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BERICHT/289: G20-Resümee - Alternativer Gipfel und die große Vernetzung ... (SB)


Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang"
Antonio Gramsci, Gefängnishefte, H. 4, § 88, 783

Das weithin in Anspruch genommene Konzept der "Zivilgesellschaft" wird heute von unterschiedlichen Kollektiven zitiert und für sich reklamiert, die man eher nicht in ein und demselben Boot verorten würde. So rufen definitiv staatstragende Politiker bei Bedarf durchaus die Zivilgesellschaft auf, gegen unter den Extremismusbegriff subsumierte Bewegungen und Aktivitäten in die Bresche zu springen, um dem Repressionsapparat mit Bürgerengagement zur Seite zu stehen. Andererseits definierte sich beispielsweise auch der Gegengipfel zur Machtdemonstration der G20 in Hamburg als Forum der Zivilgesellschaft, die dieser Perspektive zufolge dem Schulterschluß von Regierenden und Konzernen in die Parade fährt.

Auf Antonio Gramsci als den wichtigsten Theoretiker der Zivilgesellschaft berufen sich viele, jedoch unter bisweilen weit voneinander abweichenden Schlußfolgerungen. Das ist zum einen möglich, weil die "Gefängnishefte", Gramscis Hauptwerk, fragmentarischen Charakter haben und nur wenige längeren Texte, statt dessen eine Vielzahl sehr kurzer Eintragungen enthalten. Fest stehen dürfte, daß Gramsci ungeachtet der Eigenständigkeit seiner Ideen aus der leninistischen Tradition kam und bis zu seinem Tode im Jahr 1937 Revolutionär blieb. Daß sich Legionen von Erbschleichern diverser Couleur in Verfolgung ihrer jeweils eigenen Zwecke auf ihn berufen haben, kann man ihm schwerlich anlasten.

Gramscis Ausgangspunkt war im Kontext der revolutionären Bewegungen seit 1917 die Frage, warum die Revolution im relativ rückständigen Rußland siegte, im wirtschaftlich und kulturell höher entwickelten Westen aber scheiterte. Er führte dies auf die robustere Zivilgesellschaft im Westen zurück, die den wankenden Staat stabilisiert habe. Damit siedelte er zwischen der ökonomischen Basis und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwangsapparat die Zivilgesellschaft an, die den Konsens der Beherrschten organisiere. Er überhöhte sie damit keineswegs zum entscheidenden Kampfplatz zwischen Reaktion und Fortschritt, sondern nutzte diese methodische Kategorie, um der Bedeutung gesellschaftlicher Hegemonie Rechnung zu tragen und Handlungsstrategien der revolutionären Linken insbesondere in Bündnisfragen zu entwickeln. [1]

Sowenig dem Gipfelprotest damit gedient wäre, sich im Historikerstreit zu verlieren oder den Begriff "Zivilgesellschaft" pauschal zu verwerfen, sollte eine inhaltliche Klärung von Herkunft und Implikationen dieses Konzepts doch nützlich sein, es klarer zu definieren und so seine Brauchbarkeit wie auch Grenzen auszuloten. Die Erforschung des feindlichen ideologischen Terrains ohne Berührungsängste, doch bei allen Bündnisbemühungen nie unter Verzicht auf den "Geist des Bruchs", wie es Gramsci ausdrückt, könnte wohl dazu beitragen, sich für die kommenden Auseinandersetzungen zu rüsten.


Banner des Alternativgipfels - Grafik: © 2017 by Vorbereitungskreis Gipfel für globale Solidarität

Grafik: © 2017 by Vorbereitungskreis Gipfel für globale Solidarität

Der Alternativgipfel blickt nach vorn

Am 5. und 6. Juli kamen in Hamburg über 2000 Menschen zum "Gipfel für globale Solidarität" zusammen, einem inhaltlichen Gegenentwurf zum G20-Gipfel politischer Funktionseliten der führenden Industrienationen und Schwellenländer. Die Kulturfabrik Kampnagel war mit elf Podien, wozu sich mehr als 70 Workshops in der näheren Umgebung gesellten, für zwei Tage ein Ort der intensiven Suche nach Alternativen und Lösungswegen. Die Zusammenkunft wurde von einem breiten Bündnis aus 77 Organisationen und Initiativen getragen, Wissenschaftlerinnen, Aktivisten und Politikerinnen aus über 20 Ländern kritisierten die G20 und tauschten sich über Strategien der Umsetzung alternativer Entwürfe aus. Der "Gipfel für globale Solidarität" als Forum einer vielstimmigen Debatte reihte sich in den Gesamtzusammenhang der Protestwoche ein, wozu auch die Aktionen des zivilen Ungehorsam am 7. Juli und die Großdemonstration "Grenzenlose Solidarität statt G20" mit 76.000 Menschen am 8. Juli gehörten. [2]

Um den Impuls der Debatten um eine alternative, solidarische Politik als Bestandteil des Widerstands gegen die Politik der G20 aufzunehmen und fortzuführen, fragten Organisatorinnen des Alternativgipfels am 14. September 2017 wiederum in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel nach Wirkungen und Folgen des G20-Widerstands. Unter dem Titel "Die G20 und das Treffen der 2000 - der Alternativgipfel blickt nach vorn" moderierte die Politik- und Unternehmensberaterin Dr. Anke Butscher eine Podiumsdiskussion mit Dr. Simon Teune (TU Berlin), Roland Süß (Attac), Karsten Smid (Greenpeace), Bruno Watara (Afrique Europe Interact) und Hartmut Ring (Pädagogen für den Frieden). Die Referenten gingen zunächst in jeweils eigenen Beiträgen auf die Themen Medien und Öffentlichkeit, Handel, Klima, Flucht und Migration sowie Krieg und Frieden ein. Daran schloß sich ein Podiumsgespräch über die Frage der Vernetzung der vielfältigen Themen und Initiativen an, worauf auch das Publikum in die Diskussion einbezogen wurde.


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Simon Teune und Moderatorin Anke Butscher
Foto: © 2017 by Schattenblick

Gewaltdiskurs und moralische Panik

Der Soziologe Dr. Simon Teune arbeitet sei 15 Jahren zu Protest und Bewegungen und hat seine Doktorarbeit zu den G8-Protesten in Heiligendamm geschrieben. Er ist Co-Leiter des Bereichs "Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin und Gründer und Vorstandsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Teune nahm zu der Frage Stellung, wie soziale Proteste in den Medien dargestellt und in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Der G20-Gipfel wurde von Bildern der Gewalt überschattet, die in den Medien omnipräsent waren. Was auf dem alternativen Gipfel stattgefunden hat, fand in der Presse hingegen relativ wenig Erwähnung.

Seines Erachtens sei der G20-Gipfel für die allermeisten Menschen nur ein Ereignis unter vielen gewesen, von dem wenige Punkte in Erinnerung geblieben seien. Was beim offiziellen Gipfel abgelaufen ist, wisse kaum jemand, man verbinde brennende Autos, fliegende Steine, geplünderte Geschäfte und Probleme mit dem Linksextremismus mit den Protesten. Die größte Demo seit Jahrzehnten, die Vielzahl an Protestformen und der Alternativgipfel seien alle im schwarzen Loch versunken. Das liege zum großen Teil an den Produktionslogiken des professionellen Journalismus, der an dem Spektakulären ausgerichtet sei. Sobald ein Deutungsmuster gefunden sei, herrsche Gleichförmigkeit vor. Zudem stünden bei Protesten die Abläufe, weniger die verhandelten Themen im Vordergrund. Sobald Gewalt zum Thema werde, greife ein sich selbst verstärkender Fokus, gegen den es gute Argumente und dissidente Bilder schwer hätten. Das treffe den Alternativgipfel insofern besonders, weil von ihm keine spektakulären Bilder zu erwarten waren und die inhaltliche Auseinandersetzung in der medialen Öffentlichkeit zuvor nicht besonders intensiv gelaufen ist. Das sei jedoch keine neue Erfahrung, sondern allen in leidvoller Erinnerung, die sich schon länger bei Gipfelprotesten engagieren, so Teune.

Zudem könne man die Hamburger Ereignisse mit dem Konzept der "moralischen Panik" fassen. Die Berichterstattung konzentriere sich auf eine Gruppe, die als eine Bedrohung für die moralische und gesellschaftliche Ordnung wahrgenommen wird. Einzelne Ereignisse würden herausgegriffen, zum Teil verzerrt und überhöht dargestellt. Man fordere Maßnahmen, um diese Gruppe anzugehen, die in keinem Verhältnis zu der Gefahr stünden, die tatsächlich von dieser Gruppe ausgeht. Diese Diskussion im Panikmodus sei im Vorfeld befeuert worden, wenn die Polizei ankündigte, daß 8000 Gewaltbereite anreisen würden, deren Protest nur dazu diene, Gewalttaten vorzubereiten. Die Matrix spalte in friedlich oder gewaltbereit, distanzieren sich die Leute oder empfinden sie klammheimliche Freude, dazwischen gebe es nichts. Dies seien keine analytischen, sondern politisch-moralische Kategorien, die sich des Superlativs bedienten. Die Rede sei von einer neuen Qualität, die man nie zuvor erlebt habe. Erinnere man sich jedoch an die Auseinandersetzungen zum 1. Mai oder weiter zurückliegend jene um Atomkraftwerke oder besetzte Häuser, könne man schwerlich von einer neuen Qualität der Proteste sprechen.

Auf der anderen Seite sei diese Darstellung natürlich auch Teil des Kalküls, die sicherheitspolitischen Maßnahmen zu rechtfertigen. Der Einsatz des SEK fungiere dann als Beweis dafür, wie schlimm es gewesen sei. Einige hundert Leute versuchten, allen anderen ihr Politikmodell aufzuzwingen. Die Erfahrung von Menschen, die miterlebt haben, wie die Proteste gekapert wurden, sei vor allem deswegen frustrierend, weil sie immer wiederkehre. Zugleich zeige dieser moralische Schock, wie befriedet und kontrolliert die Konfliktaustragung hierzulande ist. Daß solche Ereignisse diesen Aufschrei auslösen, sei eine deutsche Besonderheit. In Frankreich hätten eine Woche später am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, landesweit 400 Autos gebrannt.

Indessen sei die Berichterstattung nicht das Maß aller Dinge, denn sie ändere nichts an den 2000 Menschen auf Kampnagel und den 80.000 auf der Straße, die ihre Erfahrung mit nach Hause genommen haben. Das bleibe nachhaltig politisch wirksam, und es gebe Möglichkeiten, diese Perspektive zu kommunizieren. Dank des alternativen Medienzentrums und über soziale Medien sei die geschlossene Wahrnehmung sehr schnell aufgebrochen worden. Zudem sorge die Gewalt in einem paradoxen Effekt dafür, daß langfristig die Aufmerksamkeit für die Treffen der G8 und G20 zunehme, Leute dagegen protestierten und ein Forum für substantielle Kritik wachse. Diese Dynamik habe zu einer Aufnahme der globalisierungskritischen Thesen und Themen in die Berichterstattung geführt.


Stehend vor dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Roland Süß
Foto: © 2017 by Schattenblick

Handelsregime, Wachstumsfetisch und Protektionismus

Roland Süß ist seit der Gründung von Attac Deutschland mit dem Thema Welthandel befaßt und hat sich seit 1997 intensiv mit multilateralen Investionsabkommen auseinandergesetzt. Es ist auch zu Krisenthemen aktiv und hat unter anderem die Blockupy-Bewegung mit initiiert. Sein Vortrag hatte den Welthandel zum Gegenstand, wobei er zunächst auf die Bedeutung der internationalen Vernetzung bei Gegengipfeln einging. Vertreter aus vielen verschiedenen Teilen der Welt hätten ihre Erfahrungen eingebracht, darunter auch aus Argentinien, wo die nächste Runde der WHO stattfindet. Zugleich werde in den Workshops die internationale Politik so heruntergebrochen, daß sich darstelle, welche Auswirkungen sie auf das Leben der normalen Menschen hier und in anderen Teilen der Welt hat und wie man dagegen vorgehen könne.

In der Abschlußerklärung des G20-Gipfels werde dieser als das wichtigste Forum der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit bezeichnet. Das Treffen diene also dazu, internationale Spielregeln zu definieren, und schließe dabei den Rest der Welt aus. Dasselbe geschehe auch im Rahmen der bilateralen Handelsverträge, weshalb er eine klare Parallele zu TTIP, CETA und TISA sehe, die man ebenso wie die G20 ablehnen sollte. Mit der Handelspolitik verhalte es sich etwas anders, da er internationale Handelsregeln nicht für unsinnig halte. Es müsse schon Regeln geben, die aber sozial auszugestalten seien. Es stelle sich also die Frage, wie man multilaterale Abkommen auf einen besseren Weg bringen könne. Auch an der WTO gebe es viel Kritik und dabei verschiedene Diskussionsstränge wie etwa jenen, daß unter dem Dach der UN deren Organisationen mit eingebunden wären, so daß Klima, Ernährung und andere Komplexe integriert werden könnten. Das ändere nicht die Machtverhältnisse, doch halte er solche Diskussionen für notwendig, so der Referent.

Durch die Abschlußerklärung ziehe sich der Begriff "Wachstum", das als Ziel ausgewiesen wird, um die Profitmaximierung weiterzutreiben. Wachstum müsse als Begründung für alles herhalten, was in diesem Papier vorgeschlagen wird. So heiße es beispielsweise, die Fiskalpolitik werde flexibel und wachstumsförmig eingesetzt. Was das bedeutet, zeigten die Auseinandersetzungen in der EU wie etwa jene mit Griechenland oder auch Hartz IV. Die Grenzen sollen offengehalten werden, es werde vor dem Protektionismus einschließlich aller "unfairen" Handelspraktiken, doch unter Anerkennung der rechtmäßigen Handelsschutzinstrumente gewarnt, letzteres ein Zugeständnis an Trump.

Die Debatte um die Freihandelsabkommen setze in jüngerer Zeit an der Frage des Protektionismus an. Dabei würden Kritikern des Freihandels automatisch protektionistische Absichten per se unterstellt. Auf diesem Wege solle die Diskussion um eine solidarische Handelspolitik diskreditiert werden. Sowohl die Politik des Freihandels als auch die protektionistische Politik Trumps gingen von einer nationalistischen Priorität nach dem Prinzip der Konkurrenz aus. In beiden Fällen sollen die eigenen Vorteile auf dem Weltmarkt realisiert werden. Die Kritik sollte jedoch in eine ganz andere Richtung gehen: Es gehe um internationale Solidarität, was bedeuten kann, daß schwächere Länder ihre Märkte nicht öffnen sollen. Im Abschlußdokument sei auch von einer Partnerschaft mit Afrika die Rede. Die EPAs und deren Folgen würden jedoch nicht erwähnt, weil sie zeigten, wohin die Politik der EU führe: Lebensgrundlagen werden zerstört. Spreche man über Fluchtursachen, müsse man die Auswirkungen der Handelsabkommen einbeziehen, so Süß.


Auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Karsten Smid zwischen Bruno Watare und Roland Süß
Foto: © 2017 by Schattenblick

Klimawandel kommt - Klimaschutz geht

Karsten Smid setzt sich seit zehn Jahren in Deutschland für den Kohleausstieg ein und ist für Greenpeace International Delegierter auf internationalen Konferenzen. Wie er in seinem Beitrag zur Klimafrage ausführte, erklärten alle politischen Akteure, wie notwendig Klimapolitik sei. Trumps Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen habe jedoch die G20 überschattet. Inzwischen schlügen die Treibhausgase selbst zurück, verstärkt durch den Klimawandel nähmen Klimaextreme dramatisch zu. Dennoch bewege sich die internationale Politik bei der Reduzierung der Treibhausgase absurderweise in die entgegengesetzte Richtung. Im Hauptdokument der Abschlußerklärung komme "Klima" siebenmal vor, wichtig vor allem Absatz 25: "Die Staats- und Regierungschefs der übrigen G20-Mitglieder erklären, daß das Übereinkommen von Paris unumkehrbar ist." Die Wackelkandidaten hätten also mitgezogen, an dieser Stelle sei Trump isoliert. Im Aktionsplan zu "Klima und Energie für Wachstum" stehe unter anderem: "Wir betonen, daß die Umsetzung der bis 2020 zu erfüllenden Verpflichtungen und Maßnahmen dringend und vorrangig beschleunigt werden muß. Die Mitglieder der G20 sollten beim Umbau der Energiewirtschaft zu nachhaltigen Energiesystemen mit geringem CO2-Ausstoß eine Führungsrolle einnehmen. Robuste, langfristig angelegte Entwicklungsstrategien für den Energiesektor werden zeitnah umgesetzt." Das könnte auch in einem Attac- oder Greenpeace-Papier stehen, so der Referent.

Doch was passiert tatsächlich? Im Musterland der Energiewende würden die Treibhausgase seit 2009 nicht mehr reduziert, sondern befänden sich auf einem stabil hohen Niveau. Die international zugesagten Verpflichtungen, die Sigmar Gabriel in Bali verkündet hat, wonach Deutschland unabhängig davon, was andere Länder machen, die Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent senken werde, würden total verfehlt. Der Kohleausstieg werde von einer Industrie- und Kohlelobby verhindert, die Autoindustrie torpediere die Abkehr vom Verbrennungsmotor. Obwohl allen klar sei, was wir machen müssen, und jeder wisse, wie dramatisch der Klimawandel stattfindet, erlebe man eine eklatante Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln: Der Klimawandel beschleunigt sich, die Klimaschutzanstrengungen lassen nach. Bei G20 erlebe man diese Diskrepanz zwischen den vollmundigen Ankündigungen und deren Umsetzung. Dieses Problem sei schon im Pariser Übereinkommen angelegt, in dem das 1,5-Grad-Ziel formuliert wurde, die erforderlichen Maßnahmen jedoch den Nationalstaaten überlassen blieben, und die unternähmen nichts, so Smid.

Folglich komme die Zivilgesellschaft ins Spiel, zumal die G20-Proteste beileibe nicht die einzigen seien. Er sei gerade von den Klimacamps im Rheinland zurückgekehrt, wo über 6000 Leute die Kohleinfrastruktur blockiert haben. Vom Klimacamp gehe eine europäische Solidarität aus, viele Menschen kämen aus anderen Ländern, um die Infrastruktur der Braunkohle zu blockieren. Ungeachtet der vorangegangenen Gewaltdebatte bei G20 seien es friedliche Proteste gewesen. Daran gelte es weiter zu arbeiten: "Wir dürfen uns auf die Ankündigungsrhetorik nicht verlassen, sondern müssen das selbst in die Hand nehmen."


Stehend mit Mikro - Foto: © 2017 by Schattenblick

Bruno Watare
Foto: © 2017 by Schattenblick

Flucht ohne Ende

Bruno Watare lebt seit 1997 in Deutschland und hat sich mit anderen Geflüchteten zusammengetan, um gegen die menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern zu protestieren und der Forderung Nachdruck zu verleihen, daß Flüchtlinge in Deutschland wie Menschen behandelt werden und Rechte haben sollen. Er engagiert sich in verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen wie Afrique Europe Interact, einem transnationalen Netzwerk, das sich für ein Bleiberecht von Geflüchteten einsetzt. In seinem Vortrag zu Flucht und Migration in den afrikanischen Ländern brachte er zur Sprache, daß Europa unter deutscher Führung eine Partnerschaft mit Afrika verkündet hat, die unter Stichworten wie "Marshallplan" diskutiert wird. Das könne nur darauf hinauslaufen, daß der ohnehin verschuldete Kontinent unter dem Vorwand der Hilfeleistung noch tiefer verschuldet werde. Die Bundeskanzlerin versuche, zusammen mit Frankreich in Konkurrenz zu China und Indien Einfluß in afrikanischen Ländern zu gewinnen und auszubauen.

Als der G20-Gipfel stattfand, habe für geflüchtete Menschen, zumal jene ohne Papiere, die Frage angestanden, ob sie überhaupt dorthin gehen sollten und könnten. Grundsätzlich würden die Probleme der Flüchtlinge nicht ernstgenommen. So spreche man von einer "Flüchtlingskrise", doch bezeichne der Begriff "Krise" ein relativ kurzfristiges Problem oder einen akuten Verlauf. Es sei jedoch seit 2015 durchgängig von einer Flüchtlingskrise die Rede. Es könne jedenfalls nicht darum gehen, eine Frage zu stellen und sofort eine paßförmige Antwort als Lösung zu bekommen. Die Flüchtlinge hätten im Zuge der sogenannten Willkommenskultur zwar einiges gewonnen, seien inzwischen jedoch allerorts ins Hintertreffen geraten. Was aber diese Willkommenskultur als solche betrifft, müsse man die eintreffenden Menschen doch zuerst fragen, welche Probleme sie haben. Wenn Geflohene dann Jahrzehnte in Deutschland lebten und teilweise hier auch Kinder hätten, wäre es an der Zeit, ihnen endlich alle Rechte zu gewähren. Abschließend schilderte er die permanente Ungewißheit und Perspektivlosigkeit von Geflohenen, deren Angehörige in Afrika leben. Ein Flüchtling habe ihm einmal gesagt, seine Seele sei schon längst gestorben, so Watare. Müsse jemand ins Gefängnis gehen, wisse er zumindest, wann er wieder herauskommt. Diese Menschen wüßten hingegen auch nach 15 oder 20 Jahren in Deutschland nicht, wie sie aus dieser Zwangslage herauskommen könnten und ob sie jemals enden werde.


Stehend mit Mikro - Foto: © 2017 by Schattenblick

Hartmut Ring
Foto: © 2017 by Schattenblick

Forcierte Militarisierung der deutschen Gesellschaft

Hartmut Ring, der zum Thema Krieg und Frieden Position bezog, ist pensionierter Lehrer und Friedensaktivist. Er gehört der Hamburger Gruppe Pädagogen für den Frieden an, die seit langem bundesweit und international aktiv ist. Seit 1983 organisiert er den Ausschuß Friedenserziehung der Hamburger GEW. Wie Ring ausführte, habe er die 20seitige Abschlußerklärung der G20 durchgelesen und darin vergeblich die Begriffe "Krieg" und "Frieden" gesucht. Der Begriff "Konflikt" tauche nur ein einziges Mal auf und zwar in Zusammenhang mit Vertreibungs- und Fluchtursachen. Der Begriff "Kooperation" tauche auch nicht auf, "Zusammenarbeit" nur bei Abwehr von Migration oder möglichen ökonomischen Vorteilen von Migration. Wenn es zu G20 heiße, "Eine vernetzte Welt gestalten", könne er das nur zynisch deuten, denn diese Vernetzung werde längst gestaltet.

Insbesondere in der Bundesrepublik bestehe eine Vernetzung auf neuer Ebene wie etwa bei der Zusammenarbeit von Rüstungsunternehmen in Deutschland und Europa. Es gebe verstärkte Aktivitäten des politisch-militärisch-industriellen Komplexes, Lobbyisten beeinflußten die Politik dahingehend, daß Krieg möglich ist und damit Geschäfte gemacht werden können. Die Militarisierung der Gesellschaft werde vorangetrieben: Am G20-Gipfel war auch die Bundeswehr beteiligt. In Hamburg gebe es ein Lagezentrum, das militärisch geführt wird und das kaum jemand kennt. Es gebe nur wenige, die Genaueres über diese Militarisierung wüßten und sich dagegen wehrten. Es sei nicht einfach, an Informationen über diese Militarisierung der Bundesrepublik zu kommen. Dieses großes Defizit hänge auch damit zusammen, daß die Methoden nicht vermittelt würden, wie man sich solche Informationen beschafft.

Die Friedensbewegung teile sich auch in Hamburg in einzelne Gruppen zu bestimmten Themen auf. Es gebe zwar Plattformen, Konferenzen und Vernetzungsversuche, die jedoch der Zersplitterung in Spezialgebiete nicht abhelfen könnten. Die Hamburger Friedensbewegung sei nicht sehr groß und nicht gerade jung, was sich auch auf dem alternativen Gipfel gezeigt habe. Aus anderen Ländern wurde berichtet, wie jung dort die Friedensbewegung ist. Das sei in Hamburg nur in einer einzigen Gruppe der Fall, nämlich "Bildung ohne Bundeswehr", die aktiv Aufklärung betreibe und dagegen angehe, daß die Bundeswehr in jeglichen Bildungseinrichtungen versuche, die Köpfe massiv zu militarisieren. Er schlage vor, die Ansätze des Alternativgipfels aufzugreifen und in größerer Form gerade auch mit Blick auf junge Menschen weiterzuführen.

Verschränkung der Themen, Vernetzung der Initiativen

Nachdem in den Beiträgen der Podiumsteilnehmer der Zusammenhang der verschiedenen Themenbereiche mehrfach angeklungen war, griff Anke Butscher diesen Aspekt mit der weiterführenden Frage auf, auf welche Weise eine stärkere Vernetzung der Themen und dazu arbeitenden Initiativen gefördert werden könnte. Wie Roland Süß dazu anmerkte, sei das Handelsthema früher bei den G8 beispielsweise als Sicherung der Handelswege präsent gewesen, jedoch seit einiger Zeit aus der öffentlichen Debatte verschwunden, obgleich sich an seiner Virulenz nichts geändert habe. Auch die Flüchtlingspolitik werde mit militärischen Mitteln betrieben, teils mit eigenen Strukturen, teils mit in Afrika aufgebauten Zusammenhängen. Es gebe viele Verbindungen zwischen den verschiedenen Themenkomplexen, doch würden von der Politik keine vernünftigen Konzepte angeboten: "Wir müssen uns damit auseinandersetzen, welche Lösungen in eine andere Richtung führen."

Hartmut Ring unterstrich, daß es durchaus Vorschläge und einzelne Gruppen gebe, die zu diesem Thema arbeiteten und beispielsweise deutlich machten, wie Flüchtlingspolitik mit militärischen Mitteln betrieben wird. Jede Flucht habe eine Ursache, und die gründe meistens in unserem Gesellschaftssystem. Die Systemfrage werde aber nicht gestellt. Norman Paech habe auf dem Alternativgipfel einen Juristen zitiert, der nach 1945 gesagt hat: "Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen." Das sei eine Erkenntnis, die viel zu wenig thematisiert werde. Die Länder, in denen Krieg geführt wird, hätten Bodenschätze und seien von geostrategischem Interesse. Die EU und die großen Wirtschaftskomplexe wollten ihre Produkte auf dem Weltmarkt loswerden, insbesondere ihre Überproduktion. Staaten würden gezwungen, Handelshemmnisse abzubauen, und dann mit solchen Produkten überschwemmt. Weigerten sie sich, mache man Regime change, wie das in der Vergangenheit schon häufig der Fall gewesen sei. Das habe unmittelbar nach der Dekolonisierung begonnen, als einige selbstbewußte, linke Politiker versuchen, ihren Ländern eine ökonomische Basis zu verschaffen. Diese Leute seien ermordet worden, in solchen Ländern habe es einen Putsch gegeben. Aufklärung sei der erste Schritt, etwas zu ändern. Er schlage vor, Zukunftswerkstätten zu organisieren, was für junge Leute attraktiv sei: "Es reicht nicht zu protestieren, wir müssen Perspektiven entwickeln, wie wir handeln."

Karsten Smid unterstrich, daß sich Greenpeace gegen TTIP organisiert und damit eine Verbindung zwischen Umwelt- und Handelspolitik aufgezeigt habe. Man habe auf dem Alternativkongreß eine Studie zu Klimawandel, Migration und Vertreibung vorgestellt und eine sehr spannende Diskussion geführt. Mit einer Ausstellung, die in diesem Rahmen konzipiert wurde, sei die "Beluga" auf Tour. Damit zeige man, inwieweit der Klimawandel bereits als Ursache von Vertreibung zu nennen sei und Konflikte mit anheize: "Letztendlich geht es darum, daß wir als Greenpeace Kampagnen so fokussieren, daß wir auch wirkmächtig etwas verändern können." Die Alternativkongresse seien erforderlich, um den Gesamtkomplex zu diskutieren und zu erfassen.

Bruno Watara ging darauf ein, auf welche Weise die Residenzpflicht oftmals verhindere, daß Geflüchtete Deutschkurse und andere Bildungsangebote in Anspruch nehmen können. Es könne nicht darum gehen, Flüchtlinge mit Socken und Schokolade zu empfangen. Vielmehr müsse man ihnen die Möglichkeit geben, über ihre Situation und Probleme zu sprechen, um gemeinsam zu erarbeiten, was getan werden kann und soll. Im Grunde habe erst der Flüchtlingsmarsch nach Berlin mehr Menschen in Deutschland deutlich gemacht, wie Geflüchtete hier leben.

Simon Teune zog mit den Worten Bilanz, die Protestbewegung sei das einzig Positive an dem Gipfel gewesen. Der globalisierungskritischen Bewegung sei es gelungen, die Verknüpfung herzustellen. Man könne an einzelnen Punkten Bündnispartner finden, die bereit seien, sich zu engagieren. Wolle man allerdings die Systemfrage stellen, habe man es nach G20 nicht gerade leichter. Die Diskreditierung des Protests sei vorangeschritten, und so müsse man sich auch in diesem Land Sorgen machen, daß man Probleme kriegt, wenn man mit den Falschen auf die Straße geht.


Podium mit allen Teilnehmern - Foto: © 2017 by Schattenblick

Diskussion in der Kulturfabrik Kampnagel
Foto: © 2017 by Schattenblick

Denkanstöße für die junge Generation

In der Diskussion mit dem Publikum kam zum einen die Flüchtlingspolitik am Beispiel Afrika vertiefend zur Sprache. Schon vor dem G20-Gipfel seien Verträge mit sieben afrikanischen Länder geschlossen worden, die private Großinvestitionen begünstigten. Als Entwicklungshilfe ausgewiesene Gelder wanderten häufig in Polizeiaufrüstung und Grenzschutztechnologie, an der die deutsche Rüstungsindustrie inzwischen fast genauso viel wie mit Waffenverkäufen verdiene. Zum Afrikagipfel in Berlin eine Woche vor G20 führten Attac und weitere Organisationen eine Gegenkonferenz mit Vertretern verschiedener sozialer Bewegungen aus Afrika durch. Die Veranstaltung sei inhaltlich sehr gut verlaufen, aber in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden. Wie von der Hamburger Lampedusa-Gruppe berichtet wurde, hätten die Geflüchteten weithin das Vertrauen in die Politik verloren. Ihre einzige Chance bestehe darin, sich selbst zu organisieren. An der vor zwei Jahren auf Kampnagel durchgeführten internationalen Flüchtlings- und Migrationskonferenz hatten zwischen ein- und zweitausend vorwiegend geflüchtete Menschen aus ganz Deutschland und anderen europäischen Ländern teilgenommen. Die Flüchtlingsbewegung sei inzwischen recht gut vernetzt.

Ein zweiter Schwerpunkt der Diskussion galt der Frage, auf welche Weise noch mehr jüngere Leute eingebunden werden könnten. Hartmut Ring, der auf 40 Jahre Schuldienst zurückblicken kann und sich nun in der Alphabetisierung von Kindern in der Erstaufnahme Wilhelmsburg engagiert, gab zu bedenken, daß die junge Generation heute unter einem ungeheuren Zeit- und Erfolgsdruck stehe. Ihr fehle schlicht und ergreifend die Möglichkeit, an solche Informationen zu gelangen, wenn sie nicht gerade vom Lehrer komme. Politische Bildung spiele leider bei der Lehrerausbildung, im Unterricht und an der Hochschule keine Rolle mehr. Junge Leute informierten sich vor allem über die Netzwerke, wo sie allenfalls zufällig auf relevante Inhalte stießen. Man könne sie jedoch zu alternativen Gipfeln oder in Zukunftswerkstätten einladen.

Karsten Smid kam noch einmal auf die 6000 überwiegend jungen engagierten Leute beim diesjährigen Klimacamp im Rheinland zu sprechen. Er habe selten so inspirierend und motivierend Menschen erlebt, die alles eingesetzt hätten, um Widerstand gegen die Braunkohleinfrastruktur zu organisieren. Solche Erlebnisse wie in den Klimacamps seien prägend: "Wenn du dann noch gewaltfrei auf der Schiene sitzt und von der Polizei zusammengeprügelt wirst, dann ist das auch ein Denkanstoß, den du nicht vergißt und wo du dann weiter am Protest teilnehmen wirst, weil du so eine Wut im Bauch hast."

Wie ein jüngerer Diskussionsteilnehmer berichtete, habe die Vorbereitung auf G20 in einem kleinen Kreis begonnen, der dann rasch größer geworden sei und eine Eigendynamik gewonnen habe. Die Repression und der Polizeistaat seien in den Medien wahrgenommen worden, die Zivilgesellschaft habe sich solidarisch erklärt und dem Ausnahmezustand etwas entgegengesetzt. Was hängenbleibe sei die Zusammenarbeit, Geschlossenheit und Solidarität bei den vielfältigen Protestaktionen. Darauf könne man aufbauen.


Fußnoten:


[1] http://www.akweb.de/ak_s/ak441/03.htm

[2] http://solidarity-summit.org


Berichte und Interviews zu "G20 - das war der Gipfel" und "Die G20 und das Treffen der 2000" im Schattenblick unter:
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BERICHT/286: G20-Resümee - Schranken bis zum Kessel ... (SB)
BERICHT/287: G20-Resümee - gutes Recht zu nutzen schlecht ... (SB)
BERICHT/288: G20-Resümee - Staatsinteresse und öffentliche Wahrnehmung ... (SB)
INTERVIEW/382: G20-Resümee - Mangel an Avantgarde ...    Denis Ergün im Gespräch (SB)


5. Oktober 2017


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