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INTERVIEW/056: Antirep2010 - Yossi Wolfson, Menschenrechtsanwalt und Tierschützer (SB)


Interview mit Yossi Wolfson am 9. Oktober 2010 in Hamburg


Yossi Wolfson ist Rechtsanwalt in Jerusalem, der sich auf Menschenrechte und Tierschutz spezialisiert hat. In den letzten Jahren arbeitete er für das Center for the Defence of the Individual (HaMoked). Er vertrat die Organisation in einigen zentralen Menschenrechtsklagen von PalästinenserInnen aus den besetzten Gebieten, die sie vor den Obersten Gerichtshof Israels gebracht hatte. Er veröffentlichte Artikel und Kritiken zu juristischen Fragen der Besatzung und über Tierbefreiung. Am Rande des Internationalen Antirepressionskongresses in Hamburg führte der Schattenblick ein Interview mit Yossi Wolfson.

Yossi Wolfson im Gespräch - © 2010 by Schattenblick

Yossi Wolfson
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Herr Wolfson, könnten Sie uns erzählen, woran Sie gerade arbeiten?

Yossi Wolfson: Gerade in den letzten zwei Jahren habe ich mich nicht mit Fragen des Rechts von Palästinensern beschäftigt, sondern mehr geschrieben und an ein paar anderen Dingen gearbeitet. Ich war früher als Anwalt bei einer israelischen Menschenrechtsorganisation namens HaMoked tätig, dem Center for the Defence of the Individual. Diese Organisation befaßt sich mit bestimmten Menschenrechtsverstößen gegen Palästinenser durch die israelischen Behörden in den besetzten Gebieten. Die Fälle, mit denen die Mitarbeiter von HaMoked täglich zu tun haben, betreffen zumeist das Aufenthaltsrecht und die freie Wahl des Wohnorts, die Familienzusammenführung, bestimmte, aber nicht alle Arten der Häuserzerstörung, die Rechte von Gefangenen, Familienbesuche im Gefängnis, Bestattung der Leichen von Palästinensern, die in Zusammenhang mit Aktionen gegen Israel getötet wurden oder Selbstmord begangen haben, und so weiter.

SB: In Ihrem Vortrag haben Sie die Bedeutung der israelischen Administrativmaßnahmen hervorgehoben. Könnten Sie vielleicht einige davon benennen, die großen Einfluß auf das Leben der Palästinenser haben?

YW: An erster Stelle würde ich die Administrativhaft nennen, mit anderen Worten, die Praxis, Menschen - angeblich als Vorbeugemaßnahme - auf der Grundlage von Sicherheitsberichten ins Gefängnis zu stecken, die hauptsächlich aus geheimen Quellen stammen. Diese Maßnahme wird oft gegen politische Aktivisten angewendet. Sie steht sehr im Fokus des öffentlichen Interesses, und man kann deshalb eine Menge darüber im Internet finden.

Weitere wichtige Maßnahmen stehen in Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht und der freien Wahl des Wohnorts. Solche Maßnahmen haben eine große Bedeutung für das Alltagsleben der Menschen, erregen aber nicht so viel Aufmerksamkeit, weil sie im Unterschied zu repressiven Gewaltakten kein Motiv für spektakuläre Fotos bieten. Selbst ein einfacher Vorgang wie die Verhaftung von Menschen liefert eindrückliche Bilder von sitzenden oder in einer Reihe aufgestellten Leuten in Handschellen. Im Vergleich dazu sind die Fälle von Menschen, die im Ausland studieren wollen und daran gehindert werden, oder die in Gaza leben und in die Westbank reisen wollen, um Familienmitglieder oder Freunde oder die Universität zu besuchen, und das nicht können, obwohl es sich um einen Teil ihres Heimatlandes handelt, weit weniger spektakulär.

Für einen solchen Ortswechsel ist eine Genehmigung erforderlich. Beispielsweise haben viele Menschen die Erlaubnis zu Auslandsreisen aus dem Westjordanland, während man andere auf individueller Basis daran hindert. Man sollte meinen, daß es einfacher sein müßte, von Gaza in die Westbank zu fahren, was im Gegensatz zu Reisen ins Ausland nur einen Ortswechsel im Inland darstellt. In der Realität ist das nicht der Fall. Abgesehen von Ausnahmen ist die allgemeine Regel, daß Palästinenser nicht zwischen den beiden Enklaven reisen können.

Als ich bei HaMoked arbeitete, hatten wir dort beispielsweise den Fall einer Frau aus dem Gazastreifen, die nach Scheidung und Wiederverheiratung einige minderjährige Kinder aus erster Ehe hatte, die mit ihren früheren Verwandten in der Westbank lebten. Dennoch wurde das nicht als ausreichender, humanitärer Grund betrachtet, ihr die Reise dorthin zu gestatten. In einem ähnlichen Fall haben wir versucht, einem Mann aus Gaza zu helfen, dessen Verwandter einen schlimmen Unfall und dabei schwerwiegende Verbrennungen erlitten hatte. Der Verwandte war zunächst ins Krankenhaus aufgenommen worden und durfte erst später zur weiteren Erholung nach Hause zurückkehren. Unser Klient wollte seinen verletzten Verwandten besuchen, doch auch dies wurde nicht als ausreichender Grund gesehen, ihm die Reise in die Westbank zu gestatten. Beide Fälle kamen vor Gericht. Dort bestätigten die Richter die restriktiven Maßnahmen und die Art, wie sie angewendet wurden.

Ein weiterer wichtiger Gesetzesbereich betrifft die Familienzusammenführung. In Fällen, in denen eine Person aus der Westbank mit einer anderen verheiratet ist, die nicht dort wohnt - beispielsweise mit einem Bürger aus der Ukraine, da viele Palästinenser in Osteuropa studiert haben und ihrem Ehepartner dort begegnet sind, oder aus Kuwait oder Jordanien -, auch wenn es sich um Palästinenser handelt, die selbst oder deren Familien ursprünglich aus der gleichen Ortschaft stammen, nun aber Flüchtlingsstatus haben, wird die Familienzusammenführung in der Regel nicht gestattet. Es gibt keine Möglichkeit, direkt von außen in die Westbank einzureisen. Wenn man als Tourist nach Israel fährt, kann man jedoch die Westbank besuchen; auf diese Weise gelangen die meisten Ausländer dorthin. Eigentlich ist für die Einreise die Nutzung eines Passierscheins vorgesehen, der nach vertraglicher Übereinkunft mit Israel von der Palästinensischen Autonomiebehörde ausgestellt wird. Seit dem Jahr 2000 wurden allerdings nur sehr wenige Passierscheine vergeben. Die dennoch ausgestellten Genehmigungen gab es entweder aufgrund eines Gerichtsurteils oder nach internationaler Intervention in einem Einzelfall, oder sie sind das Ergebnis von Korruption.

Stellen wir uns vor, wie es aussähe, wenn man ein solches System in Deutschland hätte. Nehmen Sie einmal an, Sie lebten in Deutschland und seien über zehn Jahre lang nicht in der Lage, Besuch aus dem Ausland zu empfangen. Oder wenn wir den Fall Gaza betrachten: Stellen Sie sich vor, sie könnten Hamburg fünf Jahre lang nicht verlassen, außer sie litten an einer schweren, lebensbedrohlichen Verletzung oder Krankheit (nicht einmal der Verlust eines Armes oder Beines wäre ausreichend, weil er nur bedingt lebensbedrohlich ist). Nur dann würde eine Reise zum ausschließlichen Zweck der medizinischen Behandlung nach Berlin erlaubt nach deren Abschluß - einmal angenommen, sie wäre erfolgreich - man sofort nach Hamburg zurückkehren müßte. Die Härten, die unter solchen Umständen erlitten werden oder mit solchen Fällen einhergehen, sind sehr schwer über Fotos oder Fernsehbilder zu vermitteln. An ihnen ist nichts Spektakuläres. Trotzdem sind es genau diese Bedingungen, die das Alltagsleben der Palästinenser so schwer machen.

Yossi Wolfson im Gespräch - © 2010 by Schattenblick

... was keine Bilder vermitteln können
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SB: Auf welche Weise beeinflußt die Tatsache, daß sie solchen Bedingungen unterliegen, die Lebenseinstellung der Menschen?

YW: Das ist eine interessante Frage, über die ich zugegebenermaßen nie wirklich nachgedacht habe. Ich denke, daß die Menschen reagieren, wie es jeder andere auch tun würde: mit Ärger, Unmut, Resignation und so weiter. Sie so zu behandeln, trägt vermutlich nicht zur Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis bei.

SB: Glauben Sie, daß sich eine generelle Strategie hinter diesen Maßnahmen verbirgt, oder sind sie rein zufällig entstanden?

YW: Ich kann mir nicht denken, daß sich eine Gruppe israelischer Regierungsbeamter an einen Tisch gesetzt und beschlossen hat, die palästinensische Gesellschaft zu unterdrücken, und sich aus dem Grund auf eine Reihe drakonischer Maßnahmen geeinigt hat. Ich könnte mir vorstellen, daß sie nicht einmal in Begriffen von Unterdrückung denken, sondern das Ganze eher recht neutral betrachten. Gleichzeitig erachte ich die Art und Weise, wie sie ihr Verhalten sich selbst oder anderen gegenüber rationalisieren, als nicht besonders wichtig. Zweifellos besteht die Logik des Ganzen in der Unterdrückung der palästinensischen Gesellschaft. Ich bezweifle nicht, daß die meisten israelischen Amtsträger einräumen würden, daß die Unterscheidung zwischen Gaza und der Westbank Teil einer generellen Politik ist, die palästinensische Gesellschaft in Untergruppen zu spalten: die Palästinenser in Gaza; die arabischen Bürger Israels nach 1948; die im Westjordanland bzw. in der südlichen und der nördlichen Westbank; die im besetzten Ost-Jerusalem; und schließlich die palästinensischen Flüchtlinge, die in arabischen Nachbarstaaten leben. Auf diesem Weg versucht man, jegliche Zusammenarbeit und jedes Zusammengehörigkeitsgefühl der verschiedenen Untergruppen der palästinensischen Bevölkerung zu eliminieren. Zur Zeit ist die Trennung zwischen Gaza und der Westbank das deutlichste Beispiel für diese Strategie. Dennoch bestehen innerhalb des israelischen Sicherheitsapparats große Bedenken wegen des Kontakts zwischen den israelischen Arabern und den Palästinensern aus den besetzten Gebieten. Das ist etwas, das ihnen wirklich Sorge bereitet.

Ein weiterer Aspekt oder gewünschtes Ergebnis der repressiven Maßnahmen ist die Unterdrückung des Widerstands gegen die israelische Herrschaft. Man sieht es lieber, wenn sich die Palästinenser mit der Bewältigung ihrer alltäglichen Probleme statt mit Fragen der politischen Organisation beschäftigen. Hinter einem solchem Denken steckt auch die Annahme, daß Menschen am Ende aufgeben werden, wenn man nur genug Gewalt gegen sie ausübt. Das ist natürlich sehr naiv, aber die Auffassung, daß es mit Gewalt gelingen wird, jegliche Opposition zu unterdrücken oder sie zu reduzieren, ist ganz typisch für Menschen aus dem Sicherheitsapparat. Gewöhnlich geschieht das Gegenteil. Kurzfristig gesehen erfreuen sich die Israelis zur Zeit einer für sie günstigen Sicherheitslage. In Bezug auf das Alltagsleben an öffentlichen Plätzen und so weiter ist das Leben in Israel momentan so gut wie es über lange, lange Jahre hinweg nicht war. Von seiten der Palästinenser gibt es praktisch keine Selbstmordanschläge oder Überfälle mehr. Die Lage ist sehr friedlich, aber natürlich nicht auf Dauer.

SB: Ein Zeichen dafür, daß Unterdrückung am Ende zur Kapitulation auf seiten der Unterdrückten führt, ist die geringere Gefahr von Gewalt gegen Siedler und die israelische Armee (IDF) in den besetzten Gebieten. Aber könnte ein Ziel der Maßnahmen, die ursprünglich dazu gedacht waren, daß sich die Palästinenser der israelischen Herrschaft unterordnen, nicht auch darin bestehen, sie zur Emigration in ein anderes Land wie Jordanien, Ägypten, Syrien oder die Golfstaaten zu zwingen oder zu veranlassen?

YW: Ich kann diese Frage nicht so allgemein beantworten. Dennoch ist ziemlich offensichtlich, daß die zionistische Führung sogar vor 1940 schon ein ganz klares Ziel hatte: Sie wollte soviel Territorium des britischen Mandatsgebiets in Palästina wie möglich mit so wenigen arabischen Einwohnern wie möglich unter ihre Kontrolle bringen. Als der Staat Israel 1948 die Unabhängigkeit erhielt und seine Gründer West-Jerusalem annektierten, war es dort das gleiche. Bei der Grenzziehung zwischen den beiden Teilen der Stadt versuchten sie soviel Areal wie möglich mit so wenigen palästinensischen Vierteln wie möglich einzuschließen. Seitdem gibt es verschiedene Gesetze für Juden und Araber hinsichtlich Einwanderung, Wohnsitz und Ausreise mit Blick darauf, die Emigration von Palästinensern soweit wie möglich zu fördern. Nach dem Sechstagekrieg 1967 und der Annektierung von Ost-Jerusalem, des Westjordanlands und des Gazastreifens hat Israel eine "Politik der offenen Brücken" beschlossen. Das bedeutete, daß die Brücken über den Jordan geöffnet blieben, obwohl Jordanien noch immer ein feindlicher Staat war. Damit konnten die Palästinenser in die Golfstaaten fahren, um dort zu arbeiten, oder in die kommunistischen Ostblockstaaten, um zu studieren. Versäumten sie, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern oder kehrten sie nicht innerhalb von fünf oder sechs Jahren zurück, erlosch ihr Recht darauf. Alles war so eingerichtet, es den Palästinensern leicht zu machen, die besetzten Gebiete zu verlassen, aber schwer, dorthin zurückzukehren.

Auch wirtschaftliche Überlegungen spielten eine Rolle. Die Menschen, die in Kuwait und anderen Ländern am Persischen Golf arbeiteten, überwiesen gewöhnlich Geld an ihre Familien in den besetzten Gebieten, das diese dann zum größten Teil für israelische Produkte ausgaben. So förderten die Überweisungen palästinensischer Emigranten die Beschäftigung in Israel und seine Zahlungsbilanz, was den Regierenden dort nur recht war. Die israelischen Behörden weigerten sich zudem, die Einrichtung von Universitäten in den besetzten Gebieten zu genehmigen, hauptsächlich, weil sie befürchteten, daß sie sich zu Brutstätten des politischen Aktivismus' entwickeln könnten. Statt dessen erlaubte man den palästinensischen Schulabgängern, in die Länder des kommunistischen Ostblocks zu reisen, wo sie kostenlos studieren und sich qualifizieren konnten. Auch das war für Israel sehr profitabel. Einige Studenten kehrten nie zurück, und wer zurückkehrte, kam als Arzt oder Ingenieur zurück, anders gesagt, mit einem Wissenskapital, für das Israel nichts hatte zahlen müssen.

Nach der Gründung ihres eigenen Staates in Palästina, das vor dem Ersten Weltkrieg und der Einrichtung des britischen Mandatsgebiets Teil des Osmanischen Reichs gewesen war, wurden die Israelis Experten für türkisches Landrecht und interpretierten es auf höchst originelle Weise. Sie erklärten ganze Landstriche zu Staatseigentum und stellten sie nur jüdischen Siedlern zur Verfügung, statt sie zum Wohle der gesamten Bevölkerung nutzen zu lassen. Zudem verfuhren die israelischen Behörden in Ost-Jerusalem nach den eigenen Bauordnungs- und Flächennutzungbestimmungen und in den besetzen Gebieten nach jordanischem Recht, um die Bautätigkeit der Palästinenser einzuschränken und palästinensische Häuser mit dem Ziel abzureißen, mehr Land für jüdische Siedlungen frei zu machen. Itzak Rabin hat einmal gesagt, er wünsche sich, Gaza würde vom Meer verschlungen, und ich bin davon überzeugt, daß viele Israelis in Bezug auf die palästinensischen Gebiete dasselbe empfinden. Sogar Menschen, die eine Zweistaatenlösung befürworten, äußern häufig, daß sie am liebsten einfach eine riesige Mauer bauen würden und sogar bereit wären, die Siedlungen zu räumen, nur um die Existenz der Palästinenser vergessen zu können. Solche Israelis wären bereit, den Palästinensern einen eigenen Staat zu überlassen; sie wollen einfach überhaupt nichts mit ihnen zu tun haben. Ich halte einen solchen Standpunkt für sehr naiv und in vielerlei Hinsicht für nicht haltbar.

Yossi Wolfson im Gespräch mit SB-Redakteur - © 2010 by Schattenblick

Yossi Wolfson und SB-Redakteur
© 2010 by Schattenblick
SB: Wie könnte Ihrer Meinung nach eine dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts aussehen?

YW: Genauso wenig wie alle anderen weiß ich, was passieren wird. Es werden derzeit allgemein zwei politische Szenarien diskutiert: die Zweistaatenlösung und die Einstaatenlösung. Meiner Meinung nach reicht es aber nicht aus zu sagen, daß man die Zweistaatenlösung oder die Einstaatenlösung bevorzugt, weil der reale Unterschied zwischen beiden nicht so groß wäre, wie ihn sich die Menschen vorstellen. Das, was wir zum jetzigen Zeitpunkt erleben, würde ich als Einstaaten-Nichtlösung bezeichnen: Ein Staat, ein Regime, eine Regierung - die der Israelis - kontrolliert das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan. In diesem Territorium herrscht ein Apartheidregime mit unterschiedlichen Gesetzen für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Bestimmte Regionen stehen unter zivilem, andere unter Militärrecht. Trotzdem bilden alle unterteilten Gebiete zusammen eine politische Einheit.

Wie könnte eine dauerhafte und faire Lösung aussehen? Eine Möglichkeit wäre zu sagen: Wir haben bereits einen Staat, der unglücklicherweise von einem Apartheidsystem gekennzeichnet ist, machen wir daraus einen demokratischen Staat. Das ist die Einstaatenlösung, die viele Menschen anspricht. Die andere mögliche Lösung wäre, diesen einen existierenden Staat zu nehmen und daraus zwei zu machen und damit den Palästinensern die Selbstbestimmung zu ermöglichen, die dann ihr eigenes Land neben dem israelischen hätten. Beide Lösungen könnten entweder zu einer dauerhaften und friedlichen Beilegung des Konflikts oder zu einer Weiterführung der aktuellen Situation unter anderen institutionellen Bedingungen oder zu einem völligen Desaster führen - abhängig davon, inwieweit die Frage der Wirtschaft gelöst wird oder nicht.

Nehmen wir die Einstaatenlösung, die sich zur Zeit unter den Mitgliedern der radikalen Linken in Israel großer Popularität erfreut. Hätten Sie vor einem Jahr mit mir darüber gesprochen, hätte ich mich für die Einstaatenlösung ausgesprochen. In Südafrika hatten sie ein Apartheidsystem, das sie abgeschafft haben, während das Kapital fast vollständig - insbesondere der Landbesitz - in den Händen der weißen Minderheit verblieben ist. In Palästina möchte ich keine Situation wie in Südafrika sehen. Schaffte man einen Staat, in dem die Juden die Privilegierten bleiben und mächtiger sind, weil sie wirtschaftlich gesehen alle größeren Unternehmen und alle Ressourcen kontrollieren, und die Palästinenser weiterhin die Unterprivilegierten sind, wäre das Ergebnis dasselbe wie jetzt, nur unter anderem Namen und Vorwand.

Wer die Einstaatenlösung vorzieht, geht davon aus, daß die demographische Entwicklung die Machtverhältnisse automatisch zugunsten der Palästinenser verschieben wird, weil es derzeit rund 5,5 Millionen Israelis im Verhältnis zu 4,8 Millionen Palästinensern gibt. Selbst wenn man das Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge ausschließt, führen die unterschiedlichen Geburtenraten dazu, daß die Experten für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre eine Bevölkerungsmehrheit auf seiten der Palästinenser und arabischen Bürger Israels prognostizieren. Die Erwartungen der Befürworter einer Einstaatenlösung sind dennoch naiv. Von anderen Ländern wissen wir, daß der Umstand, die Mehrheit einer Bevölkerung zu stellen, nicht automatisch dazu führt, daß man die Ressourcen kontrolliert oder die Oberhand in Bezug auf die gesellschaftliche Macht gewinnt. Also ist die Einstaatenlösung ohne eine wirtschaftliche Neuverteilung sinnlos. Die Zweistaatenlösung könnte dazu führen, daß neben Israel in den besetzten Gebieten eine Art Marionettenstaat existiert, was wiederum der aktuellen Situation mit der palästinensischen Autonomiebehörde nahekäme, die im Grunde genommen die meisten, wenn nicht alle, israelischen und amerikanischen Forderungen erfüllt.

Meiner Meinung nach ist keine der beiden Lösungen langfristig haltbar. Die Einstaatenlösung wird einen israelisch-palästinensischen Bürgerkrieg nach sich ziehen, während die zweite Lösung am Ende zu einem internationalen Krieg und/oder einem Bürgerkrieg unter den Palästinensern führen wird, der schlimmer ausfällt als der blutige Machtkampf zwischen PLO und Hamas 2007 in Gaza. Eine Zweistaatenlösung ist nur von Dauer, wenn sie zu der Gründung eines palästinensischen Staates führt, der nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich lebensfähig ist. Einige Mitglieder der kommunistischen Partei Israels argumentieren, die Zweistaatenlösung sei vorzuziehen, weil sie der palästinensischen Wirtschaft gestattet, sich unabhängig zu entwickeln und lebensfähig zu werden. Sie sind der Auffassung, daß die Palästinenser hinter einer Staatsgrenze ihre einheimische Industrie schützen und aufbauen könnten. Ich weiß nicht, ob das Argument stichhaltig ist, aber auf jeden Fall wird es vorgebracht.

SB: Wie würden Sie die aktuelle Wirtschaftslage in Israel beschreiben?

YW: Im Moment ist sie sehr entmutigend. Von 1967 bis Anfang der 1990er Jahre behandelte die israelische Politik die Palästinenser in den besetzten Gebieten als billige Arbeitskräfte und Konsumenten israelischer Güter, die sie mit dem Geld der Palästinenser am Persischen Golf erwarben, wie ich eben schon beschrieben habe. Anfang der 1990er Jahre kam es zu zwei wichtigen Entwicklungen. Zum einen wurden viele Palästinenser zur Zeit des Golfkriegs von den Staaten am Persischen Golf ausgewiesen, also versiegte der größte Teil des Einkommens, das bis dahin von dort kam. Zum zweiten führte Israel fast zeitgleich seine Abriegelungspolitik ein und fing an, die Zahl der Palästinenser zu begrenzen, die bis dahin als Tagelöhner in Israel arbeiten durften. Beide Entwicklungen führten zu einer enormen Zunahme der Armut in den besetzten Gebieten, was sich bis zum heutigen Tage fortsetzt. In der Zwischenzeit entwickelte sich die Hightech-Industrie, insbesondere die Waffenproduktion und der Sicherheitssektor, die beide nicht auf palästinensische Arbeitskräfte angewiesen sind, zu einem wichtigen Faktor in der israelischen Wirtschaft.

SB: Aber wurden nicht billige Arbeitskräfte aus Osteuropa und von weiter her aus dem Ausland ins Land gebracht, um die Palästinenser aus den besetzten Gebieten, die man an der Fahrt zur Arbeit nach Israel hinderte, zu ersetzen?

YW: Das ist richtig. Viele Menschen aus Thailand und den Philippinen wurden ins Land gebracht und in der Landwirtschaft eingesetzt, und aus Osteuropa für die Arbeit am Bau. Dann gab es Shimon Peres' Idee vom Neuen Nahen Osten, die unter anderem die Schaffung einer Sonderwirtschaftszone in den besetzten Gebieten beinhaltete. Die Initiative kam aber nie zum Tragen. Heute ist die israelische Wirtschaft von den Palästinensern unabhängig, sowohl von ihrer Arbeit in israelischen Unternehmen als auch von ihnen als Konsumenten israelischer Waren. Ich würde die Lage mit der vergleichen, die man an vielen Orten der Welt vorfindet, wo ein großer Teil der Bevölkerung von der Teilnahme an der regulären Wirtschaft ausgeschlossen ist. Das sind die Menschen, die man nicht braucht und die man in den Außenbezirken der Städte der Dritten Welt oder in den Armenvierteln im Süden von Los Angeles findet. Diese Menschen werden vom Wirtschaftssystem im Stich gelassen.

Auch in Israel selbst gab es von Mitte der 1980er Jahre an eine Entwicklung in Richtung Privatisierung, Abschaffung öffentlicher Dienste, Einschnitte bei den Sozialleistungen und all dessen, was sich unter die Bezeichnungen Thatcherismus, Reaganismus und Neoliberalismus fassen läßt. In gewissem Sinne wurde das Ganze in Israel noch weiter getrieben als in vielen anderen Ländern. Die Menschen bringen jene Wirtschaftspolitik mit Netanjahus Likud-Regierung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Verbindung, aber es war eigentlich Shimon Peres von der Arbeitspartei, der die ganze neoliberale Offensive in seiner Zeit als Finanzminister in der Regierung der Nationalen Einheit der 1980er Jahre losgetreten hat.

Yossi Wolfson im Gespräch - © 2010 by Schattenblick

Mit Leib und Seele ...
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SB: In welchem Maße - wenn überhaupt - wird Folter straffrei im israelischen Gefängnissystem eingesetzt?

YW: Im September 1999 fällte das Oberste Gericht Israels eine historische Entscheidung und erklärte Folter unter allen Umständen für illegal. Es verbot nicht nur die Folter an sich, sondern erklärte auch die "grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung" unter allen Umständen einschließlich Notfall und/oder Kriegsfall für illegal. Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof zudem eine Reihe von Methoden ganz ausdrücklich untersagt, die der General Security Service bis dahin eingesetzt hatte, wie beispielsweise das gewaltsame Schütteln von Menschen oder die "Shaba", hinter der sich eine besondere Art verbirgt, Menschen mit einem Sack über dem Kopf an einen kleinen Stuhl zu ketten, und sehr laute Musik zu spielen, und ein paar andere Dinge. Auch wenn es sich bei den Methoden, die heute von der israelischen Security Agency, der Nachfolgeorganisation des General Security Service, verwendet werden, um andere handelt als vor diesem Gerichtsurteil, stellen sie meiner Meinung und der vieler anderer nach immer noch eine grausame, unmenschliche und entwürdigende Behandlung dar und kommen deshalb Folter gleich.

Die grundlegenden Elemente dieser Praxis sind Reizentzug, Entzug sozialer Kontakte und Bewegungsentzug. Die Gefangenen werden 24 Stunden am Tag in kleinen Zellen unter Dauerlicht gehalten. Die Wände sind dunkelgrau, und man kann sie nicht wirklich anfassen, weil sie nicht glatt sind. Ein Gefangener kann sehr lange unter diesen Isolationsbedingungen ohne Uhr, Bücher oder irgendeine andere Art der Ablenkung festgehalten werden.

Die einzige Erholung - wenn man es so nennen will - von diesem System gibt es, wenn der Gefangene zum Verhörraum gebracht wird. Dort wird er oder sie mit den Händen in Handschellen auf einen normalen Stuhl gesetzt. Die Bewegungsmöglichkeiten sind dabei höchst eingeschränkt und der Gefangene muß unter Umständen einen ganzen Tag lang in dieser einen Position verharren, was sehr schmerzhaft ist. Es ist ihm beispielsweise zu keiner Zeit erlaubt, aufzustehen und sich zu strecken. Die einzige Erleichterung in Form einer Befreiung aus dem Sozialentzug in der Isolation besteht darin, mit dem Verhörbeamten zu reden. Das ist sehr schlau. Die einzige Flucht aus diesen drei Arten der Entzugs besteht darin, in Interaktion mit dem Verhörbeamten zu treten. Und sollte ein Gefangener auch dieser Versuchung widerstehen, stecken sie einen anderen Gefangenen als Spitzel mit in die Zelle, um ihn dazu zu bringen, sich zu öffnen und etwas preiszugeben. Die Reaktion auf diese Art der Behandlung ist von Person zu Person verschieden. Einige Menschen kommen recht gut damit klar, während sich andere nach nur kurzer Zeit unter solchen Bedingungen fühlen, als würden sie vollkommen verrückt werden. Diese Menschen kommen psychisch nicht damit klar.

Und dann gibt es noch weitere Dinge, die den Gefangenen das Leben sehr schwer machen, wie beispielsweise die hygienischen Bedingungen. Alle kleinen Zellen haben nur ein offenes Loch im Fußboden als Toilette, und der Geruch ist, wie man sich vorstellen kann, oft unerträglich. Die Belüftung in den Zellen ist üblicherweise schlecht. Manchmal ist es sehr kalt, zu anderen Zeiten dann sehr heiß. Der Gefangene hat nur eine sehr dünne Matratze auf dem Boden, auf die er sich legen kann und die manchmal sehr schmutzig ist. Die Gefangenen können ihre Kleidung nicht sehr oft wechseln, und manchmal dürfen sie wochenlang nicht duschen - gewöhnlich alle drei bis zehn oder 15 Tage lang nicht. Schlafentzug wird nicht so hart praktiziert wie in den 1990er Jahren, als ein Gefangener gezwungen werden konnte, fast eine Woche lang nicht zu schlafen. Jetzt kommt es vor, daß ein Gefangener lediglich ein paar Tage Schlafentzug oder einen sogenannten teilweisen Schlafentzug durchmachen muß. Letzteres bedeutet, daß man dem Gefangenen erlaubt, jeden Tag zu schlafen, aber nur für sehr wenige Stunden.

Heutzutage wird direkte Gewalt selten angewendet, statt dessen bedient man sich indirekter Gewalt, indem man Menschen bedroht und weniger, indem man wirklichen Schmerz zufügt. Die Androhung von Gewalt übermittelt dem Gefangenen die Botschaft, daß sein Leben und seine Sicherheit in der Hand der Behörden liegen. Die Menschen werden also nur noch selten geschlagen, aber die Androhung ist immer gegenwärtig. Das System ist anders als in den 1990er Jahren und in vielerlei Hinsicht humaner; doch alle quälenden psychologischen Effekte, die sich die Behörden zunutze machen wollen, werden beibehalten. Eine solche Behandlung von Gefangenen ist nicht nur nach internationalem Recht, sondern auch nach israelischem Recht illegal. Trotzdem tun die israelischen Behörden so, als seien die von ihnen angewendeten Maßnahmen nach eigenem nationalem Recht erlaubt. Wenn sich also ein Gefangener beschwert, erklären die zuständigen Stellen, sie hätten keine ausreichende Grundlage für strafrechtliche Ermittlungen gegen den Verhörbeamten festgestellt. Bezeichnenderweise lassen sie sich nicht im einzelnen darüber aus, was der Verhörbeamte getan oder nicht getan hat und erklären auch nicht, warum es sich nicht um eine Verletzung der Rechte des Gefangenen handelt. Sie behaupten einfach, daß alles, was getan wurde, legal war.

Ich hoffe, daß wir endlich einmal dahin kommen, daß sich der Oberste Gerichtshof Israels direkt mit den konkreten Aspekten einer solchen Behandlung von Gefangenen auseinandersetzen muß, statt die Frage zu vermeiden, und daß es dann eine weitere historische Entscheidung wie die von 1999 geben wird. Andererseits könnten die Richter eine derartige Behandlung von Gefangenen auch für rechtmäßig erklären. So eine Entscheidung wäre international hochbrisant. Unter dem nachhaltigen Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Arlington wurde der Umgang des israelischen Sicherheitsapparats mit den Palästinensern zu einer Art Schablone für die Behandlung sogenannter islamischer "Terroristen" durch die USA. Seit George W. Bush den "Globalen Krieg gegen den Terrorismus" erklärt hat, gibt es eine Kampagne amerikanischer und anderer Juristen zur Neuformulierung des nationalen und des internationalen Rechts, um der angeblich neuen Herausforderung des "Terrorismus" zu begegnen. Unglücklicherweise stehen an der Spitze dieser Bewegung konservative Rechtsgelehrte aus Israel.

SB: Yossi Wolfson, wir bedanken uns für das Interview.

Yossi Wolfson beim Vortrag - © 2010 by Schattenblick

Drangsalierung der Palästinenser hat viele Gesichter
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30. Oktober 2010