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BERICHT/257: Übergangskritik - den Kapitalismus entschärfen ... (SB)


"Krise des Kapitalismus und Krise der Linken"

Vortrag von Susan George am 3. März 2017 in Berlin


Prominentester Gast der Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" in Berlin war Susan George, die unter Moderation von Ingar Solty (Rosa-Luxemburg-Stiftung) einen Vortrag zum Thema "Krise des Kapitalismus und Krise der Linken" hielt. Die 1934 in Akron, Ohio, geborene Politikwissenschaftlerin und Schriftstellerin lebt seit langem in Frankreich und erwarb 1994 die französische Staatsbürgerschaft. Sie ist seit mehr als vier Jahrzehnten in sozialen Bewegungen aktiv, war im Vorstand von Greenpeace International und Mitgründerin von Attac, derzeit ist sie Fellow des Transnational Institutes in Amsterdam. In zahlreichen Publikationen zieht sie gegen die Ausbeutung des globalen Südens, den Neoliberalismus und die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) wie auch der Weltbank zu Felde.

Eine der führenden linken Intellektuellen Europas und weltweit, als die sie einleitend vorgestellt wurde, will sie aber denn doch nicht sein. Jedenfalls keine Kommunistin, wie sie hervorhebt, stehe sie doch in der Tradition der US-amerikanischen Liberalen. Wie sie später in ihrem Vortrag betonte, sei der Ruf nach einer Revolution zum Umsturz der herrschenden Verhältnisse, zumindest in den Kreisen, mit denen sie zu tun habe, völlig verstummt. Die Linke habe größtenteils eingesehen, daß Revolution derzeit kein sehr hilfreiches Konzept sei. Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution müsse sie anerkennen, daß der Kapitalismus überlebt habe und stärker denn je sei.

Wenngleich es wohl zutrifft, daß bislang keine revolutionäre Umwälzung den Durchmarsch des Kapitalismus auf Dauer verhindert hat, folgt daraus doch nicht zwangsläufig, es wie der Fuchs mit den Trauben zu halten. Das Scheitern des realsozialistischen Gesellschaftsentwurfs sollte nicht dazu verleiten, sich auf die Seite der Sieger zu schlagen und diesen Ansatz in Gänze für entsorgt zu erklären. Eher schon stellt sich doch die kritische Frage, was schiefgelaufen ist und was andererseits auf dieser Grundlage an Weiterentwicklung potentiell möglich gewesen wäre. Obzwar eine marxistische Gesellschaftsanalyse und Krisentheorie für sich genommen das Blatt nicht wenden kann, heißt das keineswegs, daß man getrost auf sie verzichten könne. Dahinter zurückzufallen, anstatt ihre möglichen Unschärfen und Lücken zum Zweck einer Präzisierung auszuloten, droht zwangsläufig, im seichten Fahrwasser unzulänglicher Konzepte und integrativer Lösungsvorschläge Schiffbruch zu erleiden.


Großaufnahme während der Diskussion - Foto: © 2017 by Schattenblick

Susan George
Foto: © 2017 by Schattenblick


Kein Ende des Kapitalismus in Sicht?

Obgleich sie den Fortbestand des Kapitalismus natürlich nicht unterstütze, liege der doch keineswegs in den letzten Zügen, wie dies diverse, vor allem deutsche Autoren mutmaßten, so die Referentin. Auch halte sie den allgegenwärtigen Begriff "Krise" für unzutreffend, um die Vielzahl der gegenwärtigen Problemlagen angemessen zu beschreiben. Von seiner ursprünglichen Bedeutung im Griechischen her sei mit diesem Begriff ein Urteil oder eine Entscheidung gemeint, keinesfalls aber ein lang anhaltender Zustand. Die Subprime-Krise habe 2007 in den USA begonnen, 2008 brach Lehman Brothers zusammen. Man spreche also über eine Krise, die nun schon zehn Jahre währt. Nach Auffassung der griechischen Ärzte sei eine Krise der Zeitpunkt, an dem ein Patient sich entweder erholt oder stirbt, jedoch kein Zustand von langer Dauer.

Der Kapitalismus sei zwar schon lange krank, doch wurden die Banken durch eine gewaltige Bluttransfusion gerettet, deren Kosten in den westlichen Ländern auf insgesamt 14 Billionen Dollar geschätzt werden. Dank dieser astronomischen Zufuhr öffentlicher Gelder zur Rettung des Banksystems sei es zu keiner Nationalisierung oder Sozialisierung der Banken gekommen. Mit Ausnahme Islands sei nirgendwo ein Banker dafür zu einer Haftstrafe verurteilt worden, und heute mache Trump selbst die wenigen Regulierungen rückgängig, die das Bankwesen akzeptieren mußte.

Die insbesondere von Deutschland vorangetriebene Austeritätspolitik mache die Situation noch schlimmer und die Erholung noch schwieriger als ohnehin schon. Nach den Worten des Wirtschaftskommentators der Financial Times, Wolfgang Münchau, gebe es zwei Sorten deutscher Ökonomen: Solche, die Keynes nicht gelesen haben, und solche, die ihn nicht verstanden haben. Wolfgang Schäuble und die EU-Kommission hörten auf diese Ökonomen und trieben die europäische Wirtschaft in den Zusammenbruch. Man habe es nicht mit einer Krise, sondern einer chronischen degenerativen Krankheit der kapitalistischen Gesellschaft zu tun. Es gebe lange Perioden der Remission, in der eine Genesung einzutreten scheine, und selbst wenn der Kapitalismus eines Tages sterben sollte, seien wir bis dahin, wie Keynes sagte, längst selber tot. Ein Ende könne sie jedenfalls nicht vorhersagen, so die Referentin.

Wenn Keynes allenthalben um die Ecke lugt, ja mehr noch als Sachwalter einer vielversprechenden Alternative zur Austeritätspolitik ins Feld geführt wird, steht Susan George damit bekanntlich nicht allein. Ob der Keynesianismus als Variante kapitalistischer Wiederbelebung in Zeiten günstigerer Konjunkturoptionen phasenweise tatsächlich gegriffen hat, sei dahingestellt. Ihn in der tiefgreifenden Verwertungskrise der kapitalistischen Produktionsweise zum Patentrezept einer nicht nur gerechteren, sondern zugleich das Wachstum ankurbelnden wirtschaftspolitischen Kehrtwende zu erklären, macht die Rechnung in mehrfacher Weise ohne den Wirt. Zum einen verkürzt diese ökonomistische Sichtweise die nationalen wie globalen Herrschaftsverhältnisse unzulässig auf ein Verteilungsproblem, das mittels einer vernünftigeren Handhabung zum Wohle aller besser zu gestalten sei. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die angesichts ihrer katastrophalen Folgen an den sozialen und ökologischen Abgrund drängende wachstumsbefeuerte Wirtschaftsweise tatsächlich noch eine wünschenswerte Option sein kann.


Was lehrt uns die Geschichte?

Um auf die Frage einzugehen, welche Grenzen dem Kapitalismus gesetzt seien, empfehle sich ein kurzer Blick in die Geschichte, fuhr die Referentin fort. Als Henry Ford sagte, ich bezahle meine Arbeiter, damit sie meine Autos kaufen können, habe er das auch so gemeint. Die Arbeiter seien zwar nach wie vor ausgebeutet worden, doch habe sich ihre Lage zu Zeiten des Massenkonsums erheblich verbessert. Da jedoch die vorherrschenden wirtschaftlichen Organisationen in den überwiegend national aufgestellten Ökonomien zur Spekulation ermutigt hätten, sei es zum Absturz in die Große Depression gekommen. Der Zusammenbruch der Börse im Oktober 1929 habe massenhafte Arbeitslosigkeit zur Folge gehabt, die Erholung erst nach der Wahl Franklin D. Roosevelts 1932 im Zuge seines New Deals eingesetzt. Hat er den Kapitalismus gerettet, wie viele meinen? Fest stehe, daß es vor allem der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen waren, die den Kapitalismus beflügelt haben. Die Verwüstungen des Krieges hätten eine gewaltige Nachfrage nach allen erdenklichen Gütern geschaffen, so daß eine beispiellose Periode der Prosperität gefolgt sei. Die USA hätten als einziges kriegsbeteiligtes Land keine Zerstörungen erlitten und durch soziale Verbesserungen dem sowjetischen Block Paroli geboten. Heimkehrende Soldaten erhielten eine kostenlose College-Bildung, die Löhne stiegen, die Armut ging für viele gesellschaftliche Gruppen zurück. Der Marshall-Plan habe die europäischen Länder befähigt, Handelsbeziehungen wiederherzustellen. Präsident Truman habe 1949 das Point-IV-Programm aufgelegt, das die Blaupause für die Industrialisierung in der dritten Welt darstellte.

In Europa sei der Wohlfahrtsstaat mit deutlichen Verbesserungen des Gesundheitswesens, Bildungssystems und Wohnungsbaus eingerichtet worden. Bedeutende Industrien, Versorger, das Transportwesen wie auch manche Banken und Versicherungen hätten sich in Deutschland in öffentlichem Besitz befunden. In Frankreich habe die Resistance noch während der deutschen Besatzung ein Nachkriegsprogramm entworfen, das von den nachfolgenden Regierungen sehr ernst genommen worden sei. Gewerkschaften hätten zahlreiche Mitglieder und großen Einfluß gehabt, die Arbeitsgesetze seien verbessert worden. Man habe vom Staat erwartet, umfassende soziale Dienste zu schaffen, wirksam in das Management der Gesellschaft einzugreifen und das Kapital wie auch die Reichen kräftig zu besteuern. Öffentliche Ausgaben seien der Schlüssel, um Beschäftigung nicht nur im öffentlichen Sektor zu schaffen. Das alles habe in Demokratien stattgefunden, die nicht perfekt, aber sehr lebendig und größtenteils ehrlich gewesen seien, so die Referentin. Winston Churchills geflügeltes Wort, wonach Demokratie die schlechteste Regierungsform mit Ausnahme aller anderen sei, entspreche der Wahrheit. Eine Rückkehr in diese Periode des florierenden nationalen Kapitalismus sei jedoch ausgeschlossen, zumal schon die Umwelt für sich genommen keine unbegrenzte Extraktion samt dem Ausstoß von Treibhausgasen zulasse.

Wenngleich Susan George also zutreffend einräumt, daß eine Rückkehr in vergleichsweise erträglichere Zeiten unmöglich sei, drängt sich doch die Frage auf, wieso die damalige Demokratie ehrlicher und bei allen Mängeln noch immer die am wenigsten schlechte Regierungsform gewesen sein soll. Wie sie selbst ausführt, waren die Dominanz der USA und die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten eine unmittelbare Folge des Zweiten Weltkriegs und der Positionierung in der anschließenden Blockkonfrontation. Zwar erlebte eine Generation das Wirtschaftswunder als Normalzustand der sogenannten freien Marktwirtschaft, doch verschloß sie dabei im ideologischen Trommelfeuer des Antikommunismus die Augen vor dem Preis, zu dem ihr relatives Wohlergehen befristet erkauft war. Wir wir heute wissen, handelte es sich um eine bloße Phase besserer und friedlicherer Lebensverhältnisse in den westlichen Staaten, die wesentliche Teile der Ausplünderung und Kriegführung in andere Weltregionen ausgelagert hatten.


Neoliberalismus okkupiert die Deutungsmacht

Ein beträchtlicher Teil der Bourgeoisie habe den New Deal mit seinem Wohlfahrtsstaat und den egalitäreren Gesellschaften ohnehin nie akzeptiert, so die Referentin. Diese Kräfte, die zunächst in der Minderheit gewesen seien, hätten Pläne für einen deregulierten Kapitalismus mit geringer oder gar keiner Einmischung der Regierung geschmiedet. Diese Bewegung habe sich an der University of Chicago zunächst um den renommierten Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek und seinen wichtigsten Schüler Milton Friedman konzentriert. Sie hätten enorme Gelder von privaten Stiftungen aus Kreisen der Industrie erhalten und den neoliberalen Kapitalismus samt einem staatlichen Rechtsrahmen zum Schutz dieses Systems durchgesetzt. Dank sorgfältiger Vorbereitung und großzügiger Finanzierung habe diese Bewegung mit der Wahl von Ronald Reagan und Margaret Thatcher die Regierungspolitik okkupiert.

Damit sei die Linke ins Hintertreffen geraten. Progressive, linke Sozialdemokraten und selbst Kommunisten hätten keine Vorstellung davon gehabt, was sich damals abspielte, und es versäumt, sich dagegen zusammenzuschließen. Hingegen hätten die Militanten des Neoliberalismus genau gewußt, was sie taten. Die Referentin bezeichnete sie als "rechte Gramscianer", weil sie Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie viel besser als die Linke verstanden hätten. Der Neoliberalismus habe im Zuge eines langen Marsches durch die Institutionen die westliche Kultur verändert. Er habe mit den Think Tanks Institutionen geschaffen, die Ideen produzieren und in Umlauf bringen. Einrichtungen wie die Heritage Foundation oder die Mont Pèlerin Society wurden aufgeboten, um den Neoliberalismus propagandistisch voranzutreiben. Er habe Filme, Fernsehshows, Vorträge und Publikationen auf allen Ebenen finanziert, akademische Gesellschaften und andere Organisationen gegründet. Wirtschaftskreise, die sich bis dahin relativ wenig in die Politik eingemischt hätten, setzten sich nun mit Lobbyarbeit und allen erdenklichen PR-Instrumenten vehement für einen deregulierten Kapitalismus ein. Geschulte Schreiber und Redner besetzten die Zeitungskolummnen, Talkshows und Vorlesungen an den Universitäten, um ihre Ideologie und das entsprechende Vokabular durchzusetzen. Der Neoliberalismus sei in den Rang des neuen gesunden Menschenverstands aufgestiegen, zuerst in den USA und in Großbritannien, dann in Europa und dem Rest der Welt.

All das habe den Kapitalismus von sehr vielen Regeln und Regulierungen befreit wie auch die Kapitaleigner und Spitzenmanager sagenhaft reich gemacht. Die Linke sei irrtümlich davon ausgegangen, daß ihre Ideen, Werte und Institutionen keines besonderen Schutzes bedürften. Einige Stiftungen unterstützten zwar weiterhin progressive Projekte, jedoch keine übergreifenden Ideen. So hätten die Progressiven die Schlacht um die Ideen verloren - der Neoliberalismus habe mit Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung und der Häufung privaten Reichtums in immer weniger Händen gesiegt. Die meisten Leute hätten diese Vorstellungen übernommen und sie schließlich für ganz normal gehalten. Donald Trump, der ein Kabinett aus Milliardären und Spitzenmanagern führender Konzerne gebildet hat, werde das neoliberale System eher stärken als schwächen. In Europa sehe es nicht besser aus. Mitte der 70er Jahre seien durchschnittlich 30 Prozent des BIP an das Kapital und 70 Prozent in Form von Löhnen und Gehältern an die Arbeit gegangen. Heute gingen ungefähr 40 Prozent an das Kapital und nur noch 60 Prozent an die Arbeit. Da auch die Managergehälter und Boni der Arbeit zugeschlagen würden, sei der Anteil der geringeren Löhne und Gehälter noch niedriger. Zudem hätten die Unternehmen zahlreiche Schlupflöcher, um sich vor Steuern und Abgaben zu drücken. Die Regierungen hätten vor allem die Interessen der großen Unternehmen im Blick, kleine und mittlere schnitten erheblich schlechter ab. TTIP und CETA sind die eklatantesten Beispiele für die Privilegien, die transnationalen Konzernen eingeräumt würden.

Bernie Sanders, die Occupy-Bewegung, Jeremy Corbyn, die neuen spanischen Stadtregierungen wie jene in Barcelona oder Attac seien zwar Zeichen der Zukunft, jedoch vorerst nur hoffnungsvolle Sterne in einer Galaxie des Neoliberalismus. Wie der Brexit und Trump belegten, favorisierten Unzufriedenheit und Wut in der Gesellschaft die Rechte. Die Maschine der neoliberalen Propaganda scheine reibungslos zu funktionieren. In den 30er Jahren habe eine ähnliche Maschinerie Juden, Kommunisten und Homosexuelle zu Feinden erklärt, heute seien es Muslime, LGBTs und die Frauenbewegung. So gesehen seien keinerlei Barrieren oder Grenzen des Kapitalismus zu erkennen.

Wenn davon die Rede ist, daß die Progressiven die Schlacht um die Ideen an den Neoliberalismus verloren hätten, wünschte man sich doch ein substantielleres Eingehen auf die grundsätzliche Widerspruchslage zwischen den beiderseitigen Entwürfen. Zwar hebt die Referentin die enorme Energie und finanzielle Bemittelung der "Chicago Boys" hervor, doch vermag das deren Erfolg noch nicht vollumfänglich zu erklären. Während sie im Herzen staatlicher und kapitalistischer Interessen aufblühen und Raum greifen konnten, stellt eine entschiedene und positionierte Agenda der Linken diesen Monolithen fundamental in Frage. Daß dies gänzlich andere Voraus- und Zielsetzungen sind, liegt auf der Hand. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt das beständige und bemerkenswert erfolgreiche Bestreben neoliberaler Protagonisten, führende Intellektuelle oder Politiker aus dem gegnerischen Lager auf ihre Seite zu ziehen und damit die Akzeptanz des Sozialabbaus und anderer Grausamkeiten maßgeblich zu befördern.


Blick über einen Teil des Publikums auf die Bühne - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ingar Solty und Susan George vor interessiertem Publikum
Foto: © 2017 by Schattenblick


Was könnte den Kapitalismus zu Grabe tragen?

Könnten nicht andere Kräfte am Werk sein, die den Kapitalismus zu Grabe tragen? Solche Hoffnungen würden oftmals an den globalen Süden geknüpft, in dem 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Darauf solle man besser nicht zählen, so die Referentin, da diese Länder mit Ausnahme Chinas an Bedeutung für den Westen verloren hätten. Dieser habe im Kalten Krieg den Entwicklungen in der Dritten Welt große Aufmerksamkeit geschenkt, da jedes dieser Länder zu einem politischen und militärischen Stützpunkt der Gegenseite werden konnte. Zugleich waren sie als Rohstofflieferanten und Exportmärkte unverzichtbar für den kapitalistischen Westen, der weitere Kubas oder Vietnams fürchtete. Heute stellten diese Länder einschließlich der lateinamerikanischen wie Venezuela keine Bedrohung des Kapitalismus mehr dar, zumal sie sich fast ausnahmslos dem kapitalistischen Projekt angeschlossen hätten. Globalisierung sei an die Stelle des früheren Konzepts der Entwicklung getreten und folge dem Prinzip, das Beste zu nehmen und den Rest zurückzulassen. Heute besitze eine Handvoll Milliardäre so viel wie sieben Milliarden Menschen, die am falschen Ort auf die Welt gekommen sind. Ungeheure Summen flössen beständig von Süden nach Norden, legal, doch häufig auch illegal durch die Praktiken der Konzerne, aber auch die Eliten der südlichen Länder, die ihre Gelder im Norden anlegen. Aus dem Süden habe der Kapitalismus jedenfalls nichts zu fürchten, so die Referentin.

Könnte es zu einem Machtwechsel im industrialisierten Norden kommen? Können innovative Technologien bis hin zur künstlichen Intelligenz den Niedergang des Kapitalismus herbeiführen? Solche Veränderungen und Erschütterungen hätten den Kapitalismus seit jeher begleitet. Wenngleich es mitunter lange gedauert habe, bis sie absorbiert waren, hätten sie die Bestie doch nie umgebracht. Die nächste Transition werde nicht minder schmerzhaft für sehr viele Menschen sein, die in prekären Arbeitsverhältnissen landen oder gar kein Arbeit mehr haben. Neue Industrien blühten auf, die Staaten könnten die Unwuchten zumindest teilweise kompensieren, militärischer Keynesianismus mache Rüstungsgüter zum Exportschlager.

Nachdem Susan George alle anderen Gründe für ein mögliches Absterben des Kapitalismus ausgeschlossen hatte, blieben ihres Erachtens nur noch zwei übrig, die beide höchst bedrohlich seien. Der eine könnte die anwachsende Komplexität und Verschränkung der größten und profitabelsten Kombinationen von produzierender und Finanzindustrie sein. Dieser Konzentrationsprozeß führe dazu, daß eine kleine Zahl von Konzernen immer größere Anteile der gesamten Ökonomie auf sich vereine. Bleiben nur noch 50 übrig, könnte ein gravierendes Ereignis wie eine Bankpleite eine Art Kettenreaktion auslösen, die alle anderen wie Dominosteine fallen lasse. Eine derart katastrophale Entwicklung würde weite Teile der Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehen, deren Einkünfte, Versicherungen und anderen sozialen Absicherungen wegbrächen. Acht Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman sei noch immer unklar, wer wem Geld schuldet. Man stelle sich vor, es fänden mehrere solcher Zusammenbrüche in Folge statt!

Der zweite Grund für das Ende des Kapitalismus könnte der Tod des Planeten sein, wie wir ihn kennen. Bestehe der Kapitalismus weiter darauf, unsere einzige Heimstatt zu überhitzen, reiße er alles in den Abgrund einschließlich der Zivilisation und der Mehrheit der Menschheit. Folge der Kapitalismus nur seinen eigenen Regeln, nicht aber denen der Erde wie der Physik, Chemie und Biologie, würden diese über die Jagd nach Profiten triumphieren.


Gramscianische Botschaft an die deutsche Linke

Die Referentin teilte die Auffassung nicht, daß die Linke keine Antworten auf die Krise gefunden habe. Sie liefere sogar recht gute Hinweise, wie die Ökonomie sicherer und die Gesellschaft verbessert werden könnte: Die Kontrolle der Banken verbessern, Investment- und Geschäftsbanken trennen, die größten Banken nationalisieren, Gelder aus Steueroasen zurückholen, die reichsten ein Prozent besteuern und Mechanismen etablieren, die größere Gleichheit sicherstellen. Die Agenda heiße: Stoppt den Neoliberalismus! Die Vorschläge lägen auf dem Tisch, doch die Regierungen zögen es vor, die Wünsche der Banken und Konzerne zu erfüllen.

Die Kritiker des herrschenden Systems hätten die Notwendigkeit erkannt, pragmatisch vorzugehen und aus der Ungerechtigkeit, Ungleichheit und dem drohenden Klimachaos heraus eine Form demokratischer Ordnung zu schaffen. Menschen in aller Welt protestierten nicht nur gegen schlechte Politik, sondern schüfen zugleich ihre eigenen Strukturen auf tausend verschiedene Weisen, in tausend verschiedenen Räumen. Die Zahl neuer Kooperativen und Unternehmen wachse von Jahr zu Jahr, alte Ansätze würden modernisiert: Lebensmittelkooperativen beziehen kollektive Arbeit ein, machen gemeinsame Anschaffungen, teilen Werkzeuge und andere Gebrauchsgüter. Reparaturbetriebe werden vielerorts eröffnet, so daß ständige Neuanschaffungen überflüssig werden. Hinzu kämen kooperativer Transport und lokale Währungen. In Spanien versuchten Städte gemeinsam, ihre Schuldenlast zu verringern, und erklärten Teile ihrer Verschuldung für unrechtmäßig. Die horizontale Partizipation an der Stadtregierung werde gefördert, direkte Demokratie einer Delegation per Stimmabgabe vorgezogen. Bewegungen gegen TTIP und CETA seien insbesondere in Deutschland stark. Man könne jedoch nicht gewinnen, solange man den Staat nicht auf seiner Seite habe. In der parlamentarischen Demokratie sollte man sich daher an Wahlen beteiligen und Parteien wählen, deren Vorschläge man gutheiße, aber auch hinterher prüfen, ob sie ihre Versprechen gehalten oder gebrochen haben.

Das Problem sei jedoch tiefgreifender als diese praktischen Lösungen. Es gelte, die Gramscianische Schlacht zu schlagen, um den Vorsprung der Neoliberalen wettzumachen. Die Lösung müsse auch eine kulturelle sein. Könnten die deutschen Genossen dieselbe politische Energie in diese Schlacht werfen, die sie gegen TTIP ins Feld geführt haben, wäre man bereits in einer viel besseren Situation. Man müsse die Austeritätspolitik gegen Länder wir Griechenland zu Fall bringen, nicht nur, weil sie inhuman sei, sondern auch, weil sie Europa zerstören werde. Das sei ihre gramscianische Botschaft an die deutsche Linke: Arbeitet gegen das neoliberale Dogma, nicht nur indem ihr erklärt, warum es falsch ist, sondern auch indem ihr eure Werte und Lösungen auf politisch attraktive Weise nach vorn bringt, gab die Referentin den Zuhörerinnen und Zuhörern mit auf den Weg.


"Wo aber Gefahr ist ..."

Abschließend erinnerte Susan George an den in finsteren Zeiten so gern zitierten Ausspruch Friedrich Hölderlins: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!" Nimmt man diese Ermutigung zum Ansporn, nicht auf ein ominöses Heil zu hoffen, sondern im eigenständigen wie kollektiven Widerstand Flagge zu zeigen, zeichnet sich die Bedrohungslage erst in aller Deutlichkeit ab. Ohne die Gramscianische Schlacht um die kulturelle Hegemonie in Abrede zu stellen, gilt es doch mehr als nur ein Wort über das Gewaltmonopol zu verlieren, ohne das Staatlichkeit und kapitalistische Gesellschaftsordnung Papiertiger blieben. Die Bestie verteidigt ihre Herrschaft mit den Zähnen und Klauen der Waffengewalt und Repression bei fernen Raubzügen wie auch an der Heimatfront. Das gilt für den gesunden und kränkelnden Kapitalismus gleichermaßen, und sollte er das Zeitliche segnen, für die nachfolgende Herrschaftsweise nicht minder.


Beiträge zur Konferenz "Am Sterbebett des Kapitalismus?" im Schattenblick unter:
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INTERVIEW/340: Übergangskritik - Wandlungsthesen ...    Michael Brie im Gespräch (SB)
INTERVIEW/341: Übergangskritik - Die Spielart der Fronten ...    Franziska Wiethold im Gespräch (SB)


15. März 2017


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