Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REPORT

INTERVIEW/069: Toros Sarian zum Genozid an den Armeniern (SB)


Interview am 8. Januar 2011 in der Louise-Schröder-Schule Hamburg-Altona


Der armenischstämmige Aktivist und Historiker Toros Sarian scheiterte zwar bei dem Versuch, sich als Kandidat der Partei Die Linke für die Hamburger Bürgerschaftswahl am 20. Februar 2011 aufstellen zu lassen. Die Chance darauf, sich gegen den Bürgerschaftsabgordneten Mehmet Yildiz durchzusetzen, war von vornherein gering gewesen. Dafür jedoch scheint die Gegenkandidatur Sarians ausschlaggebend dafür gewesen zu sein, daß Yildiz in seiner Bewerbungsrede am 9. Januar 2011 den Völkermord an den Armeniern ohne Abstriche anerkannte [1]. Am Vortag erläuterte Sarian dem Schattenblick die vielfältigen politischen Implikationen, die für die immer noch nicht in allen Staaten vollzogene Anerkennung dieses Genozids bedeutsam sind.

Schattenblick: Herr Sarian, obwohl Sie kein Mitglied der Partei die Linke sind, bewerben Sie sich um eine Kandidatur für die Bürgerschaft. Was hat Sie dazu veranlaßt, als Nichtmitglied politisch in der Linken aktiv zu werden?

Toros Sarian: Ich habe türkisch-kurdische Freunde in der Partei. Wir haben zusammen seit 2007 eine sehr gute Arbeit zum Thema Armenien geleistet. Das ist ein Tabuthema für türkischstämmige Migranten hier, was übrigens auch für Linke gilt. Bereits zwei Tage nach der Ermordung von Hrant Dink haben wir gemeinsam die bundesweit erste Demonstration organisiert, an der auch sehr viele türkischstämmige Leute teilgenommen haben. Dabei sind wir uns näher gekommen. Danach haben wir gemeinsam jedes Jahr im April zum Gedenken an den Völkermord Veranstaltungen ausgerichtet.

Ich bin seit jeher ein Linker. Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie, die 1970 nach Deutschland gekommen ist. Armenier werden in der Türkei unterdrückt, diskriminiert und verfolgt. Meine Eltern kommen aus einem Dorf in Ostanatolien. Sie hatten das alles durchgemacht. Meine Großeltern sind Überlebende des Völkermordes. Das Leben in der Türkei ist einfach unerträglich. Es ist in der Regel so, daß die Menschen vom Dorf in die Großstadt ziehen, nach Istanbul zum Beispiel. Weil mein Vater jedoch als christlicher Armenier während seines Wehrdienstes mißhandelt wurde, was beileibe kein Einzelfall ist, entschied er sich dazu, das Land zu verlassen. Zu jener Zeit kamen viele Menschen aus der Türkei als Arbeitskräfte nach Deutschland. Mein Vater war einer von ihnen. Das war praktisch Migration im klassischen Sinne der Auswanderung einer verfolgten Minderheit. Es war also nicht seine Absicht, für ein paar Jahre im Ausland zu arbeiten und dann wieder zurückzukehren.

SB: Wurde seine Situation hier als Asylgrund anerkannt?

TS: Nein, meine Eltern sind nicht als Asylbewerber gekommen, sondern wurden als Arbeitskräfte bzw. als Arbeitsmigranten angeworben. Damals war das noch möglich.

SB: Aber wäre es als Asylgrund anerkannt worden?

TS: Damals gab es noch keine Asylbewerber aus der Türkei. Es bestand auch keine Notwendigkeit dazu. Die Situation änderte sich jedoch nach dem Militärputsch 1980. Da sind sehr viele Armenier hierhergekommen und haben Asyl beantragt. Als Asylgrund haben sie ihre armenische Identität und Verfolgung angegeben. Die wenigen, die noch in Ostanatolien lebten, hatten mit der Anerkennung ihres Asylantrags große Schwierigkeiten. Es war nicht so, daß man gesagt hat "Oh ja, sie sind Armenier, sie werden verfolgt, wir kennen das." Ganz im Gegenteil. Ich kenne armenische Familien, die zehn Jahre im Asylantenheim verbracht haben. Das ist bei den syrisch-orthodoxen Aramäern aus der Türkei nicht anders. Da wird überhaupt kein Unterschied gemacht, ob das Christen sind oder nicht. Die sind von der restriktiven Asylpolitik genauso betroffen.

SB: Gibt es in Deutschland nicht eine Tradition der Anerkennung des Genozids an den Armeniern zum Beispiel aufgrund der Arbeiten von Johannes Lepsius? Bekanntermaßen waren deutsche Generäle während des Ersten Weltkrieges zumindest mittelbar an diesen Ereignissen beteiligt.

TS: Erst 2005 wurde im Bundestag eine Debatte darüber geführt. Es wurde auch eine Resolution mit den Stimmen aller Parteien verabschiedet. Aber davor hat es in Deutschland nie eine Debatte über den armenischen Genozid gegeben. Johannes Lepsius hatte sein Werk kurz nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht. Inzwischen wissen wir allerdings, daß viele Stellen in den Akten aus dem deutschen Archiv entweder rausgelassen oder manipuliert worden sind, um die deutsche Mitschuld zu verschleiern. 1916 hatte Karl Liebknecht das Thema, gestützt auf die Informationen von Johannes Lepsius, im Reichstag auf die Tagesordnung gebracht. Das war seinerzeit eine Sensation. Aber er wurde niedergeschrien, als er dazu immer weitere Fragen stellte. Die Politik der Reichsregierung bestand damals darin, die Verbreitung der Informationen über den Genozid zu verhindern. So sind in der deutschen Presse nur protürkische Artikel erschienen, in denen die Armenier als aufständische Rebellen dargestellt wurden.

Auch nach dem Ersten Weltkrieg hat es nie eine wirkliche Aufarbeitung zu diesem Thema gegeben. Angefangen hat die Debatte im Ausland, als immer mehr Staaten das Thema aufgriffen. Frankreich hat den Völkermord 2001 anerkannt. Im gleichen Jahr gab es auch in Deutschland eine Initiative, um den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, die aber scheiterte. Die Begründung, mit der alle Parteien, bis auf die damalige PDS, die Anerkennung des Völkermords ablehnten, war wirklich skandalös und wurde in der Öffentlichkeit nie thematisiert. Anfang 2005 wurde der Antrag, interessanterweise durch die CDU, die damals noch Oppositionspartei war, erneut im Bundestag eingebracht. Seitens der Türkei wurde massiver Druck auf die Schröder-Fischer-Regierung ausgeübt, um eine interfraktionelle Beschlußfassung zu verhindern. Schließlich verabschiedete der Bundestag im Juni eine Fassung, die im Vergleich zu anderen Beschlüssen ebenfalls skandalös war.

So hat die Nationalversammlung in Paris einen kurzen und prägnanten Satz formuliert: Wir erkennen den Völkermord an. Der Bundestag hingegen hat einen, ich glaube, fünf Seiten umfassenden Beschluß verabschiedet. Darin wurde sehr viel drumherum geredet. Zwar wurde die besondere Rolle von Johannes Lepsius herausgestellt, aber letztendlich hat man es vermieden, das Thema auf den Punkt zu bringen durch die Formulierung: Ja, es war Völkermord. Diese Bezeichnung fehlt völlig. Das macht aber den entscheidenden Punkt aus, denn Völkermord ist etwas, das im Völkerrecht definiert ist. Es gibt die Völkermordkonvention, die von dem polnisch-jüdischen Rechtswissenschaftler Raphael Lemkin erarbeitet wurde. Das ist eine juristische Norm. Deswegen muß man das auch so nennen. Wenn es Mord ist, sagt man Mord, wenn es Völkermord ist, ist es als Völkermord definiert. Man kann nicht ausweichend über Massaker, Verfolgung, Säuberung und ähnliches reden, aber den entscheidenden Punkt dann ausklammern.

Das war der Kompromiß, den man wahrscheinlich mit der türkischen Regierung ausgehandelt hatte. Zwar wurde noch die Versöhnungsfrage aufgeworfen, aber man merkte an der Reaktion der Türkei, daß sie damit im Grunde einverstanden war. Bei der Anerkennung des Genozids durch die Parlamente Frankreichs und anderer Staaten, die den Völkermord auch als solchen bezeichneten, erfolgte die Reaktion der Türkei prompt und unmißverständlich: Wir boykottieren französische Waren, wir stornieren Rüstungsaufträge oder kündigen die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf. Wenn Deutschland den Völkermord angeblich anerkannt hat, wo bleibt dann die Reaktion seitens der Türkei? Fakt ist, es war keine Völkermordanerkennung, sondern ein fauler Kompromiß. Die Türkei hat Zufriedenheit signalisiert, auch wenn Erdogan Schröder später vorgeworfen hat, kein Rückgrat gezeigt zu haben, da er selbst diesen Kompromißbeschluß nicht verhindern konnte. Aber das war wohl innenpolitisch motiviert, um sich aufzuspielen.

SB: Könnte es nicht sein, daß die CDU den Antrag lediglich gestellt hat, um die Türkei in die Defensive zu bringen, da die Christdemokraten bekanntlich gegen den EU-Beitritt der Türkei sind?

TS: Ja, der Zeitpunkt der Antragstellung war kein Zufall. Ende 2005 stand die Frage nach der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf der Tagesordnung. Die CDU hat den Antrag sicherlich aus politischem Kalkül eingebracht, denn davor hat sie sich immer dagegen ausgesprochen. Als Oppositionspartei hat sie nach Gründen gegen den EU- Beitritt der Türkei gesucht. Das muß man so sehen. Da habe ich keine Zweifel, daß das eine Art Instrumentalisierung der Frage des Völkermordes war.

SB: Sie erwähnten vorhin, daß viele der in Deutschland lebenden Türken oder türkischstämmigen Deutschen an der Demonstration im letzten Jahr teilgenommen hatten. Gibt es da eine wachsende Zustimmung für eine Anerkennung des Genozids durch die Türkei?

TS: Als linker Armenier stehe ich schon seit Mitte der 1980er Jahre in Kontakt mit türkischen und kurdischen Genossinnen und Genossen und kenne daher die Schwierigkeiten bei der Anerkennung der Frage nach dem armenischen Völkermord. Tatsache ist, daß es in diesem Zeitraum auch sehr viele Fortschritte gegeben hat. Es hat ein Umdenken innerhalb der türkisch-kurdischen Linken stattgefunden. Es gibt aber leider immer noch viele, die vom Genozid nichts wissen wollen. Man darf eine solche Wende nicht überbewerten. Wenn unter den insgesamt 700 oder 800 Leuten an der Demonstration fünfhundert Türkischstämmige waren, dann war das für eine so kurzfristig anberaumte Demonstration schon recht ordentlich. Zu anderen Anlässen kamen überhaupt keine. Es gibt einen sichtbaren Prozeß. Da muß ich auch die türkischen Genossen hier in der Linkspartei loben, die sich wirklich bemühen. Tatsache ist aber auch, daß es nur sehr langsam voran geht. Es gibt einen enormen Widerstand. Man darf dabei nicht vergessen, daß nationalistisch orientierte Linke - die für mich persönlich keine Linken sind, aber der Einfachheit halber will ich sie einmal als Linke bezeichnen -, eine starke Opposition bilden. Es gibt auch seitens der türkischen Regierung eine Bestrebung, die Leute davon abzuhalten, in dieser Sache eine klare Position einzunehmen, nämlich daß es Völkermord war. Ich denke, man kann noch viel erreichen. Dogan Akhanli, der Ende letzten Jahres verhaftet wurde, ist ein Freund von mir und hat sich in dieser Sache sehr eingesetzt. Er ist einer der wichtigsten türkischstämmigen Schriftsteller überhaupt. Es gibt auch mehrere kurdische Intellektuelle hier im Exil, die sich bemühen, aber es muß auf jeden Fall noch mehr getan werden.

SB: Der heutige israelische Präsident Shimon Peres hat sich in der Frage des Armenier-Genozids 2001 bei einem Besuch in der Türkei explizit gegen eine Anerkennung als Völkermord gewendet, obwohl israelische Wissenschaftler auf einer Holocaust-Konferenz in Philadelphia eine Deklaration unterzeichneten, die die Faktizität des armenischen Völkermords unterstrich. Was sagen Sie dazu, daß hier eine Art Alleinvertretungsanspruch erhoben wird?

TS: Die Position Israels als Staat wird im wesentlichen durch die Beziehungen zur Türkei beeinflußt. Ich denke, alle israelischen Politiker, auch in der Regierung, wissen ganz genau, daß es ein Völkermord war. Da habe ich gar keinen Zweifel, aber andererseits gibt es diese Rücksichtnahme auf die Beziehungen zur Türkei als dem wichtigsten regionalen Verbündeten. Natürlich ist es traurig, wenn gerade israelische Politiker sich nicht trauen, offen dazu zu stehen, daß es sich um einen Völkermord gehandelt hat. Ich glaube, es ist weniger dieser Anspruch, daß nur sie Opfer eines Völkermords waren, die anderen aber nicht. Es gab früher eine solche Tendenz, aber dank des Einsatzes vieler jüdischer Wissenschaftler in und außerhalb von Israel, die klipp und klar von einem Völkermord gesprochen haben, hat sich das geändert.

Als ich 2005 zum 90sten Jahrestag an der Genozidkonferenz in Jerewan teilnahm, waren auch zwei hochrangige israelische Wissenschaftler anwesend, Israel Charny, den Namen des anderen habe ich vergessen. Auch in den USA haben US-jüdische Wissenschaftler wiederholt in Appellen an die türkische Regierung die Anerkennung des Völkermordes verlangt. Ob es ein Holocaust war oder nicht, ist heute nicht das eigentliche Thema, sondern die Frage danach ist Teil der regionalen Politik in den Beziehungen zwischen Israel und der Türkei. Im Augenblick sind die türkisch-israelischen Beziehungen angespannt. Da kommt die Völkermordfrage an den Armeniern wieder auf die Tagesordnung, weil sich die Israelis sagen, wenn ihr behauptet, wir begehen Völkermord an den Palästinensern, dann erinnern wir euch an den Völkermord an den Armeniern. Es ist traurig, aber leider spielen solche Dinge in der Politik eine wichtige Rolle. Es ist natürlich ganz besonders traurig, wenn ein Volk, das selbst Opfer eines Völkermordes war, politisch sozusagen gezwungen ist, auch das zu berücksichtigen und nicht freiheraus sagen kann, ja, es war Völkermord an den Armeniern.

SB: Im US-Kongreß gab es in dieser Angelegenheit über einen längeren Zeitraum immer wieder Initiativen, die jedoch unter Rücksichtnahme auf die Türkei und auch unter Einfluß proisraelischer Kreise nicht zu einer positiven Anerkennung führten.

TS: Es gibt dieses Bündnis zwischen Israel und der Türkei, das gegen die Armenier ausgespielt wird, um die Annahme einer Resolution im Kongreß zu verhindern. Es ist tatsächlich auch so passiert, aber das ist nicht die Politik Israels, sondern die Türkei hat Druck ausgeübt und mit Konsequenzen in den zwischenstaatlichen Beziehungen gedroht. Die Israelis haben dann nachgegeben. Ich denke, daß es gar nicht so sehr an den amerikanischen und jüdischen Organisationen und deren Vertretern gelegen hat, der entscheidende Grund sind vielmehr die eigenen Interessen der USA. Beim Besuch Obamas in der Türkei hat er immer wieder unterstrichen, daß die USA den Völkermord nicht anerkennen, weil sie einen strategischen Partner nicht vergraulen wollen. Andererseits haben die USA ein Interesse daran, daß dieses Thema auf der Tagesordnung bleibt. Falls sie das jetzt anerkennen, werden sie bei Verhandlungen mit der türkischen Regierung eine Karte aus der Hand geben. Es ist doch auffällig, daß die Völkermordfrage immer dann aktualisiert wird, wenn es zwischen der Türkei und den USA zu Spannungen kommt. Dann heißt es, entweder gebt ihr nach oder unser Kongreß wird die Resolution verabschieden. Wieso sollte die USA diese Karte aus der Hand geben? Es wäre völlig unsinnig.

SB: Wie stehen die Armenier insgesamt zur Anerkennung? Gibt es eventuell Unterschiede zwischen den in der Türkei lebenden Armeniern, denen in der Diaspora oder in der ehemaligen Sowjetrepublik Armenien? Ist es eher ein ethisches Interesse oder gibt es auch materielle Beweggründe?

TS: Das ist sehr unterschiedlich. Die Haltung der Armenier in der Türkei unterscheidet sich sehr von denen in den USA oder Frankreich. Gleichzeitig ist auch die Position der Republik Armenien eine andere. Es gibt keine einheitliche Meinung. Es ist klar, daß die Armenier in der Türkei besonders vorsichtig sind. 2007 wurde Hrant Dink ermordet, der sich wirklich sehr für einen Dialog eingesetzt hatte und eine langsame, behutsame Debatte zu diesem Thema anregen wollte. Er hat auch sehr viel erreicht. Aber insgesamt halten sich die Armenier in der Türkei natürlich in der Völkermordfrage zurück, weil der Druck einfach zu groß ist. Kaum jemand traut sich überhaupt, auf offener Straße ein Kreuz zu tragen, geschweige denn über so ein brisantes Thema zu sprechen. Es gibt nur wenige mutige armenische Intellektuelle wie Hrant Dink. Auch wenn es inzwischen immer mehr werden, bleiben sie eine Minderheit. Die Republik Armenien ist ein Staat, der einer Blockade seitens der Türkei unterliegt. Aserbeidschan und auch andere Staaten versuchen unterdessen, gutnachbarschaftliche Beziehungen aufzunehmen, aber weil Armenien in der Region isoliert ist, muß die Politik behutsam sein. Am entschiedensten geht natürlich die armenische Diaspora vor, vor allem in den USA und auch in Frankreich. Es gibt aber keine Einigkeit, wie man in dieser Frage vorgehen sollte. Aktuell wird darüber diskutiert, ob man die Angelegenheit vor einen internationalen Gerichtshof bringt, um so eine klare Entscheidung herbeizuführen.

SB: Werden materielle Forderungen nach Wiedergutmachung erhoben?

TS: Es gibt bestimmte Kreise, die materielle Forderungen stellen, aber nicht in der Regierung Armeniens. Neulich hat ein Gericht in Kalifornien beschlossen, daß die Armenier ein Recht darauf haben, materielle Forderungen zu stellen, sofern in der Türkei noch Grundstücke, Immobilien und ähnliches vorhanden sind, die damals während des Völkermords geraubt wurden. Zumindest die Möglichkeit dazu besteht jetzt. Was am Ende dabei herauskommt, ist noch offen. Das sind im einzelnen private Klagen von armenischen Nachkommen vor allem in der Diaspora, die eine Entschädigung verlangen. Ein Erfolg ist wohl eher unwahrscheinlich. Die Regierung in Armenien erhebt jedenfalls keine derartigen Ansprüche. Sie hat auch keine territorialen Forderungen. Die einzige Forderung ist die Anerkennung des Völkermords und die Öffnung die Grenze, damit wieder ganz normale zwischenstaatliche Beziehungen aufgenommen werden können.

SB: Bezieht sich die Diskriminierung von Armeniern in der Türkei auf den Umstand, daß es sich dabei um Christen handelt, oder gibt es noch andere Gründe?

TS: Die Diskriminierung betrifft alle christlichen Minderheiten. Nur um einmal eine Zahl zu nennen: Bis zu dem Pogrom im September 1955 haben in Istanbul 250.000 Griechen gelebt. Es war also immer noch eine stark griechisch geprägte Stadt. Heute leben dort nur noch 2500. Auch die Zahl der Armenier geht ständig zurück. Es gibt einen gewissen Zuzug aus Armenien, aber tendenziell schrumpft die Zahl der einheimischen Armenier in der Türkei. In meiner Familie zum Beispiel wandern alle aus. Wenn man eine Möglichkeit dazu hat, wandert man aus.

SB: Wieviele Menschen in der Türkei würden Sie als Armenier bezeichnen?

TS: 60.000 bis 70.000. Aber es gibt auch sehr viele sogenannte versteckte Armenier. Das sind Armenier, die islamisiert worden sind. Über ihre Zahl wird viel spekuliert. Es fängt bei ein paar Hunderttausend an und reicht bis ein oder zwei Millionen. Das sind natürlich alles Spekulationen. Von denen, die sich als Armenier empfinden und der armenischen Kirche angehören, gibt es zwischen 60.000 und 70.000.

SB: Besteht die Gefahr, daß Ihr Engagement in irgendeiner Weise durch christliche Ambitionen im Rahmen dieses clash of civilisations ausgenutzt wird? Könnten Sie sich also vorstellen, daß sich rechte Christen oder rassistische Islamfeinde mit diesem Thema aufmunitionieren?

TS: Nein, nicht bei den Armeniern. Armenier und Muslime pflegten immer eine gute Beziehung in der Geschichte. So ist die Situation der Armenier in der Islamischen Republik Iran viel besser als in der säkular-laizistischen Republik Türkei. Auch in der arabischen Welt, ob nun im Libanon oder in Syrien, genießen die Armenier sehr hohes Ansehen. Es gab nie religiöse Probleme. Das Problem ist einfach eine Frage des Aufkommens des türkischen Nationalismus und der Schaffung eines türkischen Nationalstaates, in dem nur sunnitische Türken leben. Wir wurden Opfer einer rein nationalistisch motivierten Politik. Der Islam wurde instrumentalisiert, aber die herrschende Regierung war nicht religiös. Das waren rein nationalistische Leute, genauso wie diejenigen, die die Republik gegründet haben, also Kemal Atatürk.

SB: Meinen Sie die Jungtürken?

TS: Ja. Die Republik Türkei wurde von den Jungtürken gegründet. Sämtliche Kader der kemalistischen Bewegung sind Mitglieder der Partei der Jungtürken gewesen. Mustafa Kemal war auch Mitglied der jungtürkischen Partei. Deshalb wird bis heute auch diese Leugnungspolitik betrieben. Da hat es nie einen Bruch gegeben. Es kamen andere Kader, und selbst solche, die am Völkermord teilgenommen hatten oder dafür verantwortlich waren, Mörder praktisch, haben in der Republik Karriere gemacht. Daran erkennt man ganz deutlich diese Kontinuität. Man muß sich darüber klar werden, daß die heutige Republik auf der Grundlage der jungtürkischen Ideologie und des jungtürkischen Staates geschaffen worden ist. Es hat keine Änderung gegeben. Es ist dasselbe System. Das ist das ganze Problem in der Türkei.

SB: Wie bewerten Sie das Verhältnis der Regierung Erdogan, die ihrerseits Probleme mit der kemalistischen Tradition hat, zu dieser Frage?

TS: Ja, das ist das Interessante in der Türkei: die Regierungsübernahme einer islamischen Partei, was mit der kemalistischen Verfassung eigentlich unvereinbar ist. Wie kann eine säkular-laizistische Republik plötzlich von einer islamisch orientierten Partei regiert werden? Das ist die Auseinandersetzung in den vergangenen Jahren. Man darf dabei aber nicht aus den Augen verlieren, daß das Erstarken des Islam in der Türkei von den Militärs bzw. ihrer Politik legitimiert wurde. Das hat sich im gesamten Nahen Osten, ja in der gesamten islamischen Welt so vollzogen. Nirgendwo in der arabischen Welt hat es in den 50er, 60er oder 70er Jahren einen politischen Islam gegeben. In Algerien gab es eine nationale Bewegung, die Palästinenser waren linke Nationalisten, aber nicht islamisch, Ägypten war vom Nasserismus geprägt, die Baath-Partei herrschte in Syrien und im Irak, Iran war eine westlich orientierte Monarchie mit einem König und die Türkei war eine laizistische Republik.

Es gab so etwas wie einen islamischen Staat nicht. Niemand wäre überhaupt in den 50er, 60er Jahren auf die Idee gekommen. Irgendwann bildeten sich islamistische Organisationen, die an die Regierung kamen. Was in Ägypten jetzt passiert, oder daß die palästinensische Bewegung in die Hand der Hamas geriet. So etwas ist eigentlich unvorstellbar, wenn man sich das einmal vergegenwärtigt. Plötzlich ist der Islam überall durchmarschiert. Wie konnte das passieren? Man muß sich die Frage stellen, wer ein Interesse daran hatte, daß säkulare, national orientierte, teilweise oft auch fortschrittliche nationaldemokratische oder linke Regierungen von der Bildfläche verschwanden. Daß das alles beseitigt wurde, auch in der Türkei. In den 70ern gab es in den Dörfern gar keine Moscheen wie heute. Es ist ein Prozeß in Gang gesetzt worden, der sich ausgebreitet hat wie zum Beispiel in Indonesien, wo ebenfalls ein Völkermord stattgefunden hat. Da gab es einst die größte kommunistische Partei außerhalb Chinas. Nicht nur die wurde beseitigt, sondern damals wurden auch sehr viele Chinesen liquidiert. Kein Mensch spricht darüber. Weltweit wurde eine Politik gefördert, die darauf abzielte, jede Regierung, die nationalistisch, linksnationalistisch oder irgendwie fortschrittlich war, zu stürzen. Die Gefahr bestand natürlich darin, daß diese Regierungen und Staaten auch gute Beziehungen zur Sowjetunion unterhielten. Das ist mit dieser Islamisierungspolitik erreicht worden. Heute regiert in der Türkei die AKP. Weder in Afghanistan, Iran oder Indonesien gibt es noch linke, fortschrittlich demokratische oder selbst nationalistische Kräfte. Es ist alles weg.

SB: Was bedeutet das jetzt auch im Verhältnis zu Ihrem Anliegen? Ist die AKP-Regierung im Verhältnis zu den Kemalisten eher noch rigider oder zeigt sie sich aufgeschlossener gegenüber den Armeniern?

TS: Ja, sie ist sehr vorsichtig. Die AKP ist keine homogene Partei, sondern wird von verschiedenen Strömungen geprägt. Da ist zum Beispiel ein Politiker wie der Verteidigungsminister Vecdi Gönül, der auf einer Konferenz in Brüssel gesagt hat: Ja, wenn wir die Griechen und Armenier und andere nicht beseitigt hätten, wie hätten wir dann die Republik gründen können? Das hat er ganz offen gesagt! Es gibt innerhalb der AKP liberalere Strömungen, aber auch stark nationalistisch orientierte Gruppierungen. Man spricht in der Türkei nach dem Militärputsch 1980 von einer türkisch-islamischen Synthese. Da wurde beides vermischt. Die AKP ist wohl eher ein Produkt dieser Entwicklung.

Die Armenier bewerten das unterschiedlich. Manche begrüßen es, weil sie sagen, das ist besser als eine harte nationalistische Regierung. Wir haben mehr Freiheiten bekommen, auch wenn diese begrenzt sind. Andere sagen, es ist genauso schlimm. Das wird ganz unterschiedlich aufgefaßt. Aber insgesamt wird die AKP-Regierung innerhalb der armenischen Gemeinschaft eher positiv bewertet, weil sie vorher unter den Laizisten und Säkularisten vieles erlitten haben. Die AKP hat zumindest Zugeständnisse gemacht wie die Sanierung der Kirche auf der Insel Akdamar und auch anderes. Alles in allem gibt es aber keinen grundsätzlichen Wandel. Es ist eher so, daß die Regierung sagt, lassen wir ein paar Armenier für die Touristen übrig. Wenn wir sie jetzt ganz beseitigen, empört man sich und fragt, was habt ihr mit den Armeniern gemacht? Aber wenn noch ein paar da leben, hier ein paar syrisch-orthodoxe Christen und da ein paar Armenier, ist Istanbul die multikulturelle Hauptstadt Europas. Was ist daran multikulturell, wenn unter den 10 Millionen Einwohnern 2500 Griechen sind? Man darf auch nicht vergessen, daß in Istanbul früher viele jüdische Bürger gelebt haben. Die sind zum überwiegenden Teil auch weg. Es ist doch verrückt, da leben nur ein paar Minderheiten in Istanbul und dennoch wird der Anschein erweckt, die Stadt sei multikulturell. Das stimmt nicht.

SB: Falls Ihnen die Kandidatur in die Bürgerschaft gelingen sollte, was haben Sie, abgesehen von Ihrem persönlichen Kernthema, für politische Absichten?

TS: Das ist ein wichtiger persönlicher Punkt für meine Kandidatur, weil ich ein Überlebender bin. Das will ich nicht leugnen. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand keine Position bezieht oder sich einfach davor drückt, den Völkermord anzuerkennen. Ich habe den Abgeordneten Mehmet Yildiz vor drei Jahren, als er für die Bürgerschaft kandidiert hat, die Frage gestellt, wie er zum Völkermord an den Armeniern steht. Er hat bis gestern nicht geantwortet. Ich hatte mir schon gedacht, daß er mit einer Antwort bis zum Tag vor dem Parteitag warten würde. Das hat mich unter anderem dazu gebracht, ausdrücklich gegen ihn zu kandidieren. Der politische Druck auf ihn wurde so groß, daß er eine Stellungnahme abgeben mußte. Es hat sich nämlich überall herumgesprochen, daß ein Armenier gegen ihn kandidieren wird. Er konnte nicht mehr schweigen.

Mir war klar, wie die Antwort auf meine Frage inhaltlich ausfallen würde. Es ist genau so gekommen, wie ich es erwartet habe. Er hätte nur einen kurzen Satz schreiben müssen, nämlich daß es Völkermord war, aber nein, er redet drumherum. Das Wort Völkermord hat er nicht benutzt, statt dessen eine Seite lang über Geschichte, über das, was Deutschland oder der westliche Imperialismus getan haben, geschrieben. Das hatte ich aber nicht gefragt. Ich wollte von ihm wissen, ob er das als Völkermord wertet. Es gibt nur eine Antwort: Ja oder Nein. Zum Holocaust kann man auch nur ja oder nein sagen. Wenn jemand aber ausweicht, will er eigentlich Nein sagen, traut sich aber nicht. Das ist der Punkt.

Als ich vor Wochen gehört habe, daß Mehmet Yildiz kandidieren wird, habe ich mich daran erinnert, daß ich ihm damals eine Frage gestellt habe. Ich bin also ins Internet gegangen und habe nachgeschaut. Er hatte nicht geantwortet. Dann habe ich die Frage wiederholt, aber die Antwort blieb weiterhin aus. Das war nicht mein ganzer Beweggrund mich zu bewerben, aber ein wichtiger Teil davon. Ich habe auch gesehen, daß in der Migranten- und Flüchtlingsfrage in den vergangenen drei Jahren nichts unternommen wurde. Das ist nicht einfach dahergeredet. Man braucht sich nur die Bilanz der Linksfraktion anzuschauen. Die steht im Internet und liegt auch gedruckt vor. Wenn eine Partei sagt, daß die Migranten- und Flüchtlingsfrage ein Top-Thema ist, aber in der Bilanz taucht nicht einmal ein kurzer Satz dazu auf, dann frage ich mich: Was habt ihr denn drei Jahre lang gemacht und was hat Mehmet Yildiz getan, der in diesen drei Jahren für den Bereich Migranten und Flüchtlinge zuständig war? Wenn irgend etwas geleistet worden wäre, dann müßte es in der Bilanz auftauchen. Wenn es nicht auftaucht, dann ist nichts Nennenswertes geschehen. Es reicht nicht aus, Flüchtlingsunterkünfte zu besuchen und ein paar Anträge zu stellen. Das ist ein Minimalprogramm, das jeder Abgeordnete absolviert, aber anscheinend wurde selbst das nicht gemacht, sonst wäre es in der Bilanz erwähnt worden.

Wenn Mehmet Yildiz morgen gewählt werden sollte, denn er gilt ja als Favorit, wäre das wirklich enttäuschend, weil die Linke dann beide Augen zudrückt und sich auf den Standpunkt stellt: Ja, ist doch egal, ob er jetzt Völkermord sagt oder nicht. Wieso ist das egal? Wo ist die Sensibilität für solche Fragen? Damit würde sie wirklich ihre Glaubwürdigkeit verspielen. Das war auch der Grund, warum ich nicht in die Linkspartei eingetreten bin. Ich stand einmal Mitte der 80er Jahre auf der Alternativen Liste, die sich nach dem Zusammenschluß mit den Grünen in GAL umbenannte. Schon damals hat mich das dermaßen angewidert, daß ich mich wieder zurückgezogen habe. Eine solche Politik mache ich nicht mit. Deshalb bin ich auch nie in eine Partei eingetreten. 2005 habe ich mir überlegt, ob ich vor den Bundestagswahlen in die Linke eintrete, aber dann kam die Kandidatur von Hakki Keskin. Damals war ich gerade im Ausland. Ich war schockiert und konnte es nicht fassen, daß ausgerechnet ein türkischer Nationalist, von dem bekannt war, daß er den Völkermord an den Armeniern leugnet, nominiert wurde. Freilich nicht in Hamburg, weil ihn hier niemand haben wollte. Vielmehr hatte ihn die Parteiführung für einen Berliner Bezirk aufgestellt, was seine Wahl sicherstellte. Auch die Berliner Genossinnen und Genossen wollten das nicht, aber er wurde praktisch durchgeboxt und gegen den Widerstand in der Partei, auch seitens türkisch-kurdischer Genossinnen und Genossen, in den Bundestag gebracht. Das war schlimm und ekelhaft. Ich kann als Enkel von Überlebenden nicht in einer Partei Mitglied werden, die einem bekannten Völkermordleugner ein Bundestagsmandat verschafft. Kein jüdischer Deutscher würde in eine Partei gehen, in der ein Abgeordneter die Shoah leugnet. Das ist undenkbar.

SB: Herr Sarian, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnote:

[1] http://massispost.com/?p=1455

4. Februar 2011