlangen, der aus sich selbst heraus nicht mehr zu sanieren ist, ohne den Einzug barbarischer Verhältnisse zu riskieren, verengt den Blick auf kurzfristige Produktivitätsfortschritte so sehr, daß Fragen nach dem grundlegenden Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Arbeit und Kapital, von Mensch und Natur kaum mehr gestellt werden. Wenn die Debatte um die existentiellen Bedingungen der Vergesellschaftung, der sozialen Praxis und kollektiven Verantwortung an die Stelle des Produzierens und Verbrauchens um seiner selbst willen tritt, wofür es in Frankreich mehr Anzeichen gibt als in der Bundesrepublik, dann markiert das einen Fortschritt, der sich nicht in den Kennziffern nationaler Leistungsfähigkeit bemessen läßt, aber mehr Lebensqualität hervorbringt und weniger Gewalt erzeugt.


Veranstaltung mit Publikum und Podium - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ein Keim des sozialen Widerstandes?
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] KOMMENTAR/247: Not und Spiele ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek247.html

[2] https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/2016-06-13/germany-s-new-global-role

[3] REZENSION/655: Tomasz Konicz - Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar655.html

[4] BERICHT/083: TTIP Nein danke - Innovativverwertung humaner Ressourcen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0083.html

[5] http://www.freie-radios.net/77682


23. Juni 2016


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