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BERICHT/047: Antirep2010 - Moshe Zuckermann würdigt Rosa Luxemburg (SB)


Rosa Luxemburg - erlebtes Leid, Mitgefühl und gesellschaftliche Revolution

Gedanken über den visionären Kampf um Versöhnung von Mensch und Natur

Vortrag am 9. Oktober 2010 in Hamburg

Moshe Zuckermann beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann
© 2010 by Schattenblick

"Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit, dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muß umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen."

Dieser Aphorismus aus der Feder Rosa Luxemburgs verweist darauf, daß Menschen einander abschlachten, als wären sie Tiere, und zugleich die Tiere gnadenlos knechten, sie verfolgen, töten und verwerten, bis die industrielle Menschen- und Tiervernichtung schließlich zur kultur-barbarischen Perfektion getrieben wird. Die postulierte Herrschaft des Menschen über die Natur und jene über seinesgleichen entspringen mithin demselben Streben, sich zu Lasten anderer Wesen zu behaupten, ja bis in die letzte Faser hinein einer Teilhabe am Raubgefüge den Zuschlag zu geben.

Rosa Luxemburg zu entgegnen, die Revolution habe eben ihren Preis und der Mensch müsse schließlich essen, hieße nichts weniger, als die fundamentale Weigerung, Leiden in welcher Form auch immer zu akzeptieren, preiszugeben. Zieht man eine solche Grenze, gleicht man einem Sklaven, dessen sehnlichstes Streben nicht etwa der Freiheit gilt, sondern dem Thron des Herrn, den er selbst erobern möchte. Als Revolutionärin läßt Rosa Luxemburg keinen Zweifel daran, daß die Welt umgestürzt werden müsse. Eben deswegen verzichtet sie nicht darauf, auch jene selbstauferlegten Fesseln im Denken und Handeln in Frage zu stellen, die das Unabänderliche postulieren. Als Revolutionärin besteht sie zugleich darauf, daß man ihresgleichen an "weitherzigster Menschlichkeit" erkennen solle, der "wahre Odem des Sozialismus" also voranwehe und nicht etwa in Gestalt des neuen Menschen gleichsam als Folgeautomatismus der ökonomischen Umwälzung in eine ferne Zukunft verlagert werden dürfe.

Der israelische Soziologe Professor Moshe Zuckermann hat auf dem Internationalen Antirepressionskongreß mit seinem Thema "Rosa Luxemburg - erlebtes Leid, Mitgefühl und gesellschaftliche Revolution", das zu "Gedanken über den visionären Kampf um Versöhnung von Mensch und Natur" anregen sollte, also nicht nur eine der hochgeschätztesten Vorkämpferinnen der Linken, sondern zugleich einen Kernkonflikt gesellschaftsverändernder Radikalität in den Mittelpunkt seines Vortrags gestellt. Daß die Revolution ihre Kinder frißt, ist nicht nur ein Vorwurf jener Kritiker, die den Bestand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit Zähnen und Klauen verteidigen. Der Rückfall in die nicht überwundene Barbarei von Unterwerfung und Ausbeutung unter neuem Vorzeichen droht vielmehr jeden Entwurf gesellschaftlicher Umwälzung zu verschlingen, den die Anbetung der Stärke zu Lasten des Schwachen als Erblast in Fesseln hält.

Moshe Zuckermann mit Moderatorin - © 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann mit Moderatorin
© 2010 by Schattenblick

Moshe Zuckermann, der Rosa Luxemburg mit dem Bekenntnis ehrt, er habe sie ein Leben lang geliebt, warnt zugleich vor jeder Verklärung ihrer Person. Sich ihrer als Säulenheilige zu bedienen, um die sich ein Personenkult rankt, erschöpfte sich in einer starren Rezeption. Geschichte verändert jedoch unablässig die Verhältnisse, weshalb man auch Rosa Luxemburg in Relation zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt hinterfragen müsse. Denkt man kritisch über das nach, was man bewundert, so erweist man dem Denken die größte Ehre, eröffnet Zuckermann das Feld seiner Würdigung Rosa Luxemburgs.

Im Jahr 1871 geboren und 1919 ermordet, lebte sie in einer Zeit revolutionärer Umwälzungen des Westens, die mithin die ganze Welt veränderten. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich der Imperialismus entfaltet, der nun die fundamentalen Umwälzungen der Moderne beschleunigte. Rosa Luxemburg, die ein kritisches Verhältnis zur Sowjetunion entwickelte, meinte schon zu ihrer Zeit, Marx gegen Apologeten verteidigen zu müssen. Unter erbitterten Kontroversen um die Deutungshoheit bezüglich seines Werkes wie auch der Thesen Lenins und Trotzkis rangen kritische Geister darum, die Marxschen Kategorien neu zu überdenken und mit Leben zu füllen, wofür sie von anderen Fraktionen der Linken bis hin zur Todfeindschaft des Verrats geziehen und verfolgt wurden.

Grundlegende Aussagen, die Marx 1847/48 im Kommunistischen Manifest getroffen hat, haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Marxisten jeder Couleur werden darin übereinstimmen, daß mit der privaten Aneignung gesellschaftlicher Arbeit samt der Profitmaximierung eine fundamentale Widerspruchslage ausgewiesen ist, die man nicht nur strukturell beschreiben, sondern auch verändern kann: In der elften Feuerbachthese treibt Marx die Philosophie über ihre Grenzen hinaus und postuliert die revolutionäre Umwälzung.

 Moshe Zuckermann beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

"... es kommt darauf an, sie zu verändern"
© 2010 by Schattenblick

Das sagt sich einfach, ist es aber nicht, führt Zuckermann im folgenden Gründe an, die jedem vermeintlichen Automatismus den Boden entziehen. Es stellt sich die Frage, wie man sich das vielzitierte revolutionäre Subjekt vorzustellen hat. Man vergißt dabei ja allzu leicht, daß Marx seine historische These konditional definiert hat: Wenn es eine Klasse gibt, dann kann sie zum revolutionären Subjekt werden. In diesem Zusammenhang war für ihn das Moment der Ideologie von ausschlaggebender Bedeutung, da das Subjekt das falsche Bewußtsein überwinden und seine Bestimmung realisieren müsse.

Rosa Luxemburg war anderer Ansicht als Lenin und Trotzki, wie das zu bewerkstelligen sei. Lebt das Volk in Strukturen, die es auch ideologisch fesseln, so muß die Befreiung aus dem Volk heraus erkämpft werden, nicht jedoch auf Geheiß einer Partei, die das von oben herab bestimmt. Sie hat als erste postuliert, daß die Herausbildung des Bewußtseins dem Proletariat obliegt. Man darf und soll diesen Prozeß unterstützen, doch sich nicht anmaßen, an die Stelle des realen Lebens des Proletariats zu treten. Zuckermann verwirft ebenso wenig wie Rosa Luxemburg die Partei an sich, die seines Erachtens in der Sowjetunion notwendig gewesen ist, um den Faschismus zu besiegen. Er kritisiert die Partei jedoch, wo sie sich verselbständigt, verdinglicht, sich von ihrem Gründungsanspruch entfernt und somit zur Ideologie wird. Die Diktatur des Proletariats kann Luxemburg zufolge nicht von oben vollzogen werden und richtet sich gegen den Klassenfeind, ohne die Freiheit des Andersdenkenden zu negieren. In dieser Auffassung kommt ein tiefer Glaube an die Lernfähigkeit des Menschen zum Tragen, der ihr den Vorwurf des Spontanismus, Trotzkismus und Luxemburgismus eintrug.

Nicht nur in dieser Hinsicht blieb sie Marx treu. Auch hinsichtlich der Kapitalakkumulation, die er als Problem formuliert hatte, ohne es zu lösen, setzt sie seinen Ansatz fort. Sagt man mit Marx die Überproduktion voraus, stellt sich die Frage nach den Konsumenten. Wenngleich Herbert Marcuse falsche Bedürfnisse postuliert, löst dies das quantitative Dilemma nicht. Marx weist bereits auf eine Ausweitung im Weltmaßstab hin, und Luxemburg vertieft dies mit der These von der notwendigen Ausbreitung des Kapitalismus, der sich im Kolonialismus und Imperialismus Bahn bricht. Da er aufgrund eines begrenzten Konsumismusses an seine Grenzen stößt, ist seine Existenz von vornherein auf die Erweiterung in Gestalt neuer Märkte angewiesen, die eine Aufrechterhaltung der Verwertungsmöglichkeiten gewährleisten.

Die notwendige sozialökonomische Erweiterung des nationalstaatlich organisierten Kapitalismus erzwingt den Imperialismus, weshalb es für Rosa Luxemburg klar war, daß die Herrschaft der Zivilgesellschaft nicht von Dauer sein kann. Der Trugschluß einer späteren Generation, mit Vietnam seien die Kriege abgehandelt, da fortan nur noch McDonalds herrsche, wurde von George W. Bush widerlegt, unter dessen Präsidentschaft das längst entworfene Feindbild Islam unter Zuhilfenahme des 11. September 2001 die nächste Phase großangelegter Kriegführung einläutete. Die innere Logik des Kapitalismus ist darauf angewiesen, den Kriegszustand zu erhalten, erklärte Rosa Luxemburg, die mit ihrem Eintreten gegen die Beteiligung Deutschlands am Weltkrieg ihr politisches Kapital in den Augen der Linken und selbst der Kommunisten verspielte.

Wie soll sich das Proletariat solidarisieren - vertikal oder horizontal? Die historische Absage der deutschen Arbeiterbewegung an die internationale Solidarität trug maßgeblich zur entufernden Barbarei des Ersten Weltkriegs bei, wie sie auch unter Führung der Sozialdemokratie die Abkehr vom Antikapitalismus einläutete. Moshe Zuckermann erweitert in diesem Zusammenhang die theoretische Forderung nach internationaler Soldarität aus zweckdienlichen Gründen um den Komplex umfassender Leiderfahrung, die ihrerseits unabweisliche Handhabe für einen horizontalen Brückenschlag bietet. Ein Kampf könne nicht revolutionär sein, wenn er nur partikular stattfindet, schloß Marx den Ausbruch der Revolution in Rußland nur insofern nicht aus, als sie sich gesamteuropäisch vollziehen müsse. Er setzte seine Hoffnungen eher auf England und Deutschland, was zur verbreiteten Überzeugung beitrug, daß im überwiegend feudal strukturierten Rußland des Jahres 1917 die Voraussetzungen für eine Umwälzung fehlten.

Die Revolution hält sich jedoch nicht an den Fahrplan, wobei Zuckermann diesen Worten das nicht minder wichtige Postulat folgen läßt, daß für den Verlauf revolutionärer Umgestaltung in Rußland der Ausbruch der Revolution auch in Deutschland unverzichtbar war. Blieb er aus, drohte der Rückfall in die unselige Barbarei. Davon war Rosa Luxemburg überzeugt, für die internationale Solidarität als unabdingbares Gebot auch im Sinne eines Strukturmoments galt. Erst wenn die Strukturverhältnisse durch eine revolutionäre Masse veränderbar geworden sind, kann die Umwälzung greifen. Für Marx war dies nur dann denkbar, wenn die Masse nichts mehr zu verlieren hat als ihre Fesseln.

Moshe Zuckermann mit aufgeschlagenem Buch - © 2010 by Schattenblick

Was verbindet Wurm und Mensch?
© 2010 by Schattenblick

Zwangsläufig ist es außerordentlich schwer zu entscheiden, was unter spezifischen historischen Bedingungen durchsetzbar ist. Zuckermann erinnert an Adornos Weigerung, mit den Studenten auf die Barrikaden zu gehen, und schließt sich dessen Einschätzung an, es habe Ende der 1960er Jahre keine revolutionäre Situation in Deutschland geherrscht. Adorno hielt seinen studentischen Kritikern damals entgegen, sie seien Aktionisten und keine Revolutionäre, während ihm diese vorwarfen, er beschränke sich auf einen akademischen Gestus, dem keine praktischen Taten folgten. Revolutionären Aktivismus anhand des Mißverhältnisses von Anspruch und Wirklichkeit als unangemessenen Aktionismus zu verwerfen, hieße gerade aus heutiger Sicht, da der Mut zur gesellschaftlicher Veränderung auf breiter Front in regressive Vereinzelung umgeschlagen ist, im Keim zu ersticken, was im Bewußtsein erlittener Ohnmacht ein Schritt zur Befreiung sein könnte. Diesen zu gehen, ohne sein Ergebnis vorwegzunehmen, kann als Geheimnis wirksamer Praxis verstanden werden. Die Doktrin des Erfolgs, laut der sich einzusetzen nur "lohnt", wenn sich die persönliche "Investition" auszahlt, sollte denjenigen überlassen bleiben, die in der Sicherung des eigenen Vorteils den ganzen Lebenssinn erkennen.

Zuckermann zufolge trug Rosa Luxemburg am radikalsten vor, daß man zu keiner Zeit aus dem Blick verlieren dürfe, an welchem historischen Punkt man sich gerade befindet. Daher sei es eine Illusion zu meinen, man müsse Marx aufgeben, da die Revolution schon viel zu lange ausgeblieben sei, und mit der Sozialdemokratie marschieren. Luxemburg wußte genau, was sie von den Sozialdemokraten und deren verschiedenen Flügeln zu halten hatte. Den Spätkapitalismus in seinen spezifischen Verlaufsformen vorhersehen konnte sie natürlich nicht: New Labour in Britannien, die Arbeitspartei in Israel oder Rot-Grün in Deutschland legten die verbliebenen Reste der Arbeiterbewegung auf eine Weise lahm, die selbst heute nur eine Minderheit in ihrer vollen Tragweite begriffen hat.

Abschließend geht Moshe Zuckermann auf die Frage ein, ob Marx, Lenin, Trotzki und natürlich Rosa Luxemburg ihrem Wesen nach Menschenfreunde waren. Er kommt in diesem Zusammenhang noch einmal auf die humane Leiderfahrung zu sprechen: Wird diese als Faktor ausgeblendet, der die Entwicklung weiterträgt, wie es Walter Benjamin formuliert, droht die ewige Wiederkehr ungezügelter Drangsalierung. Empathie und Leiderfahrung seien bei Rosa Luxemburg ein zentrales Moment, da sie der Überzeugung gewesen sei, daß es keine Emanzipation des Menschen ohne Emanzipation der Natur geben könne. Für sie war dieses Eingedenken mit der leidenden Natur im umfassendsten Sinn eine grundsätzliche Unfähigkeit, das Leid der Welt zu ertragen, mithin ein Moment objektiver Notwendigkeit, den Lauf der Weltgeschichte zu verändern.

Moderatorin dankt Moshe Zuckermann - © 2010 by Schattenblick

Dank für engagierten Vortrag
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26. Oktober 2010