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BERICHT/312: Postmarxist Alain Badiou - Fugen des Übergangs ... (SB)




Kampnagel-Plakat zur Veranstaltung - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick

Der Postmarxist Alain Badiou gehört zu den wichtigsten lebenden Philosophen Frankreichs. Geboren 1937 in Marokko, war Badiou lange Zeit ein profilierter Vertreter des Maoismus. Auch heute bekennt er sich noch immer zum Kommunismus und sieht darin die einzige Möglichkeit für die Menschheit, die aktuelle globale Krise aus Armut, Not, Umweltzerstörung, Ressourcenschwund und menschlicher Entfremdung zu überwinden. In seinen philosophischen Werken steht Badiou dem existentialistisch-phänomenologischen Denken Sartres nahe und ist stets auf Abstand zu den Postmodernisten geblieben. Wie Sartre mischt sich Badiou zeitlebens aktiv in die politische Debatte ein - zuletzt an prominenter Stelle mit kritischen Anstößen zu der weltweiten Flüchtlingsproblematik und dem scheinbar nicht lösbaren Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern.

Von bürgerlichen Kritikern als ewig Gestriger geschmäht oder gar reißerisch zum gefährlichsten Philosophen der Gegenwart hochstilisiert, kann man Alain Badiou zweifellos zugute halten, seinen früheren Überzeugungen treu geblieben zu sein und sie weiterentwickelt zu haben. Ungleich vielen seiner Altersgenossen und ehemaligen Mitstreitern hat er sich nicht vom Streben nach einer besseren Welt jenseits des Kapitalismus verabschiedet. Dieser Verteidigung gegen reaktionäre Anwürfe ungeachtet gilt es indessen mit gleicher Sorgfalt zu prüfen, welchen Beitrag zu aktuellen und künftigen Kämpfen radikalen Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse er zu leisten vermag. Beschränken wir uns der Überschaubarkeit halber auf die im folgenden gewürdigte Veranstaltung, bleibt als Gesamteindruck haften, daß Badious Entwurf einen akademischen Radikalismus anklingen läßt, der ein bildungsbürgerliches Publikum wohlig erschauern lassen mag.

Neu oder originell sind seine Thesen eher nicht, was für sich genommen natürlich kein Manko sein muß. So zutreffend seine Beschreibung einiger Charakteristika des gegenwärtigen Gesellschaftssystems und des Neuen Imperialismus ist, drängt sich doch in Anlehnung an die elfte Feuerbachthese bei Marx die Anschlußfrage auf, inwieweit Badious Philosophie darüber hinaus geeignet ist, die Welt zu verändern. Daß sich hier Zweifel einschleichen, dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß in seinen Ausführungen begriffliche Kategorien wie Herrschaft, Macht oder Kämpfe, wie man sie in diesem Zusammenhang zuallererst erwarten würde, kaum oder gar nicht zur Debatte standen. Vielleicht wäre es auch zuviel verlangt, dem Gespräch zwischen Autor und Verleger im Rahmen einer Abendveranstaltung aufzubürden, was ausgiebiger Diskussionen in einem anderen Kontext bedürfte. Dennoch kommt das Nomadenproletariat als zeitgenössische Arbeiterklasse oder das Bündnis der Jugend mit Intellektuellen und Migranten als Zukunftsversprechen allzu leichtfüßig daher, als gelte es, die offenkundigen Fugen des Übergangs mit einem Satz zu überspringen, ehe jemand der tiefen Kluft gewahr wird. Die Leserschaft mag sich anhand der folgenden Erörterungen ihr eigenes Bild machen, wo Badiou trittsicher argumentiert oder der Schritt vielmehr im Treibsand zu versinken droht.


Auf der Bühne stehend - Foto: © 2018 by Schattenblick

Alain Badiou
Foto: © 2018 by Schattenblick


Uraltes Verhängnis heute aggressiver denn je

Im Rahmen der "Passagengespräche - Forum für neues politisches Denken", die der Wiener Passagenverlag seit einigen Jahren bisher hauptsächlich in Berlin abhält, konnte man Alain Badiou am 12. März im Hamburger Kampnagel erleben. Vor wohlgefülltem Saal erläuterte er im Gespräch mit Passagen-Verlagschef Peter Engelmann seine Sicht der aktuellen Weltlage.

Vor seiner Eingangsfrage erinnerte Engelmann an die Euphorie, die den Fall der Berliner Mauer 1989 begleitet hat. Damals neigten die meisten Menschen in Europa und Nordamerika zu der Illusion, daß das Ende der Systemkonfrontation zwischen Ost und West friedlichere Zeiten herbeiführen würde. Doch das Gegenteil ist eingetroffen. Mit dem Ende des real existierenden Sozialismus kam dem Kapitalismus der mäßigende Widerpart abhanden. 30 Jahre später sind die Folgen unübersehbar. Der Kapitalismus muß sich nicht mehr arrangieren, nicht mehr Rücksicht nehmen. Das Problem der Ressourcenverteilung hat sich lokal und global verschärft. Die Demokratie führt weltweit ein Schattendasein. Die nationalen Parlamente haben nichts mehr zu bestellen; die Lobbyisten geben den Ton an - Beispiel Bankenkrise.

In Washington geben die Banken jedes Jahr 100 Millionen Dollar für Lobbyismus aus. Ihre Gewinne bleiben privat, während die Verluste sozialisiert, dem Steuerzahler aufgebürdet werden. Die Ausbeutung des globalen Südens nimmt zu. Transnationale Konzerne beherrschen die Rohstoffländer mittels Bestechung. Die Nicht-Industrieländer werden nicht stabilisiert, vielmehr verschlechtern sich die Lebensverhältnisse aufgrund von Kriegen dort permanent - daher die Migrationsströme. Dieses Phänomen destabilisiert wiederum die industrialisierten Staaten des Nordens politisch, was am Aufkommen der extremen Rechten mit ihren rassistischen Vorstellungen zu erkennen ist. Vor diesem Hintergrund fragte Engelmann Badiou, wie seiner Meinung nach der Kommunismus die Menschheit aus der Krise führen könnte. Zugleich wollte er von ihm wissen, welchen Nutzen der von ihm verwendete Begriff des Neuen Imperialismus habe.

Badiou ließ sich auf den von Engelmann abgesteckten geschichtlichen Zeitrahmen nicht ein, sondern kam zum Auftakt seiner Erläuterungen auf das Grundsätzliche zurück. Ihm zufolge müßten die Menschen begreifen, daß die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur eigentlich eine sehr alte ist und drei Hauptmerkmale hat. Erstens besteht sie aus Klassen mit großen Ungleichheiten; die Anhäufung von Reichtum findet sich nur bei einem kleinen Teil der Gesellschaft; das Privateigentum entscheidet darüber, wer die Mittel zu produzieren und zu verteilen kontrolliert. Zweitens setzt unsere Gesellschaft darauf, daß Reichtum über die Familie weitergegeben wird, was zur Oligarchiebildung führt. Drittens findet alles im Rahmen eines Staatswesens statt, das es als seine Hauptaufgabe sieht, das Privateigentum zu schützen, zu Not auch mit militärischen Mitteln vor ausländischen Rivalen. Badiou erinnerte daran, daß Friedrich Engels bereits 1884 in "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" die Grundprinzipien unserer noch heute gültigen Gesellschaftsform skizziert hat.

Laut Badiou existiert unser Gesellschaftsmodell seit mehr als 5000 Jahren und ist in China und Ägypten infolge der neolithischen Revolution entstanden. Vorher waren die Menschen in kleinen Gruppen von Jägern und Sammeln organisiert. Aufgrund von Ackerbau und Viehwirtschaft ist es zur Gesellschaftsteilung zwischen Besitzenden und Besitzlosen gekommen. Badiou sprach der heutigen Lebensweise jegliche Modernität ab und erklärte, daß sich die Menschen auch im 21. Jahrhundert gewissermaßen noch immer im Neolithikum aufhielten. Folglich sei das, wovon wir uns befreien müssen, nicht 30, sondern mehr als 5000 Jahre alt. Die Menschheit sei heute mit dem Problem des globalisierten Kapitalismus konfrontiert, der lediglich die letzte Form der Neolithikums darstelle, so Badiou. Dies zu überwinden sei keine leichte Aufgabe und werde nicht einfach bei irgendwelchen Parlaments- oder Präsidentenwahlen entschieden.

Es folgten zwei wichtige Feststellungen des französischen Philosophen: Erstens habe das kapitalistische System inzwischen die ganze Welt erfaßt und zweitens sei es aus sich heraus nicht imstande, eine Alternative zu sich selbst zu entwickeln. Deswegen müssen die Kritiker des bestehenden Systems ihrer großen historische Verantwortung gerecht werden und es überwinden. Badiou wies darauf hin, daß kaum jemand behauptet, daß der Kapitalismus wunderbar sei, selbst seine Befürworter nicht. Alle kennen die menschenfeindlichen Aspekte wie Armut und Arbeitslosigkeit nur zu gut und wissen, daß die politischen Strukturen schwach sind. Deswegen erklären die Verfechter der Marktwirtschaft, daß es zum Kapitalismus keine Alternative gibt - womit sie im Grunde eine Negativpropaganda betreiben. Daher Badious Frage, ob wir nicht eine andere Möglichkeit postulieren können, um aus dem Neolithikum, aus dem Monopol des Privateigentums, der familiären Weitergabe des Reichtums und dem repressiven Staat herauszugelangen.

Auf die Frage Engelmanns eingehend meinte Badiou, der Begriff Neuer Imperialismus treffe sehr wohl zu und sei nützlich, denn der Imperialismus von heute sei ein anderer als der frühere. Der alte Kolonialimperialismus bestand darin, Länder zu okkupieren und Handelsmonopole zu errichten. Zwei Weltkriege zerstörten dieses System. Heute konkurrieren verschiedene kapitalistische Gruppen innerhalb schwacher, korrumpierbarer Staaten. Ganze Kontinente wie Afrika sind zu Austragungsorten von Rivalitäten der Weltmächte geworden. Es gibt heute auf der Weltkarte ganze Regionen, in denen das Staatswesen praktisch verschwunden ist - zerstört durch das Wirken der Großmächte, wie im Irak durch die USA und in Libyen durch Frankreich. Das Fehlen staatlicher Strukturen nützt den Großmächten. Diese können sich bei Banden und Abenteurern leichter durchsetzen als bei Staatsmännern und Politikern. Badiou meinte, die Großmächte hätten ein Interesse an der Bildung von Zonen ohne Staat, weil sie dort leichter eingreifen könnten. Wo Erdöl ist, kommt es häufig zu einer solchen Zonierung, sagte er. Öl sei von einer Bande billiger als von einem Staat zu bekommen.

Engelmann reagierte recht irritiert auf die Antwort Badious und tat den Rückgriff auf das Neolithikum als wenig hilfreich ab. Er wolle lieber über Migration und Terrorismus als Folgen des Imperialismus sprechen, was das Publikum mehr interessiere als Altertumsgeschichte. Er kam auf das Phänomen des Rechtspopulismus zu sprechen und fragte, wieso die rechte Reaktion auf die heutige Lage mehr Menschen zu mobilisieren scheine als die linke.

Badiou entkräftete den Einwand Engelmanns, indem er erklärte, daß bloßen Symptomen verhaftet bleibe, wer keine strategische Analyse formuliere. Der Rechtspopulismus sei eine Reaktion auf die Migrationsströme, die ihrerseits eine Folge imperialistischen Treibens im unterentwickelten Süden sei. Das Phänomen sei mit dem Neolithikum verbunden. In weiten Teilen Asiens und Afrikas finden die Kriege kein Ende. Millionen von Menschen können aufgrund der Gewaltverhältnisse oder des Ressourcenschwunds nicht leben, wo sie geboren und aufgewachsen sind. In ihrer Verzweiflung gehen die Leute dorthin, wo sie und ihre Familien überleben können. Das Ergebnis sei ein internationales Nomadenproletariat. Badiou erinnerte daran, daß die Proletarier seit jeher vom Lande kamen. Im England des 19. Jahrhunderts wurden Gesetze gegen das sogenannte Vagabundieren erlassen, die bei bestimmten Regelverstößen Hinrichtung vorsahen. Das Nomadenproletariat ist also nicht neu. Doch identifiziert man die Ursache des Phänomens falsch, läuft man Gefahr, den Lösungsvorschlägen reaktionärer Populisten Glauben zu schenken.

Die Ursache der Migrationsströme ist die Entwicklung des neuen Kapitalismus und hat nichts damit zu tun, daß die Flüchtlinge schwarz und wir weiß, sie Muslime und wir Christen sind, betonte Badiou. Die verschiedenen wirtschaftlichen und ökologischen Krisen der Welt hängen miteinander zusammen. Es macht eine Menge im Denken aus, ob man die Neuankömmlinge in Europa als Wilde oder als Nomadenproletarier begreift. Die Sprache und die Begriffe der Rechten laden zu gewaltsamen Lösungen ein. Aktuell gibt die rechte Sichtweise den Takt und führt die Menschen zurück zu den nationalen, religiösen und rassistischen Konflikten, die wir Ende des 20. Jahrhunderts hinter uns zu haben glaubten. Dagegen sind die Erklärungsversuche der Linken schwach und nicht-hegemonial, weil sie nicht auf die eigentlichen Ursachen der Krisenphänomene eingehen. In Frankreich hat die Regierung die Position der Rechten einschließlich der Repression gegen Migranten und einer Leugnung der eigenen Verantwortung übernommen, während sie gleichzeitig Tausende Soldaten zu neuen Imperialinterventionen ins Ausland schickt.


Alain Badiou beim Signieren seiner Bücher - Foto: © 2018 by Schattenblick

Mit dem Nomadenproletariat solidarisieren
Foto: © 2018 by Schattenblick

Engelmann fragte daraufhin, wie die Konzeption eines Nomadenproletariats helfen könne, eine adäquate linke Gegenposition zum rechten Populismus zu schaffen und einen Ausweg aus der Sackgasse Kapitalismus zu finden. Wie gelangen wir zu einer anderen Politik, zu einer anderen Realität?

Badiou erwiderte, daß die Vorstellungen in jeder Situation Teil der Realität und davon nicht zu trennen seien. Es macht viel aus, ob man glaubt, ein Nomadenproletariat oder eine Ausländerinvasion vor sich zu haben. Entscheiden wir uns für die erste Definition, sind wir angehalten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Dann müssen wir das Nomadenproletariat sich organisieren lassen und dafür kämpfen, daß sie reguläre Papiere wie eine Arbeitserlaubnis et cetera bekommen. Wir müssen uns mit ihnen solidarisieren. Die Nomadenproletarier stellen eine politische Kraft in Richtung Veränderung dar. Wir sollten mit ihnen diskutieren und die Ursachen der Probleme erfahren. Viele tun das nicht und verstehen deshalb auch nicht, warum die Menschen nach Europa kommen. Diejenige Kräfte, welche den Migranten die Möglichkeiten vorenthalten wollen, sich hier in Europa zu integrieren, sind dieselben, die dafür sorgen, daß sie überhaupt hierher kommen. Man müsse sich mit den Neueinwanderern verbünden, damit sich hier bei uns etwas ändert. Eine Lösung der Migrationsproblematik ist nur möglich, wenn man sich einer globalen Sicht der Dinge bemächtigt, so Badiou.

Etwas flapsig hakte Engelmann nach, ob Badious Antwort auf die aktuellen Krisen einfach nur auf den alten Schlachtruf "Proletarier aller Länder vereinigt euch" hinauslaufe. Er wollte wissen, worin der Unterschied zu damals, als diese berühmten Worte formuliert wurden, bestehe.

Als Marx "aller Länder" sagte, hielt er den Begriff Land für unvermeidlich, so Badiou. Ende des 19. Jahrhunderts war die kommunistische Internationale ein Verbund nationaler Gruppen. Heute ist der Kapitalismus global organisiert, also müssen die Proletarier gleichziehen - egal ob sie aus Mali oder den Pyrenäen kommen. In Frankreich bilden die meist nordafrikanischen Einwanderer einen Teil des internationalen Proletariats. Man hat sprichwörtlich das globalisierte Proletariat ins Land geholt. In Deutschland ist aufgrund der vielen Gastarbeiter ein Teil des Proletariats türkischer Abstammung. Damit sind türkische Probleme nach Deutschland geholt worden und afrikanische nach Frankreich. Spätestens da stellt man fest, daß nationale Lösungen nicht mehr ausreichen. Die Probleme, vor denen wir stehen, lassen sich nicht mit identitären Ideen bewältigen. Deshalb ist der identitäre Ansatz als solcher zugunsten eines echten Internationalismus abzulehnen. Das dürfte nicht so schwer sein, denn der Internationalismus ist bereits lebende Realität in unseren Straßen, so Badiou.

Er ließ sich vom Einwurf Engelmanns, wo "Sujet" und "Ereignis" abgeblieben seien und ob man nicht doch "ein bißchen philosophieren" wolle, nicht irritieren, sondern setzte unbeirrt sein Plädoyer für eine "internationale Klassenanalyse" fort. Er hob hervor, daß es heute weltweit ein riesengroßes Proletariat gibt. Westliche Ökonomen behaupten, es gebe immer weniger Arbeiter. Laut Badiou ist das Gegenteil der Fall; es habe noch niemals so viele Arbeiter wie heute gegeben. Er machte geltend, daß die Hälfte der Weltbevölkerung aus Arbeitern bestehe, die in Städten leben - eine einmalige Situation. Vor 100 Jahren lebten die meisten Menschen auf dem Land und waren Bauern. Demgegenüber steht eine kleine Oligarchie, etwa fünf Prozent der Menschen besitzen mehr als die arme Hälfte der Weltbevölkerung. Dazwischen ist eine Mittelschicht von rund 40 Prozent der Menschheit angesiedelt, von denen viele nicht als wohlhabend zu bezeichnen seien.

Heute ist mehr als die Hälfte aller Arbeiter in Indien und China zu finden - vor 100 Jahren gab es sie vorwiegend in Deutschland, England und Frankreich. Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft hat sich nach Osten verschoben. Es müssen deshalb Verbindungen über die Staatsgrenzen hinweg zwischen den Proletariern vornehmlich in Asien und den Angehörigen der Mittelschicht in Europa und Nordamerika hergestellt werden. Dabei könnten die Jugend und die Intellektuellen eine wichtige Rolle spielen. In den vielen Initiativen, in denen Jugendliche und Intellektuelle mit den Flüchtlingen zusammenarbeiten, liegt die Zukunft, so Badiou.

An dieser Stelle stellte Engelmann die wichtige Frage, wie künftig eine politische Bewegung des internationalen Proletariats die Fehler vermeiden könne, die zum Untergang der Sowjetunion und des real existierenden Sozialismus geführt haben. Welche strukturellen oder denkerischen Ansätze seien diesbezüglich zu nennen?

Badiou erwiderte, die Frage des historischen Sozialismus sei zukunftsgerichtet zu stellen, nur so sei der Ausgang aus dem Neolithikum zu finden. Er forderte die Abschaffung der großen Vermögen und wandte sich absolut gegen diese Form des Privateigentums. Als erstes Prinzip schlug er vor, sich Überlegungen zu machen, wie das Kollektiveigentum zu definieren sei. Im historischen Sozialismus habe man das Privateigentum mittels Enteignung durch den Staat beseitigt. Doch die Erfahrung hat gezeigt, daß das Staatseigentum möglicherweise nicht die beste Art der Kollektivierung ist. Solche Fragen habe man in China während der Kulturrevolution aufgeworfen, leider jedoch nicht zu Ende diskutiert. Als zweites Prinzip trat Badiou für ein Ende der Hierarchisierung menschlicher Arbeit ein. Den Unterschied zwischen handwerklicher oder geistiger, weiblicher oder männlicher, leitender oder ausführender Arbeit dürfe man nicht weiterbestehen lassen. Frei nach Marx gelte es den "polymorphen Arbeiter" zu schaffen. Als drittes Prinzip rief Badiou zur Schaffung eines echten Internationalismus der arbeitenden Menschen auf. Als viertes regte er an, die Gesellschaft durch andere Instanzen als staatliche verwalten zu lassen. Er erinnerte an den Standpunkt Lenins, wonach alle Macht von den Sowjets, gemeint waren kleine kollektive Gruppen, ausgehen solle und nicht von Staat oder Partei.

Mit diesen vier Prinzipien könnte man eine neue, menschengerechtere Politik schaffen, so Badiou. Seiner Ansicht nach wurde in der Volksrepublik China und der Sowjetunion nur das erste Prinzip realisiert. Das zweite Prinzip wurde lediglich während der Kulturrevolution in China gestreift - siehe die "dreifache Allianz" in den Betrieben. Das dritte Prinzip verkörperte lange die kommunistische Internationale, die jedoch mit der Zeit den Interessen der Sowjetunion untergeordnet wurde. Zu einer Verwirklichung des vierten Prinzips ist es bis heute nirgendwo gekommen. Zu sehr hängen die Apparate und ihre Beamten am Staat. Nichtsdestotrotz meinte Badiou, daß durch eine konsequente Umsetzung dieser vier Prinzipien der Mensch Herr seines Schicksals werden könne. Das nenne er Kommunismus.


Tisch mit Büchern Alain Badious - Foto: © 2018 by Schattenblick

Aus der Fülle des Schaffens ...
Foto: © 2018 by Schattenblick


Universalismus überwindet identitäre Rückfälle

Als nach diesen Ausführungen Engelmann dem Publikum Gelegenheit zum Mitdiskutieren gab, kam die erste Frage prompt von einem Vertreter der identitären Bewegung, der sich durch den Verweis auf das Gedankengut Karl Albrecht Schachtschneiders als solcher zu erkennen gab. Er stellte die Möglichkeit der Menschen, über kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten, in Zweifel und unterstellte Badiou offen, einen elitären, eurozentrischen Standpunkt zu vertreten.

Der Franzose erkannte die Provokation sofort und erteilte dem Fragesteller eine brüske Antwort. Die Unterstellung, ein fauler, privilegierter Elfenbeinturmbewohner zu sein, bestritt er vehement und verwies dabei auf sein langjähriges militantes soziales Engagement, das ihn mit Menschen aller Hautfarben und Herkünfte zusammengeführt und ihm Ärger mit der Staatsgewalt eingebracht habe. Er wiederholte das Argument, daß der Weg zum neuen Internationalismus über die Staatsgrenzen hinweg führe. Die Proletarier auf der ganzen Welt müssen zusammenkommen, mehr miteinander sprechen und sich global organisieren.

Auf eine zweite Frage, wo denn die Jugendlichen und Intellektuellen seien, von denen Badiou so viel erwarte, antwortete dieser, er erlebe sie bei Aktionen in den europäischen Städten. Er kenne persönlich viele europäische Jugendliche und Intellektuelle, die sich mit den Nomadenproletariern verbündet haben. Für beide Seiten komme es auf diese Weise zum spannenden und erfreulichen Erfahrungsaustausch. Damit werde ein neuer Abschnitt in der Globalpolitik eröffnet: Lokale Kampferfahrungen führten zu einem verbesserten Verständnis der Möglichkeiten.

Ein dritter Fragesteller wollte wissen, ob die Werte von Menschenrechten und Demokratie durch ihren Mißbrauch bei der Begründung westlicher Militärinterventionen zum Beispiel im Irak und in Syrien ihren universellen Charakter verloren hätten.

Badiou bekannte sich, ungeachtet solcher Auswüchse, zum Universalismus. Nur als Universalist könne man die Notwendigkeit eines globalen Ansatzes zur Lösung der Probleme der Menschen erkennen. Die westlichen Werte wie Demokratie und Menschenrechte seien bisher westlich geblieben, denn der Westen habe sie zu keinem Zeitpunkt ernsthaft universalistisch gemeint. Wenn westliche Politiker einen Begriff wie Demokratie in den Mund nehmen, lobhudeln sie ihr eigenes System, ungeachtet aller schlimmen Folgen, wie sie gerade die identitäre Bewegung auslöst. Nicht alles ist universalistisch, was sich so nennt. Im Gegenteil haben wir es heute im Weltmaßstab mit einem Krieg diverser "Universalismen" zu tun. Der Universalismus des Westens sei ausschließlich imperialistisch, so Badiou.

Auf eine Frage aus dem Publikums unter Verweis auf die Neurowissenschaft, ob das Kernproblem nicht sehr viel weiter als auf das Neolithikum zurückgehe und im Grunde beim Homo Sapiens angesiedelt sei, antwortete Badiou, da könne etwas dran sein; vielleicht werde die Überwindung des Neolithikums den neuen Menschen schaffen.

Eine letzte Frage griff Marx' Vorstellung der Produzentendemokratie auf: Könne die Digitaltechnologie vielleicht dabei helfen, sie zu realisieren? Badious knappe Antwortet lautete nein, stehe der Kapitalismus doch auch dem Einsatz der Digitalisierung zur Beglückung der Menschheit diametral im Weg. Heute existieren zwei Milliarden Menschen, die ohne Boden, ohne Beschäftigung und ohne Einkommen zu überleben versuchen. Zugleich sorgt der Kapitalismus für Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden täglich in China. Man könnte die anstehende Arbeit auf alle erwachsenen Erdenbewohner verteilen, was auf vielleicht 20 Wochenstunden für jeden Menschen hinausliefe. Alle hätten ein Einkommen, eine Beschäftigung und viel Freizeit. Warum wird das nicht getan? Weil der Kapitalismus vom Mehrwert lebt. Die Kapitalisten brauchen Arbeitszeiten, die Mehrwert und damit Gewinne erzeugen. Stünde das Wohl der Menschen im Vordergrund, müßte die Unterbeschäftigung zur Arbeitsverteilung führen. Eine Reduzierung der Arbeitszeit sei jedoch mit dem Kapitalismus unvereinbar. Die Welt lebt und konsumiert, weil die Chinesen zwölf Stunden am Tag arbeiten, so Badiou. Die Verringerung der Arbeitszeit sei ein grundlegendes Ziel - heute genauso wie damals bei Marx.

Damit schloß das "Passagengespräch" zwischen Alain Badiou und Peter Engelmann, das Anregung geben könnte, sich zugewandt und kritischen Geistes mit dem französischen Philosophen wie auch seinen Vorbildern und Weggefährten, mit denen ihn Freundschaft oder Streit verbindet, was einander ja nicht ausschließt, zu befassen. Denn während in Deutschland die Philosophie mitunter stillzustehen scheint, eilt den Franzosen seit Foucault, Deleuze, Lyotard und Derrida der Ruf innovativer Denkentwürfe voraus. Auch die Vertreter der folgenden Generation wie Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, Sylvain Lazarus und eben auch Alain Badiou erheben den Anspruch, eigenständige philosophische Modelle formuliert zu haben. Was davon zu gebrauchen oder zu verwerfen ist, zählt zu den zentralen Fragen kultureller und politischer Entwicklungen der Gegenwart, die maßgeblich von postmarxistischen, postmodernen und poststrukturalistischen Entwürfen und Diskussionen geprägt sind.

16. März 2018


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