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BERICHT/337: Europa - zwei Wirklichkeiten ... (SB)


Wie wir stets den Pangermanismus, den Panslavismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpfen, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen. Nicht die europäische Solidarität, sondern die internationale Solidarität, die sämtliche Weltteile, Rassen und Völker umfaßt, ist der Grundpfeiler des Sozialismus im Marxschen Sinne. Jede Teilsolidarität aber ist nicht eine Stufe zur Verwirklichung der echten Internationalität, sondern ihr Gegensatz, ihr Feind.
Rosa Luxemburg (Essay "Friedensutopien" aus dem Jahr 1911) [1]


Die Kontroverse unter Linken, wie mit dem Projekt eines Zusammenschlusses europäischer Staaten umzugehen sei, hat eine lange Tradition. Rosa Luxemburgs eingangs zitierte Aussage läßt in ihrer klaren und entschiedenen Positionierung nichts zu wünschen übrig. Lenin hat eine kleine Schrift über die Parole der Vereinigten Staaten von Europa verfaßt, diverse weitere Autoren nahmen zu dieser Frage Stellung, die schon vor dem Ersten Weltkrieg intensiv diskutiert wurde. Die von Teilen der Linken gehegte Hoffnung, auf diesem Wege ließe sich die eskalierende Konkurrenz der imperialistischen Staaten einhegen und befrieden, wurde schon wenige Jahre später im Trommelfeuer der aufeinanderprallenden Mächte pulverisiert. Nach Luxemburgs Verständnis von Klassengesellschaft und internationaler Solidarität vermag nur der Sozialismus die Barbarei abzuwenden, weshalb sie eindringlich vor dem Rückfall in partikuläre Ansätze und rückschrittliche Ausweichmuster warnt.

So gerne Rosa Luxemburg heute von weiten Teilen der Linken zum Vorbild genommen wird, scheint doch ihre Absage an die paneuropäische Idee durch das Raster gefallen zu sein. Wo das Bekenntnis zu "Europa" per se als fortschrittlich ausgewiesen, die Kritik aber mit Nationalismus gleichgesetzt und den Rechten überlassen wird, zeugt dies von einem regressiven Diskussionsstand, der noch hinter das zurückfällt, was am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf der Höhe eines linken Diskurses war. Wie konnte es dazu kommen, die Europäische Union, ein Projekt der führenden Nationalstaaten und ihrer Kapitalfraktionen, als potentiell emanzipatorisches Entwicklungsmodell zu mißdeuten? Sich angesichts ihres drohenden Zerfalls um so mehr an diese Verkennung zu klammern, wird weder dazu beitragen, die multiple Krise zu entschärfen, noch Ansätze wirksamer Gegenstrategien zu entwickeln.


Die EU - Status quo, Zukunft, Alternativen

Am 21. März 2019 ludt Attac Hamburg zu einem Vortrag im Veranstaltungsraum Klub bei "Arbeit und Leben" im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof ein. Unter Moderation von Marie-Dominique Vernes referierte Peter Wahl zum Thema: "Vor den Wahlen zum EU-Parlament: Wo steht die EU? Was sind ihre Zukunftsaussichten? Welche emanzipatorischen Alternativen gibt es?" Der Romanist und Gesellschaftswissenschaftler gehört zu den Mitbegründern von Attac Deutschland, das bald sein 20jähriges Jubiläum feiern kann. Er ist seit langem für WEED (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung) tätig und gehört dem wissenschaftlichen Beirat von Attac an.

Wie der Referent darlegte, werde er sich auf einige wesentliche Komplexe konzentrieren. Eine notwendige Begriffsklärung vorangestellt, folge ein Kapitel zum europapolitischen Stand der Dinge. Daran anschließend ein Blick auf zwei Fallbeispiele, den Brexit und die Vorschläge des französischen Präsidenten Macron. Dann werde er die Pseudolösungen unter die Lupe nehmen, die von offizieller Seite der EU vorgenommen werden, und am Schluß auf die linken Kontroversen eingehen, die derzeit in einer Debatte darüber ausgetragen werden, ob man die große Demonstration am 19. Mai unterstützen soll oder nicht. In dieser Debatte kämen zwangsläufig viele Aspekte der europapolitischen Diskussion zur Sprache. Aus dieser inhaltlichen Herangehensweise Wahls resultierte eine klar strukturierte und pointierte Präsentation der Thematik, die zudem viel Raum für eine angeregte Diskussion ließ.


Veranstaltungsankündigung auf Projektionsfläche - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Die EU ist nicht Europa und ein Phänomen sui generis

Die EU ist nicht Europa, nahm der Referent vorab eine notwendige Unterscheidung vor. Europa ist inklusive Kosovos ein Kontinent mit 50 Ländern, 720 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von 20 Billionen US-Dollar. Institutionell ist es im Europarat, im Menschenrechtsgerichtshof und in der OSZE vertreten. Die EU ist etwas anderes. Sie umfaßt 27 Länder, 446 Millionen Einwohner (die Briten mit rund 65 Millionen bereits herausgerechnet), sie hat ihre eigenen Institutionen und das BIP ist mit 14,6 Billionen US-Dollar sehr groß, was zeigt, daß die EU wirtschaftlich eine bedeutende Kraft ist. Es gilt also jeweils zu klären, ob man über Europa oder die EU spricht. Theresa May hat es vor einiger Zeit auf den Punkt gebracht: "We have left the EU, but not Europe."

Ein zweite wichtige Vorbemerkung bezieht sich auf den Charakter der EU unter staatstheoretischen Gesichtspunkten. Spricht man von der EU, als sei sie ein Staat wie die USA, China oder Rußland, liegt dem ein Irrtum zugrunde. Sie ist nicht mit Nationalstaaten vergleichbar, sondern etwas Einzigartiges, das es in dieser Form nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Die EU ist ein Phänomen sui generis, das man nur aus sich heraus erklären kann. Als eine Allianz von Nationalstaaten gleicht sie regionalen Zusammenschlüssen wie jenen in Lateinamerika, der OAU in Afrika oder der Arabischen Liga. Besonders an der EU ist jedoch die Kombination mit supranationalen Komponenten wie dem Binnenmarkt und bestimmten Politikfeldern wie der Agrarpolitik und der Handelspolitik, die von Brüssel aus gehandhabt werden. Diese hybride Gestalt hat natürlich Konsequenzen. Langfristig gedacht soll die EU zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa werden, also einer europäischen Republik. Was wir jetzt haben, könnte man staatstheoretisch als Protostaat bezeichnen, so Wahl.

Dieses Gebilde hat eine sehr viel geringere Kohäsion als ein Nationalstaat und kann daher leichter erodieren. Es gibt auch kein europäisches Volk im Sinne eines Staatsvolkes und keine entsprechende Öffentlichkeit. Die Deutschen reden über viele Formen der Alltagskommunikation und ihre Medien miteinander, aber kaum noch mit den Franzosen und mit anderen noch weniger. Es fehlt eine EU- oder europäische Identität wie sie innerhalb der Nationalstaaten vorhanden ist. Wie Gauck klagte, fehle Europa die große identitätsstiftende Erzählung, die über 500 Millionen Menschen in ihrer Geschichte vereint, ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Es gibt zwar Überlegungen, diese Erzählung zu fabrizieren, aber das läßt sich nicht von oben und am grünen Tisch bewerkstelligen. Heiko Maas versuchte es in einer Grundsatzrede zur Außenpolitik, als er erklärte, unsere Werte könnten den Kern eines neuen europäischen Patriotismus bilden. Indessen belegen all diese Aspekte, daß die EU nicht mit Nationalstaaten vergleichbar ist.


Brisante Zusammenballung von Krisen

Die gegenwärtigen Lage der EU läßt sich als Momentaufnahme in einem Prozeß beschreiben, dessen Verlauf und Richtung es zu prüfen gilt. Das große Thema ist dieser Tage der Brexit. Weniger sichtbar, doch sehr bedeutend ist die Herausbildung machtpolitischer Subzentren, deren bekanntestes die Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn) ist, die gemeinsame Politiken diskutiert. Die sogenannte Dreimeeresinitiative mit der Visegrad-Gruppe, den baltischen Staaten und Balkanländern will eine Infrastruktur aus Öl- und Gaspipelines wie auch Straßen von der Ostsee bis zum Mittelmeer und zum Schwarzen Meer ausbauen. Eine dritte, informelle Gruppe nennt sich Hanseatic League (Niederlande, Belgien, Luxemburg, Schweden, Dänemark, Irland, baltische Staaten, Österreich und Malta), die vor etwa einem Jahr gegründet wurde und spektakulär in Erscheinung trat, als sie Macrons Vorschläge ablehnte. Es handelt sich um die neoliberalen Ultras in der EU, die sich gegen Transferunion und supranationale Vertiefung der Integration stemmen. Und schließlich ist die deutsch-französische Achse zu nennen, ohne die in der EU kaum etwas läuft.

Dann ging der Referent auf verschiedene Krisen ein, die wie die Kontroverse um die Migration die EU erschüttern. Es kommt zu Konflikten mit den östlichen Mitgliedsländern über Fragen der Demokratie, auch in Spanien gibt es Demokratiedefizite. Die Eurokrise schwelt weiter wie ein Vulkan, in dem die Lava nach wie vor kocht. Es herrscht in den Wirtschaftswissenschaften gleich welcher Schule der Konsens, daß der Euro eine Fehlkonstruktion ist und auf Dauer nicht funktionieren kann. Als Ausfluß der Schuldenkrise verzeichnen die mediterranen Ländern dramatische Entwicklungen, in Italien, Spanien, Portugal, aber auch Frankreich und Schweden steigen die Staatsschulden. Hinzu kommen seit dem Regierungswechsel in Rom der Konflikt mit Italien wie auch separatistische Bewegungen in Katalonien, Schottland und Flandern, und Krisenherde außerhalb der EU wie die Ukraine, in die die EU durch den Assoziierungsvertrag unmittelbar verwickelt ist. Nicht zuletzt droht in fast allen Mitgliedsländern politische Instabilität in Gestalt des Aufstiegs rechtsextremer Parteien und des Niedergangs der Sozialdemokratie wie auch der Krise der Konservativen. Nach außen hin sind der Kalte Krieg 2.0 mit Rußland und die beginnende Systemkonkurrenz mit China zu nennen, überdies die Brüche in den transatlantischen Beziehungen mit der US-Regierung, und das alles in einer Welt im Umbruch, in der sich die alten Strukturen und Machtbeziehungen gravierend verändern.

Diese brisante Zusammenballung von Krisen führt zur Destabilisierung der EU, vertieft die Spaltungstendenzen, erzeugt eine wachsende Handlungsunfähigkeit und verstärkt die Zentrifugalkräfte. Die Legitimationsbasis erodiert zusehends, was in Deutschland weniger sichtbar, doch um so deutlicher in Italien und vielen anderen Ländern ist. Es gibt tiefgreifende Differenzen im Lager der herrschenden Kräfte, wie man mit diesen Problemen umgeht. Sie haben keine Lösung gefunden und stehen vor einer Situation zunehmenden Kontrollverlusts. Die EU ist überfordert, sie verfügt nicht über die Strukturen, Ressourcen und das Instrumentarium, die komplexen und tiefen Krisen zu lösen. So wurde die Finanzkrise 2008 mehr schlecht als recht durch die Nationalstaaten bewältigt, die jeweils ihre eigenen Banken gerettet und ein Konjunkturprogramm aufgelegt haben, während die EU oder der IWF völlig marginalisiert waren. Nur der Nationalstaat verfügt über die juristischen, politischen und finanziellen Instrumente, um diese Krise nicht völlig außer Kontrolle geraten zu lassen. Die schleichende Erosion der EU setzt sich fort. "Lassen Sie uns eine ganz ehrliche Diagnose stellen. Die Europäische Union befindet sich zumindest teilweise in einer existentiellen Krise", so Jean-Claude Juncker. "Wir müssen heute zugeben, daß der Traum von einem gemeinsamen europäischen Staat mit einem gemeinsamen Interesse, mit einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung, einer gemeinsamen Nation eine Illusion war", räumte Ratspräsident Tusk ein.


Der Brexit und die Vorschläge Macrons

Im nächsten Schritt verdeutlichte der Referent an zwei Beispielen, wie ernst die Lage ist. Beim Brexit verläßt mit dem Vereinigten Königreich die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU das Bündnis. Die 18 schwächsten Mitgliedsländer sind zusammen ökonomisch nicht so stark wie Großbritannien, dessen BIP 2,3 Billionen Euro beträgt. Hinzu kommen eine Bevölkerung von 66 Millionen und der bedeutsame Umstand, daß UK eine Nuklearmacht und ständiges Mitglied des Sicherheitsrats ist. Der gravierende Einschnitt des Austritts reduziert das Gewicht der EU im internationalen Raum deutlich. Zudem führt der Brexit zu relevanten Verschiebungen in der internen Machtarchitektur. Das relative Gewicht Deutschlands steigt, da die zweitgrößte Volkswirtschaft wegfällt. Durch den Austritt der Briten gehen jedoch die Sperrminoritäten bei qualifizierten Mehrheiten verloren. Zur Zeit Schröders wurden die Stimmenverhältnisse verändert und qualifizierte Mehrheiten eingeführt. Dadurch kann eine Ländergruppe, die 60 Prozent der EU-Bevölkerung und Dreiviertel der Stimmen im Rat repräsentiert, Entscheidungen gegen den Willen der übrigen Länder treffen. Die Deutschen hatten mit den Briten oder den Franzosen zusammen jeweils die Sperrminorität, was bei einem Austritt der Briten verlorengeht. Das wird dazu führen, daß Entscheidungsprozesse in der EU noch komplizierter werden. Politisch schwächt der Brexit das neoliberale Lager und wertet die Achse Deutschland-Frankreich auf.

Macron machte bei seiner Rede in Athen im August 2017, der Rede in der Sorbonne und zuletzt in seinem Brief an die Europäer eine Reihe von Vorschlägen zur Stabilisierung des Euro. Er wünscht sich einen EU-Finanzminister, der das Budget bestimmen kann. Es soll ein gesondertes Budget für die Eurozone von mehreren Prozent des BIP eingeführt werden, während es bislang 1 Prozent beträgt. Und die Eurozone soll ein eigenes Parlament bekommen. Was ist daraus geworden? Finanzminister nein, weil die Deutschen und die Hanseatic League dagegen sind. Akzeptiert wurde, daß im normalen EU-Haushalt ein Sonderposten nur für die Eurozone eingerichtet wird, allerdings, so Merkel, im niedrigen zweistelligen Milliardenbereich. Auf die Legislatur von fünf Jahren verteilt ist das sehr wenig und zudem an Austeritätsreformen gekoppelt. Im Rahmen der ewig unvollendeten Bankenunion wird die Übernahme der Haftung bei Bankenpleiten befürwortet, allerdings auch erst nach einer Reform. Der Stabilitätspakt ESM ist zur Dauereinrichtung geworden. Das ist von den Vorschlägen Macrons übriggeblieben, von einem eigenen Parlament der Eurozone spricht niemand mehr, so der Referent.


Beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Peter Wahl
Foto: © 2019 by Schattenblick


Militarisierung ganz oben auf der Agenda

Wie ist es dazu gekommen? Einige erklären, Kohl sei ein überzeugter Europäer gewesen, während Merkel als Ossi das nicht in den Genen habe. Andere meinen, die Deutschen seien egoistisch und nationalistisch. Entscheidend für die deutsch-französischen Widersprüche ist jedoch eine Inkompatibilität zwischen dem deutschen und dem französischen Akkumulationsmodell. Deutschland ist seit dem Zweiten Weltkrieg eine exportgetriebene Starkwährungsökonomie, die im Gegensatz zu allen anderen großen Industrieländern immer noch einen Anteil der Industrie an der Wertschöpfung von fast 25 Prozent aufweist. Frankreich ist hingegen schon lange eine Schwachwährungsökonomie, viel stärker binnenmarktorientiert, und der industrielle Anteil an der Wertschöpfung beträgt nur 12 Prozent. Diese strukturellen Ungleichgewichte zwischen den beiden Ländern haben enorme Konsequenzen. Unter den Bedingungen einer gemeinsamen Währung heißt das, daß Frankreich nicht abwerten kann. Ein Kurswechsel in diesen Ungleichgewichten wäre nur mit einer schmerzhaften und lang andauernden Strukturanpassung der einen oder anderen Seite möglich. Macron versucht das, indem er Reformen vom Typus Hartz IV in Angriff genommen hat, doch ist zweifelhaft, daß er das durchhält. Die Proteste der Gilet Jaunes zeigen, daß er seine innenpolitische Agenda nicht ungehindert durchsetzen kann. In Deutschland umfaßt das Standortbündnis bis in die Exportgewerkschaften wie IG Chemie und IG Metall hinein ein breites Spektrum, das dieses Exportmodell keinesfalls aufgeben will. Das deutsche BIP ist ein Drittel größer als das französische, und noch deutlicher sieht man das an der Handelsbilanz. Frankreich hat seit 2010 ein Defizit, während Deutschland ständig steigende Überschüsse aufweist. Die deutsch-französische Achse als wichtiges Subzentrum der EU läuft aufgrund der tiefgreifenden strukturellen Widersprüche zwischen dem deutschen und dem französischen Kapitalismus nicht rund. Das Verhältnis zwischen Kooperation und Konkurrenz verschiebt sich hin zur Konkurrenz.

Wie geht die EU mit dieser komplizierten Situation um? Es fehlt an einer politischen Führung, die den Karren zieht, so Weber, ein aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge Junckers. Jetzt müßten konkrete Schritte folgen, wobei er als großes europäisches Projekt für die kommenden fünf Jahre eine verstärkte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sieht. Das Thema Militarisierung der EU rückt an die Spitze der Tagesordnung, die Wagenburgmentalität ist eine direkte Konsequenz des inneren Drucks. Der Versuch, die EU als Weltmacht zu etablieren, wird zum Schwerpunkt erklärt. Artikel 42 des Lissabon-Vertrages erklärt die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einem integralen Bestandteil der EU, deren Mitglieder sich verpflichten, ihre Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Zudem können sich einzelne Länder zu militärischen Operationen oder Rüstungsprojekten zusammentun, ohne einen Konsens mit den übrigen Mitgliedsstaaten herbeiführen zu müssen.


Dominanz der USA und die osteuropäischen Länder

Die westeuropäische Integration als ziviler Arm der NATO war ein Projekt der USA, und das Verhältnis zu Washington ist eine Grundfrage der Entwicklung in Europa. Die USA verfolgen das Ziel, aufstrebende Konkurrenten niederzuhalten, am deutlichsten spürt das im Augenblick Rußland, gegen das Sanktionen verhängt werden, zumal es das einzige Land weltweit ist, das im Falle eines großen Krieges die USA in Schutt und Asche legen kann. Zudem soll der Aufstieg Chinas zu einer vergleichbaren Supermacht verhindert werden. Im Kontext dieser Strategie ist die EU ein Partner, aber in zunehmendem Maße auch ein Konkurrent, da ihre Handelspolitik supranational organisiert und diesbezüglich stärker als die der USA ist. So werden die Deutschen wegen ihrer Handelsüberschüsse seit langem von Washington kritisiert. Militärisch ist die EU auf den Atomschirm der USA angewiesen, was allerdings nur dann bedeutsam ist, solange sie tatsächlich atomar bedroht wird. Ein unabhängiger Block der EU im Sinne Macrons strategischer Autonomie wird jedoch schon deswegen nicht dabei herauskommen, weil dies die osteuropäischen Mitglieder ablehnen, die den USA in diesen Fragen viel näher stehen als den Deutschen.

Die osteuropäischen Länder hatten die Vorstellung, nach ihrem EU-Beitritt binnen weniger Jahre den westeuropäischen Lebensstandard zu erreichen. Das ist nicht eingetreten. Ganz im Gegenteil verlieren Länder wie Polen, Lettland, Litauen oder stärker noch Bulgarien durch Migration dramatisch an Bevölkerung. Im Verhältnis eines peripheren zu einem metropolitanen Kapitalismus fallen sie zurück. Dies hat dazu geführt, daß in weiten Teilen der Bevölkerung die Befürwortung der Integration in die EU stark zurückgegangen ist. Die Menschen wollen Ergebnisse auf ihrem Konto, in ihrem Lebensstandard sehen. Selbst zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands liegt immer noch eine beträchtliche Kluft, obgleich die sprachlichen, kulturellen und mentalen Unterschiede viel geringer als jene zwischen Deutschen und Polen sind. Natürlich spielen bei den osteuropäischen Ländern auch historische Erfahrungen eine Rolle. Sie hatten als Nationalstaat in den letzten 200 Jahren allenfalls in einer kurzen Periode nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der k. u. k. Monarchie eine kurze Phase der Eigenständigkeit. Aus diesem Grund ist die Sehnsucht nach einer nationalen Identität viel ausgeprägter als im Westen. Zudem führen vor allem die Eliten dieser Länder an, daß sie Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus haben und deswegen ausgeprägte antirussische Bollwerke brauchen.


Eine europäische Friedensordnung?

Die historischen Wurzeln eines europäischen Friedens reichen bis zu Ludwig XIV. zurück. In Mode kam die Rede von Europa mit einer Schrift von Novalis, dem führenden Repräsentanten der deutschen Romantik, im Jahr 1799. Unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege verband er den Wunsch nach einer Friedensordnung mit dem reaktionären Element einer Rückkehr zum katholischen Europa der Christenheit vor der Reformation. Die positive Idee des Friedens, amalgamiert mit einer rückwärtsgewandten Utopie, fiel hinter die emanzipatorische Entwicklung dieser Zeit, nämlich die französische Revolution, zurück. 1849 hielt Victor Hugo auf einem Kongreß in Paris eine Rede zum Frieden, in der er sinngemäß sagte: Es wird der Tag kommen, da werdet ihr Frankreich, ihr England, ihr Spanien, ihr Rußland euch zusammentun und so etwas wie ein gemeinsames Volk bilden und nie wieder Krieg gegeneinander führen.

Die Integration Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg beendete die vor 1945 von krassen Feindbildern geprägte Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen. Dabei wirkten verschiedene Komponenten wie die dramatische deutsche Niederlage zusammen, nicht zuletzt aber Gesten wie die Reise Charles de Gaulles 1956 durch die Bundesrepublik. Wenngleich dieser Versöhnungsgeschichte geopolitischen Interessen zugrunde lagen, war sie doch dank konkreter Instrumente wie Partnerschaften und Schüleraustausch erfolgreich. Hingegen ist die EU keine Friedensordnung in Europa, sondern Teil des Problems, wenn es zu Spannungen und Konflikte kommt. Erstrebenswert wäre hingegen eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok, Kooperation statt Konfrontation. Da die EU dem widerspricht, ist sie zeit ihrer Existenz nie ein emanzipatorisches Projekt gewesen.


Vortragender mit Power Point Projektion - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Kontroverse Strategien der Linken

Peter Wahl machte die unterschiedlichen Strategien der Linken hinsichtlich der EU an drei Publikationen fest. Attac Österreich gab 2017 das Buch "Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist" heraus. Attac Frankreich legte das aktuell erschienene Buch "Ein Europa das krank ist vom Neoliberalismus. Die dringende Notwendigkeit zu Ungehorsam" vor. Im April erscheint im VSA Verlag ein Buch im Gefolge des Kasseler Europakongresses, den Attac Deutschland im Oktober 2018 veranstaltet hat. "Ein anderes Europa ist möglich. Demokratisch, friedlich, ökologisch, feministisch, solidarisch" bildet in zahlreichen Beiträgen die Kontroversen ab.

Attac Österreich hat als Schlüsselbegriff den des strategischen Ungehorsams gewählt. Gleich ob als soziale Bewegung, Zivilgesellschaft oder an der Regierung solle man bestimmten Dingen nicht mehr folgen, die von Brüssel supranational vorgegeben werden. Wenngleich noch etwas vage bleibe, wie das konkret aussehen soll, sei es doch ein neuartiger und interessanter Ansatz für Linke in der EU, so der Referent. Etwas deutlicher formuliert ist der Ansatz von Attac Frankreich, in dem ausdrücklich das Wort "Bruch mit den Verträgen" auftaucht. In Frankreich erreichte La France insoumise bei den Präsidentschaftswahlen eine recht aussichtsreiche Situation, so daß eine Regierungsübernahme zumindest keine völlige Utopie ist. Sollte es dazu kommen, soll die linke Regierung Verhandlungen mit den Partnern aufnehmen, um die Austeritätspolitik und den Stabilitätspakt mit der Schuldenobergrenze zu beenden. Damit die Deutschen das widerwillig schlucken, drohe man ihnen mit einem Austritt aus dem Euro. Es handelt sich also um eine machtpolitische Strategie. Hingegen vertritt Attac Deutschland dieselbe Parole wie seit 30 Jahren: Mehr Europa, aber anders. Man ist grundsätzlich für die Vertiefung der Integration, möchte sie aber anders gestalten und hängt stets am Ende der Publikationen einen Katalog von Forderungen an, ohne vorschlagen zu können, wie diese durchzusetzen seien. SPD und Grüne würden auf keinen Fall eine solche Strategie mitmachen, selbst in der Linkspartei sehe er das skeptisch, räumt Wahl ein, der ungeachtet inhaltlicher Kontroversen in allen drei Publikationen mit eigenen Beiträgen vertreten ist.

Woher rühren die Differenzen innerhalb der Linken? Im Zentrum ihres europäistischen Narrativs steht: Wir leben in einer postnationalen Konstellation (Habermas 1996). Hardt und Negri (2000) sprechen davon, daß die Welt ein Empire geworden sei, in dem es kein Außen mehr gibt. Wir leben in der einen Welt, hört man in der evangelischen Frauenarbeit genauso wie beim IWF. John Lennon singt "Imagine there's no countries, it isn't hard to do". "Ich möchte nicht zurück zum Nationalstaat", heißt es auf jeder europapolitischen Podiumsdiskussion. Diese Position wird aber auch von links kritisiert, als Verwechslung von Wunsch und Wirklichkeit, aber auch als unzulässige Ineinssetzung von Nationalstaat und Nationalismus. Der Nationalstaat ist eine materielle Realität, während der Nationalismus eine Ideologie sei, die zwar zur materiellen Gewalt werden kann, aber zunächst einmal das Eigene für besser als das der andern hält. Kritisch eingewendet wird auch, daß der Nationalstaat die global dominante Form von Vergesellschaftung ist. Die allermeisten Menschen auf der Welt sind in einem Nationalstaat organisiert, ob ihnen das paßt oder nicht, und einige, die es nicht sind, sehnen sich danach wie die Palästinenser, die Schotten oder die Katalanen. Der Nationalstaat ist ambivalent, was häufig ausgeblendet wird. Demokratie, wie wir sie kennen, existiert bislang nur im kapitalistischen Nationalstaat. Das gleiche gilt für den Sozialstaat, der bislang nur innerhalb des Nationalstaats existiert. Zudem sind bedrohte Nationen der Auffassung, daß nur der Staat Sicherheit gewährleistet. Andererseits hat der Nationalstaat strukturell eine Tendenz zur Abgrenzung nach außen und zum Konformitätsdruck nach innen. Jedenfalls ist er nach wie vor der entscheidende Handlungsraum für Politik, allerdings in einem Mehrebenensystem, so der Referent.

Ein bedenkenswertes Argument im europäistischen Narrativ sind die Konsequenzen der Globalisierung für den Nationalstaat. Transnationale Finanzmärkte und Konzerne operieren weltweit, viele Staaten sind ihnen wehrlos ausgeliefert. Für Attac als globalisierungskritische Bewegung gilt, daß der Begriff "Globalisierung" heute präziser gefaßt werden muß, als das vor 20 Jahren der Fall war. Damals sprach man von Globalisierung, aber nicht von Kapitalismus. Das war eine Diskursstrategie, weil im Jahr 2000 die Auffassung weithin vorherrschte, die Globalisierung hebe alle Boote nach oben, die kleinen wie die großen. Attac wollte damals mehrheitlich nicht von Kapitalismus reden, um nicht ausgegrenzt zu werden. Wahl und manche anderen Mitstreiter waren schon damals der Meinung, daß es sich um eine Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus handelt, einen machtförmigen und asymmetrischen Prozeß der Transnationalisierung unter der Hegemonie transnationaler Konzerne und internationaler Finanzakteure, eingebettet in die herrschende Weltordnung. Die Basis blieb jedoch stets der Nationalstaat, nämlich primär die einzige Supermacht USA, die mit ihrer Dollarhegemonie und ihrem Militärapparat diese Ordnung garantierte. Sie hatte einige Juniorpartner wie Japan, Deutschland oder Großbritannien, während von den 190 Staaten die 180 anderen Objekt statt Subjekt dieses Prozesses waren.

Das gilt auch heute für die globalen Wertschöpfungsketten, deren Profite und Know-how in bestimmten Nationalstaaten bleiben. Wenn Apple in Ostasien Computer baut, fallen die Profite in den USA an, wo auch die Patente verbleiben. Ebenso läuft das mit Volkswagen in der Slowakei und vielen anderen Akteuren. Schon der transatlantische Sklavenhandel war international organisiert, wenn mit Glasperlen aus Liverpool in Westafrika Sklaven gekauft und in die Karibik und die USA geschafft wurden, worauf Gewürze, Baumwolle und vieles mehr nach Liverpool geliefert wurden. Die avanciertesten Sektoren des Kapitalismus in Gestalt der digitale Industrie werden von den Big Five dominiert, die alle aus Kalifornien kommen. Wo Huawei anfängt, das zu relativieren, ist auch dies nationalstaatlich verankert. Erforderlich ist also eine Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus auf der Höhe der Zeit, mahnt der Referent an.


Europapolitische Handlungsoptionen

Eine sozialstaatliche, ökologische, linkskeynesianische Integration, wie sie von Teilen der Linken angedacht und angemahnt wird, dürfte höchst unwahrscheinlich sein, zumal die tiefgreifende Umwälzung der Produktivkräfte im Zuge der digitalen Innovation dazu führt, daß die Karten unter den großen Kapitalgruppen neu gemischt werden. Würde die deutsche Automobilindustrie an der technologischen Entwicklung scheitern und abstürzen, wären die Folgen katastrophal. In diesen Umbruchzeiten wächst die Konkurrenz an. Der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag sieht zwar gemeinsame Forschung im digitalen Bereich vor, doch wäre es mit der Freundschaft vorbei, sobald einer Seite ein technologischer Durchbruch gelänge. Wahrscheinlicher als eine Integration sind verstärkte Clusterbildungen an bestimmten Projekten und Zusammenarbeit in Subzentren, aber nicht mit den anderen Mitgliedern, so daß sich immer neue Spaltungslinien auftun.

Ein Austritt aus der Eurozone wäre im Falle Griechenlands wahrscheinlich aufgrund der Kräfteverhältnisse nicht gut gegangen. Es hätte schon eines anderen Bündnisses bedurft, um die kleine Volkswirtschaft aufzufangen. Tsipras versuchte das offenbar in Moskau, doch Putin war dafür nicht zu gewinnen, weil es ein Blockwechsel und damit eine geopolitische Verwerfung gewesen wäre. Würden sich hingegen die Franzosen für einen Austritt entscheiden, könnte es funktionieren. Wie man nun am Beispiel des Brexit verfolgen kann, macht die EU den Briten einen Austritt so schwer wie möglich. Er wolle einen Austritt nicht verteufeln, halte ihn aber nicht für unbedingt notwendig, so der Referent.

Was folgt daraus? Als Handlungsmöglichkeiten sind Abwehrkämpfe gegen konkrete Projekte zu nennen wie die Kampagne gegen TTIP, gegen Wasserprivatisierung oder jüngst das Urheberrecht. Darüber hinaus stellt sich der Linken grundsätzlich die Aufgabe, eine eigenständige europapolitische Position zu entwickeln, die massenfähig ist. Bislang ist kein für die Öffentlichkeit wahrnehmbarer Unterschied zwischen Gysi, Nahles oder Habeck zu erkennen, und die EU trotz aller Härten zu verteidigen, kommt zwangsläufig nicht gut an. Das beschert der AfD mit ihrer scharfen EU-Kritik Zulauf.

Ehrlicherweise müsse man einräumen, daß keiner der in den drei Büchern entworfenen Ansätze ein realistisches Interventionspotential hat, so der Referent. Die Strategie des "Mehr Europa, aber anders", welche die politische Union und die Vereinigten Staaten von Europa als Fernziel hat, ist im Grunde die Weiter-so-Strategie, die seit 30 Jahren nicht funktioniert. Als Linke manövriert man damit im Windschatten von Sozialdemokratie und Grünen, ohne ein eigenständiges Profil zu entwickeln. Die Strategie von rechts, nur den Nationalstaat zu sehen, hausiert mit einer Illusion. Könnte die AfD die Bundesregierung stellen, würde sie sich selbstverständlich dafür einsetzen, daß VW, BMW oder BASF international weiter mitkonkurrieren können.

Um Einfluß auf die diskursiven Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft zu nehmen, schlägt Wahl demgegenüber als eine dritte Position die flexible und differentielle Integration vor. Diese verabschiedet sich vom ehrgeizigen Ziel der Vereinigten Staaten von Europa und zielt statt dessen darauf ab, nach linken Gesichtspunkten bestimmte Formen der Integration zu unterstützen wie etwa bei der Energiewende oder bei Flüchtlingen, jedoch in anderen Bereichen wie etwa der Aufrüstung und Militarisierung zu desintegrieren, also die Integration zurückzufahren oder nicht mitzumachen, das Ganze kombiniert mit einer stärkeren Öffnung nach außen. Fritz Scharpf, ehemaliger Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts, hat angeregt, den vier Grundfreiheiten in der EU, also dem freien Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften, den Status des Primärrechts zu entziehen und sie rechtlich allen anderen Bereichen gleichzustellen. Dies könnte die neoliberale Integration zurückfahren, setzt aber die Bereitschaft voraus, den Bruch mit Verträgen ins Auge zu fassen. Ein disruptiver, konfrontativen Zerfall der EU birgt enorme Risiken bis hin zu Kriegen. Das Konzept der differentiellen Integration könnte dem vorbeugen.

Bei Rosa Luxemburg hieß es: Proletarier aller Länder vereinigt euch! Nicht Proletarier der Eurozone und schon gar nicht Proletarier, Banker und Bourgeois der Eurozone vereinigt euch. Eine positive Vision der EU, wie sie vielfach eingefordert wird, habe er folglich nicht zu bieten, so Wahl. Seine Zukunftsvorstellung sei die Überwindung des Kapitalismus zugunsten eines demokratischen Sozialismus. Er halte es für ein dramatisches Defizit der deutschen Linken, daß diese Ausrichtung durch eine europäische Integration ersetzt wird, also die territoriale Organisierung des Kapitalismus. In welcher Gestalt er auch immer auftritt, er bleibt in erster Linie Kapitalismus mit einer Klassengesellschaft.


Elektronische Werbetafel mit Anzeige zur EU-Wahl - Foto: © 2019 by Schattenblick

Draußen vor der Tür ...
Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnote:

[1] Leipziger Volkszeitung, Nr. 103 vom 6. Mai 1911 u. Nr. 104 vom 8. Mai 1911.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 2, S. 491-504.


27. März 2019


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