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BERICHT/005: Wie weiter in Afghanistan? - Expertengespräch in Berlin (SB)



Zur Bilanzierung des 8. Internationalen Literaturfestivals Berlin stellt man bei der Neuen Zürcher Zeitung (06.10.2008) fest, "in Ermangelung von massentauglichen Stars der internationalen Literaturszene" hätten dem Festival "jene prickelnden 'Events', bei denen es vor allem darauf ankommt, dabei gewesen zu sein", gefehlt. Allerdings wäre das Literaturfestival gerade durch die Abwesenheit des medialen Spektakels "ausgesprochen angenehm, spannend und vor allem konzentriert" gewesen, resümiert man in der NZZ anhand einiger Beispiele, unter denen man allerdings den Auftritt des kanadischen Autoren Gwynne Dyer in der Werkstatt der Kulturen am 25. September vermißt. An spannenden Ausführungen der geladenen Referenten und konzentrierter Aufmerksamkeit im Auditorium mangelte es bei dieser Veranstaltung keineswegs, obwohl der Ansturm des Publikums eher dürftig ausfiel.

In einer Zeit, in der es schwerfällt, für so elementare Probleme wie die Beteiligung Deutschlands an Kriegen in anderen Weltregionen einen nennenswerten Teil der Bevölkerung zu mobilisieren, um die Ablehnung dieser Politik auch auf der Straße kundzutun, in der politisches Engagement kaum mehr als Chance auf emanzipatorische Entwicklungen begriffen wird, sondern die Beschäftigung mit umstrittenen Fragen gesellschaftlicher Gestaltung zusehends auf die Domäne damit meist professionell befaßter Politiker, Publizisten, Wissenschaftler und NGO-Aktivisten beschränkt ist, braucht man sich nicht darüber zu wundern, daß der politische Anspruch der Literatur eher zahme Ergebnisse hervorbringt. Sich streitbar in aktuelle Debatten einzumischen, ist denn auch eher das Metier von Sachbuchautoren, deren Werke, ganz dem apolitischen Zeitgeist gemäß, desto weiter unten auf den Rängen der Verkaufslisten landen, je kontroverser und substantieller ihr Anliegen ist. Daß dies nicht für Autoren gilt, die mit nur scheinbar provokanten Thesen versuchen, das Rad der gesellschaftlichen Entwicklung vor den Aufbruch der 1968er-Generation zurückzudrehen, oder die mit neokonservativen Glaubensbekenntnissen die Restauration staatsautoritärer Verhältnisse betreiben, unterstreicht die randständige Position sozial- und gesellschaftskritischer Theoretiker.

Der kanadische Militärhistoriker Gwynne Dyer, der an diesem Abend auf einem vom Frankfurter Campus-Verlag ausgerichteten Podium auf den Politikwissenschaftler Markus Kaim und den Journalisten Jochen Thies traf, zählt nicht zur angloamerikanischen Linken. Der Autor des Buchs "Nach Irak und Afghanistan" verkörpert eher den Typus des pragmatischen Experten, der, durch eigene Erfahrungen in den Institutionen der Wissenschaft und des Militärs klug geworden, profunde Kritik an vorherrschenden politischen und geostrategischen Konzepten übt. Dyer, dessen Kolumnen in der englischsprachigen Welt und weiteren Ländern abgedruckt werden und der darüber hinaus Fernsehdokumentationen zu historischen Themen aus der spezifischen Sicht des Militärexperten produziert hat, schöpft seine Glaubwürdigkeit gerade daraus, daß er in seiner politischen Grundeinstellung nicht zu ideologischen Extrempositionen neigt. Aus der akademischen Welt der Kriegswissenschaft stammend - Dyer hat an der Royal Military Academy in Sandhurst, der Eliteschmiede des britischen Offizierskorps, an dem auch zahlreiche hochrangige Militärs und Regierungsmitglieder aus dem Dunstkreis des Empire ausgebildet wurden, gelehrt -, verfügt Dyer über spezifische Sachkenntnis, von der er mit der Unaufgeregtheit des passionierten Dissidenten und der Nonchalance des fremdsprachigen Außenseiters auf der Berliner Veranstaltung Zeugnis ablegte.

Thomas C. Schwoerer, Jochen Thies, Gwynne Dyer, Dolmetscher, Markus Kaim - © 2008 by Schattenblick
von links: Thomas C. Schwoerer, Jochen Thies, Gwynne Dyer, Dolmetscher, Markus Kaim
© 2008 by Schattenblick

Vom Verleger des Campus-Verlags, Thomas Carl Schwoerer, - dem, wie er auf Nachfrage des Schattenblicks bestätigte, die Verbreitung des jüngsten Buchs Dyers auch aus persönlichem Engagement als Friedensaktivist ein Anliegen ist - mit einführenden Worten vorgestellt, nahm der in London lebende Kanadier den Themenfaden auf. Unter Verweis auf seine langen Erfahrungen als Soldat wie Offiziersausbilder erinnerte er zunächst an die schmerzhaften Erfahrungen, die westliche Großmächte wie Frankreich in Algerien und die USA in Vietnam gemacht haben. Diese hätten zu dem Konsens geführt, daß reguläre Streitkräfte einen Guerillakrieg in Übersee nicht gewinnen können und das Problem des Terrorismus höchstens mit polizeilichen, niemals aber mit militärischen Mitteln zu lösen sei.

In einem Guerillakrieg müssen die fremden Streitkräfte aus Rücksicht auf die Stimmung der eigenen Bevölkerung Verluste vermeiden und versuchen, den Konflikt so schnell wie möglich zu beenden, während jedes Opfer auf Seite der Aufständischen den Widerstand der einheimischen Bevölkerung gegen die ausländische Besatzungsmacht weiter anwachsen läßt, so Dyer. Ihm zufolge werde dies den Offiziersanwärtern überall auf der Welt nach wie vor beigebracht. Daher stelle sich die Frage, weshalb die USA als führende Militärmacht seit sieben Jahren einen regelrechten "Krieg gegen den Terrorismus" führen.

Nach Meinung Dyers war es die Absicht Osama Bin Ladens, mit den Anschlägen des 11. September 2001 die Regierung Präsident George W. Bushs zu einem Einmarsch in Afghanistan zu provozieren, der wie der Krieg der Sowjetunion gegen die Mudschaheddin in den achtziger Jahren für die USA mit einer peinlichen Niederlage enden sollte. Darüber hinaus sollte der Krieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan die Menschen in der muslimischen Welt radikalisieren, um die eigenen, meist mit dem Westen verbündeten Regierungen stürzen zu können. Bin Laden, der selbst als junger Mann am Krieg gegen die Sowjets teilgenommen hatte, wußte, daß Zbigniew Brzezinski, der Nationale Sicherheitsberater Jimmy Carters, der Kreml-Führung in Afghanistan eine Falle gestellt hatte, um der Sowjetunion ihr eigenes Vietnam zu bescheren, und daß dieser Plan vollends aufgegangen ist, da diese Niederlage ihren Niedergang einleitete.

Dyer bescheinigt der US-Führung, in Afghanistan anfangs eine "intelligente", gar "elegante" Operation durchgeführt zu haben, indem sie die afghanische Nordallianz mit Waffen und Geld unterstützte und den Einsatz des eigenen Militärs auf Spezialstreitkräfte und Luftunterstützung beschränkte. Damit habe man sich jedoch auf eine Seite in einem Bürgerkrieg gestellt, der seit dem Wiedererstarken der Taliban im Jahre 2005 heftig tobte. Der Sturz der Taliban hätte die größte Bevölkerungsgruppe Afghanistans, die Paschtunen, von der Macht in Kabul ausgeschlossen.

Eine Beendigung des Krieges in Afghanistan sei jedoch ohne die Einbindung der Paschtunen und deren Führer bei den Taliban nicht zu erreichen. Weil der Krieg für die USA nicht zu gewinnen sei, würden diese in zwei bis drei Jahren ihre Truppen abziehen, woraufhin die Afghanen sich über kurz oder lang zu einer Friedensregelung durchringen müßten. Afghanistan werde sich zu keiner idealen Gesellschaft entwickeln, aber die gebe es auch heute nicht, so Dyer. Die Taliban stellten für niemanden außerhalb Afghanistans eine Bedrohung dar, folglich sollte ein Arrangement mit ihnen möglich sein. Dyer vermutet, daß Taliban-Chef Mullah Omar in die ehrgeizigen Pläne seines Schwagers Bin Laden in bezug auf den 11. September nicht eingeweiht war und deshalb heilfroh wäre, wenn er den Krieg in Afghanistan beenden könnte.

Was den Irak betrifft, so muß Dyer einräumen, daß die Invasion im Jahre 2003 aus Gründen erfolgt sei, die er bis heute nicht richtig verstanden oder durchschaut hat. Weder habe es dort Terroristen noch Massenvernichtungswaffen gegeben, noch sei vom "Regime" in Bagdad eine ernstzunehmende Bedrohung ausgegangen, da sich die irakischen Streitkräfte von der verheerenden Niederlage im Golfkrieg des Jahres 1991 nicht einmal annähernd erholt hätten. Fest steht für Dyer, daß der Guerillakrieg im Irak "unvermeidlich" war. Auf den Einmarsch einer westlichen Streitmacht in ein arabisch-muslimisches Land, dazu unter fadenscheinigen Gründen, sei keine andere Reaktion der Betroffenen zu erwarten gewesen, so der Militärhistoriker und Nahostexperte. Zumal viele Iraker, allen voran die Schiiten, die USA für ihre jahrelange Unterdrückung durch die Regierung Saddam Husseins, der einst als Verbündeter des Westens im Krieg gegen den Iran unter Ajatollah Khomeini galt, mitverantwortlich machten. Weil der Guerillakrieg im Irak für die Amerikaner ebensowenig zu gewinnen sei wie in Afghanistan, würden diese ihre Truppen in den nächsten ein bis drei Jahren von dort abziehen.

Gwynne Dyer - © 2008 by Schattenblick

Gwynne Dyer
© 2008 by Schattenblick

Dyer glaubt nicht, daß der Irak auseinanderbrechen wird. Er neigt eher zu der Ansicht, daß Schiiten, Sunniten und Kurden ihre divergierenden Interessen austarieren werden, um die Einheit des Landes zu bewahren und von seinem Ölreichtum zu profitieren. Die wirklich gefährlichen Konfliktherde lägen nach Meinung Dyers woanders. Die Unterdrückung der Menschen in den meisten arabischen Staaten und die Wut, die dort aufgrund der Kriege im Irak und Afghanistan entstanden wäre, hätten eine Radikalisierungswelle initiiert, die zum Sturz korrupter arabischer Regimes und zur Machtergreifung mehrheitlich islamistischer Kräften führen könnte.

Ein solches Szenario kann sich Dyer für Ägypten, Jordanien, Syrien und Saudi-Arabien vorstellen. Wenn es so komme, sei dies keine Katastrophe. Schlußendlich wolle der Westen von den Arabern in erster Linie Öl, während diese die Einnahmen aus dem Geschäft mit dem flüssigen Gold dringend brauchten, um die eigenen Bevölkerungen zu befrieden und zu ernähren. Daher sei kein ernsthaftes Ölembargo zu befürchten, selbst wenn die Moslem-Bruderschaft die Schalthebel der Macht in Amman, Damaskus, Kairo und Riad eroberte. Vor diesem Hintergrund sollten die westlichen Mächte ihre Militärpräsenz im Nahen Osten drastisch reduzieren, es den Arabern überlassen, ihre jeweiligen innenpolitischen Machtkämpfe, selbst wenn dabei Blut flösse, auszutragen und ihnen das Öl einfach abkaufen, so die Empfehlung Dyers.

Für Israel sieht die Lage nach Einschätzung des Nahostexperten nicht so rosig aus. Ein Frieden mit Syrien sei aussichtslos, weil ungewiß sei, wie lange sich die Baath-Regierung noch halten könne. Gleichzeitig könnten die Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien nach einem Regimewechsel in Kairo und Amman aufgekündigt werden. Eine derartige Entwicklung, gepaart mit dem Chaos, das in den palästinensischen Autonomie-Gebieten - Herrschaft der Fatah auf der Westbank und der Hamas im Gazastreifen - herrscht, könnte für Israel bedeuten, daß seiner Bevölkerung eine "weitere Generation militärischer Konfrontation und potentieller Kriege" bevorstünde. Für eine positive Änderung im Verhältnis zwischen Israel und seinen Nachbarn könnten nur die Betroffenen selbst sorgen, weshalb die westlichen Truppen die Region bald verlassen werden, so das Fazit Dyers.

Dessen Ausführungen versah der nun auftretende Journalist Jochen Thies mit einer pessimistischen Note, könne er die Aussicht auf einen baldigen Abzug der westlichen Streitkräfte aus Afghanistan und dem Irak doch nicht teilen. Der für das Deutschlandradio Kultur tätige Historiker war von den jüngsten Verwerfungen in der internationalen Politik sichtlich beunruhigt und zeigte sich hinsichtlich der "gigantischen Herausforderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik", die auf die Europäer nun zukämen, eher ratlos. Thies bemühte einen historischen Vergleich, den Einmarsch der Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland 1936, um deutlich zu machen, daß vermeintlich kleine Ereignisse wie eine Initialzündung wirken und große Folgen zeitigen können.

Jochen Thies - © 2008 by Schattenblick

Jochen Thies
© 2008 by Schattenblick

Das Beispiel einer möglichen Verhinderung des Zweiten Weltkriegs durch beherztes Eingreifen an dieser Stelle blieb mehr oder minder unverknüpft im Raum stehen, verlieh Thies doch vor allem seiner Beunruhigung über den Verlauf der Weltpolitik Ausdruck. Nicht nur die Situation in Afghanistan beurteilt der Journalist heute skeptischer als zuvor, insbesondere die Konfrontation zwischen Rußland und Georgien sowie die Finanzkrise sind ihm Anlaß, ein internationales Krisenszenario von immensem Eskalationspotential auszuleuchten. Für Thies besteht die naheliegende Schlußfolgerung im Zusammenrücken der Europäer unter Abwehr aller Versuche, innere Gegensätze für äußere Interessen zu instrumentalisieren.

Auf diesen dem Stand der Dinge durchaus angemessenen Zeitkommentar eines älteren Historikers, dem die Lehren der Geschichte noch aus eigener Anschauung lebhaft vor Augen stehen, folgte mit Markus Kaim ein versierter Politikwissenschaftler jüngeren Semesters, der die globale Entwicklung als Forschungsgruppenleiter für Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ganz aus der Sicht des professionellen Experten referierte. Wo Dyer mit der entwaffnenden Offenheit des grundsätzlichen Optimisten in der Sache klar Stellung bezogen hatte, verlegte sich Kaim auf das Abwägen kontroverser Standpunkte, um sich in der Summe als Anwalt der deutschen Regierungspolitik zu erkennen zu geben.

Zwar stimmt er mit Dyer in der Prognose überein, daß die deutsche ISAF-Mission in Afghanistan voraussichtlich bis 2012 beendet sein wird, bewertet dies jedoch im Gegensatz zu ihm eher negativ. Für Kaim ist die Option des "Staatsaufbaus nach einer Bürgerkriegssituation" vom vitalen Interesse westlicher Staaten an internationaler Ordnungspolitik getragen, die vor allem unter dem Problem unzureichender Koordination der dabei tätigen Akteure politischer, zivilgesellschaftlicher und militärischer Art leide. So moniert Kaim, daß der Erfolg der NATO in Afghanistan von vielen Faktoren abhänge, auf die die Militärallianz keinen Einfluß habe, womit er sich implizit für den Ausbau ihrer Handlungsgewalt ausspricht. Ein Scheitern in Afghanistan begünstige den transnationalen Terrorismus und schwäche die Möglichkeit zur Stabilisierung scheiternder Staaten, so daß all das, was man dort bereits an "rudimentären Elementen der Demokratie" und der Entwicklung "eines funktionierenden Staatswesens" erreicht habe, verloren gegeben werden müsse.

Markus Kaim - © 2008 by Schattenblick

Markus Kaim
© 2008 by Schattenblick

Kaim warnt vor dieser Entwicklung, weil damit "eigentlich das Schlimmste", was passieren könnte, einträte. Der Westen riskiere mit dem Rückzug aus Afghanistan, daß er als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten in der islamischen Welt "letztlich unglaubwürdig" werde, so das Fazit des Politikwissenschaftlers, der damit dem regierungsamtlichen Tenor zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zur ordnungspolitischen Aufgabe deutscher Außenpolitik entspricht. Auf der Hand liegende Widersprüche zwischen dem humanitären Anspruch des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan und der deutschen Realpolitik im Nahen Osten, wo die Bundesregierung die demokratische Entwicklung der Palästinenser boykottierte, weil diese mit der Wahl der Hamas eine in ihren Augen falsche Entscheidung getroffen hatten, wo sie die Bombardierung des Libanon zuließ, weil sie sich das Ziel Israels, die libanesische Hisbollah aus dem Südlibanon zu vertreiben, zueigen machte, erklären, wieso die Glaubwürdigkeit der Motivation westlicher Kriegseinsätze in der Region längst so korrumpiert ist, daß die nüchterne Analyse des Interessenprofils der Regierungen der EU und der USA als einziges dazu geeignet ist, relevante Handlungsanweisungen zu formulieren.

Dafür war nun wieder Gwynne Dyer zuständig, dem Schwoerer als Moderator der Runde die drei wichtigsten Einwände gegen den Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan vorlegte: Ohne die NATO entwickele sich Afghanistan zu einem Rückzugsgebiet für Terroristen und damit zur Bedrohung für den Westen; ohne die NATO seien die einfachen Afghanen den Taliban schutzlos ausgeliefert, so daß der bisherige Wiederaufbau umsonst gewesen wäre; ohne NATO-Präsenz in Afghanistan lasse sich Pakistan nicht stabilisieren.

Es bedurfte keiner großen Mühe, um diese vor allem von Kaim formulierten Einwände als wenig durchdacht zu widerlegen. Nach Meinung Dyers sind wirklich gefährliche Terroristen auf Trainingslager in Afghanistan, dessen Besuch die deutsche Bundesregierung zur Straftat erheben will, nicht angewiesen. Sein Verweis darauf, daß sich die vier mutmaßlichen Selbstmordattentäter, die für die Bombenanschläge von Juli 2005 auf das öffentliche Verkehrsnetz Londons verantwortlich gemacht werden, angeblich bei einem Abenteuer-Urlaub in Wales haben ausbilden lassen, rief einiges Gelächter im Publikum hervor. Schließlich gilt das malerische Fürstentum am westlichen Rande Europas nicht als "Terror"-Hotspot oder Hort der Gesetzlosigkeit. Laut Dyer wird es stets militärische Ausbildungslager nichtstaatlicher Organisationen irgendwo in der Dritten Welt geben, damit müsse man sich abfinden.

Die Zukunft der Zivilbevölkerung Afghanistans steht und fällt mit der Beantwortung der Frage, auf welcher Basis die verfeindeten Parteien, Nordallianz und Präsident Hamid Karzai auf der einen, die paschtunischen Taliban und ihre Verbündeten auf der anderen Seite, den Bürgerkrieg beenden werden. Der Kanadier verwahrt sich gegen die Vorstellung, ohne die NATO sei ganz Afghanistan den Taliban schutzlos ausgeliefert. Die Nordallianz habe ihre Gebiete bereits vor dem Sturz der Taliban erfolgreich verteidigen können, nach rund sieben Jahren Militärhilfe des Westens und Beteiligung an der Regierung in Kabul sei sie den Taliban praktisch ebenbürtig. Folglich laufe alles in Afghanistan auf einen großen Kompromiß hinaus, den die Menschen dort nach ihren Vorstellungen - vielleicht in Absprache mit den Regionalmächten Iran, Indien, Pakistan und Rußland, aber mit so wenig Einmischung seitens der NATO-Staaten wie möglich - aushandeln sollten.

Mit Blick auf die dramatische Situation in Pakistan widersprach Dyer der These, die NATO-Präsenz in Afghanistan wäre notwendig, um das Nachbarland zu stabilisieren, energisch. Vor dem Sturz der Taliban hätte es in Pakistan keine Kämpfe im Grenzgebiet zwischen regulärer Armee und paschtunischen Milizen und keine verheerende Bombenanschläge wie vor kurzem auf das Marriott-Hotel in Islamabad gegeben. Gerade ein Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan würde mehr als alles andere dazu beizutragen, die Atommacht Pakistan wieder zu stabilisieren.

Zwei Fragen aus dem Publikum rundeten den Abend ab. Die Zukunft der NATO als eigentlich überflüssige, die Gefahr neuer Kriege vergrößernde Institution scheint dennoch gesichert, wie Dyer angesichts der politischen und institutionellen Dynamik attestiert, mit der die Nordatlantische Vertragsorganisation trotz des Verschwindens der Sowjetunion betrieben wird. Seiner Ansicht nach wäre es "sehr weise" gewesen, wenn die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) unter Einbeziehung Rußlands die NATO 1991 ersetzt hätte. Statt dessen versuche die Militärallianz, sich in allen möglichen unzweckmäßigen Missionen wie etwa derjenigen in Afghanistan unverzichtbar zu machen. Man werde sie noch in zehn Jahren dabei erleben können, wie sie Vanuatu befriedet, denn man könne "das Ding einfach nicht töten" - das abschließende Urteil Dyers über die NATO sorgte für allgemeine Erheiterung im Saal.

Kontroverse in Aktion - © 2008 by Schattenblick
Kontroverse in Aktion
© 2008 by Schattenblick


SWP-Experte Markus Kaim konnte sich diesem hemdsärmligen Umgang mit der militärischen Exekutivgewalt der westlichen Wertegemeinschaft nicht anschließen, sondern verwies auf die angeblich unverzichtbare Bedeutung der NATO für die internationale Konfliktregulation. Zu seiner Behauptung, ihr Ausfall für Stabilisierungs- und Wiederaufbaumissionen schwäche die Vereinten Nationen, ist allerdings anzumerken, daß umgekehrt ein Schuh daraus wird. Insbesondere in den jugoslawischen Sezessionskriegen wurden UN-Blauhelmmissionen systematisch unter Verweis auf ihre angeblich ungenügende militärische Bemittelung delegitimiert, um die NATO als zentralen militärischen Ordnungsfaktor an ihre Stelle treten zu lassen. Natürlich wären, wenn man Krisenintervention überhaupt mit militärischen Mitteln betreiben will, multilateral nach den jeweiligen politischen und regionalen Erfordernissen ausgerichtete Militäreinsätze auch ohne NATO möglich, nur bedeutete dies eine Zurückstufung ihrer Hauptakteure, die deren Möglichkeit schwächte, ihre spezifischen geostrategischen Interessen unter dem Vorwand des internationalen Krisenmanagements voranzutreiben.

Jochen Thies konnte die Bedenken gegenüber der NATO durchaus teilen, stand ihm doch das offensive Auftreten der Militärallianz auf dem Kaukasus lebhaft vor Augen. Seine Hoffnung, daß die neue US-Administration dort vorsichtiger zu Werke geht, muß allerdings bei beiden Personalien sehr skeptisch beurteilt werden.

Eine weitere Frage aus dem Publikum betraf die Instrumentalisierung arabischer Regimes für westliche Zwecke, mit der dem Anspruch, in diesen Ländern für demokratische Verhältnisse zu werben, auf direktem Wege entgegengewirkt werde. Dyer bekräftigte, daß die beanspruchte Demokratisierung in der Praxis häufig auf ihr Gegenteil hinauslaufe, und gab zu, daß man sich an diese Heuchelei gewöhnt habe. Kaim erinnerte daran, daß die Stoßrichtung der islamistischen Bewegungen, deren demokratisch legitimierte Herrschaft man etwa in Algerien unterband, ursprünglich gar nicht gegen den Westen, sondern die eigenen Regimes gerichtet war. Er gestand ein, daß ein wesentlicher Grund für die Diskreditierung der Regierung Bush in der arabischen Welt aus deren lediglich rhetorisch erhobenen, praktisch aber nicht verwirklichten Demokratieforderung resultiere.

An dieser Stelle endete der Abend mit dem Dank des Moderators an die Veranstalter des Literaturfestivals und den Organisator der Werkstatt der Kulturen sowie alle Beteiligten. So gering die Zahl der Zuhörer war, die sich zu dem Veranstaltungsort in Berlin-Neukölln begeben hatten, so relevant und interessant waren die Ausführungen der Referenten. Es ist bedauerlich, daß es erst einer größeren Krise des kapitalistischen Weltsystems bedarf, um dem Interesse der Menschen an den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz zu neuer Geltung zu verhelfen. Nur weil in Vergessenheit geraten ist, wie sehr diese Fragen jeden einzelnen angehen, bleibt das Feld Kräften überlassen, denen der Gedanke an das Lebensrecht eines jeden Menschen, so arm und schwach er auch sein mag, fremd ist.

Siehe hierzu im Schattenblick unter BUCH/SACHBUCH: REZENSION/452: Gwynne Dyer - Nach Irak und Afghanistan (SB)

7. Oktober 2008

Jochen Thies - © 2008 by Schattenblick
Vermächtnis des Militarismus - Bendlerblock am Landwehrkanal
© 2008 by Schattenblick